I.-S. Kowalczuk: Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist

Cover
Titel
Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist


Autor(en)
Kowalczuk, Ilko-Sascha
Erschienen
München 2023: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
1.006 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Lindenberger, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der Technischen Universität Dresden

Mit dem Kommunismus des 20. Jahrhunderts abzurechnen, ist mittlerweile vergleichsweise einfach. Eine mit Terror gewappnete Ideologie, die geschichtliche Heilserwartung und streng wissenschaftliche Weltanschauung zu vereinen beanspruchte, um ein ganz neues Herrschaftssystem zur Befreiung aller Menschen aufzurichten, scheiterte an Hybris und Realitätsblindheit und endete nach Massenverbrechen und imperialistischen Abenteuern im moralischen und praktischen Bankrott. Mehrere Generationen von Zeitgenossen, Gegnerinnen und ehemaligen Parteigängern, nüchternen Beobachterinnen und Überlebenden kommunistischer Politik haben deren Aporien, Abgründe und Banalitäten hinlänglich seziert. Eigentlich gibt es zu diesem, dem von Moskau aus in die Welt getragenen Kommunismus, nicht mehr viel zu sagen; der Kommunismus des digitalen Zeitalters in China ist eine andere Geschichte.

Schwieriger ist es hingegen, mit einzelnen Kommunisten abzurechnen. Typischerweise stellt sich dabei das Problem des Gegensatzes von Gewöhnlichkeit im Persönlichen und Exzess im Politischen. Kommunisten sind doch lediglich, und so sehen sie sich auch selbst, Produkt und Verkörperung einer Ideologie, die ihr Denken, Handeln und Wollen determiniert. Was soll da noch für eine historisch-biographische, individualisierende Betrachtungsweise übrigbleiben? Entweder der Kommunist funktioniert wie ein Rädchen im Getriebe des großen ideologischen Ganzen – dann reicht es, sich weiterhin nur mit der Ideologie und den Herrschaftsapparaten zu befassen. Oder die Kommunistin geht im Gemenge mit dem wirklichen Leben jede Menge Kompromisse ein, ist zugleich auch Nationalistin, Familienmensch, Frauenrechtlerin, vielleicht kommt sie gar vom Pfad der reinen Lehre ab, wird „Abweichlerin“, am Ende gar dem Kommunismus „feindliches Element“, Renegatin. Solche interessanten Exemplare werden dann häufig ihrerseits Opfer des Kommunismus, mit denen nicht, oder jedenfalls nicht nur, abzurechnen ist – sie stehen dann für das, was der Kommunismus nicht war, und bezeugen so ein weiteres Mal sein Scheitern, sein historisches Ungenügen.

Ilko-Sascha Kowalczuk zeigt in seiner monumentalen Biographie über Walter Ulbricht, wie man mit einem erfolgreichen deutschen Kommunisten abrechnet – historisch-wissenschaftlich und politisch-engagiert. Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist, ihn als Persönlichkeit ernst zu nehmen, als das, was ihn ausmachte: als einen kommunistischen Revolutionär in Deutschland. „Ernstnehmen“ bedeutet zunächst einmal, die Überlieferungen zu Ulbricht rigoros in Frage zu stellen, sowohl die hagiographischen und teilweise von ihm selbst fingierten, wie auch die gegnerischen, die vor allem zu Zeiten des kalten Bürger-Kriegs in Deutschland verunglimpfend-phantastische Züge annahmen. Kowalczuk schreibt dem Individuum Walter Ulbricht nur jene Eigenschaften zu, die sich aus überlieferten Beschreibungen seiner Person und seiner Handlungen erschließen lassen, mehr nicht. Der gerade in frühen westdeutschen Darstellungen beliebten Kombination von Perhorreszieren – Ulbricht, das gefühllose Funktionärsmonster – und Ridikülisieren – Ulbricht, die sächselnde Sowjetmarionette – gibt Kowalczuk keinen Raum. Er folgt seinem Protagonisten über alle Lebensstationen und in alle Lebensbereiche und rekonstruiert dabei auch Aspekte seiner Persönlichkeit, die zu diesen Urteilen und späterer Dämonisierung Anlass gegeben haben mögen, bleibt aber zugleich nüchtern und verzichtet auf alles Karikieren.

Ganz klar: Ulbricht überragte – und dies schon in jungen Jahren – seine Genossen, wenn es um das Organisieren und um das Instruieren, Bevormunden und oftmals Manipulieren von Genossen und Genossinnen ging. Dazu gehörte vor allem Selbstkontrolle und ein Einsatz persönlicher Ressourcen, was unbedingte Hingabe und Ökonomie zugleich erforderte – daher die asketische und auf Gesundheit ausgerichtete Lebensweise. Dazu gehörte aber auch ein Privatleben, das trotz der schwierigen Existenz im Untergrund und zwischen den europäischen Zentren der kommunistischen Weltbewegung an den Idealen einer monogamen Kameradschaftsehe ausgerichtet war. Zugleich war Ulbricht ein zwar etwas phantasieloser, aber umso fleißigerer Dogmatiker und Publizist: Schon in frühen Jahren hatte er sich einen umfangreichen Schatz an klassisch-bürgerlichen Wissensbeständen und marxistisch-leninistischen Glaubenssätzen erarbeitet, die ihn dazu befähigten, die reine Lehre und die jeweilige Parteilinie mit der nötigen Festigkeit und Flexibilität autoritativ zu vertreten. Konstitutiv dafür war die Verarbeitung des Scheiterns der Räterevolution nach Vorbild der Bolschewiki in Deutschland in den Jahren 1918 bis 1923; um diese Niederlage des ersten Anlaufs zu einer „Diktatur des Proletariats“ kreiste Ulbrichts Selbstverständnis als homo politicus bis zum Ende seines Lebens.

Zugleich tut Kowalczuk gut daran, die sich in den zahlreichen Schilderungen von Zeitgenossen abzeichnenden außerordentlichen Fähigkeiten Ulbrichts nicht überzubewerten, wenn es darum geht nachzuvollziehen, warum ausgerechnet er am Ende dieses ersten Teils der zweibändigen Biographie eindeutig als der faktische Führer der deutschen Kommunisten dasteht, der über sich nur noch sowjetische Weisungsgeber hat. Es gehörte zur mörderischen Logik kommunistischer Organisationen Mitte des 20. Jahrhunderts, dass der Aufstieg in Führungspositionen sich mindestens ebenso sehr dem mehr oder weniger zufälligen Ausscheiden der Konkurrenten verdankte. Die einen hatten die Nazis schon früh ins KZ gesteckt, andere fielen der innersowjetischen Repressionswelle um 1937 zum Opfer, wiederum andere konnten gesundheitlich nicht mithalten – der Ulbricht, der im Mai 1945 die legendäre, nach ihm benannte Gruppe kommunistischer Kader im zerstörten Berlin anführte, war auch ein Übriggebliebener.

Kowalczuk legt seine Darstellung ganz konventionell chronologisch an: Auf Kindheit, Jugend und Tischler-Lehre folgen eine kurze Phase des nebenberuflichen Engagements in der Sozialdemokratie des Kaiserreichs und der Kriegsdienst in einer „Magazin-Fuhrpark-Kolonne“ auf dem Balkan. Ab der Novemberrevolution 1918 ist Ulbricht fest mit der bolschewistischen Rätebewegung verbunden. Er steigt erst in Mitteldeutschland und dann im Deutschen Reich rasch zum hauptamtlichen, teils im Untergrund lebenden Kader auf. Auch die weiteren Kapitel folgen den Etappen und Zäsuren der deutschen Politikgeschichte bis zur bedingungslosen Kapitulation und dem Beginn der sowjetischen Besatzungsherrschaft in Deutschland.

Ein eminenter Vorzug dieser durchaus auf die „großen Zusammenhänge“ zielenden Biographie liegt darin, dass Kowalczuk konsequent den „kleinen“ Dingen und Begebenheiten, die sich abseits der damaligen oder späteren Weltgeschichte in Bezug auf Ulbricht und seine unmittelbare Umgebung rekonstruieren lassen, grundsätzlich die gleiche Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt wie den weltgeschichtlichen Rahmenbedingungen. Das gilt für die Frühzeit – vor der Tätigkeit als Berufsrevolutionär – ebenso wie für den späteren Alltag eines im Untergrund lebenden Ehepartners, Familienvaters und Parteiangestellten. Kowalczuk hat keine Mühe gescheut, aus dem Splittermaterial, das sich in Melderegistern, Zeugnissen von Zeitgenossen, Polizei- und Organisationsberichten finden lässt, möglichst viele Einzelheiten zusammenzutragen, die das Bild eines in ärmlichen, aber geordneten Verhältnissen aufwachsenden Arbeitersohns ergeben. Der frühe Anschluss an die Sozialdemokratie ermöglicht ihm Zugang zu einer umfassenden berufsbegleitenden Bildung. Er liest viel und vor allem über Geschichte. Dem Autor gelingt hier eine ausgezeichnete Studie über die enorme Wirkmächtigkeit der proletarischen Autodidaktenkultur des Kaiserreichs.

Der Vorzug der Gleichbehandlung des höchst Individuellen und des Historisch-Kontextuellen hat vor allem in der ersten Hälfte des Bandes, also bevor der zum Spitzenfunktionär aufgestiegene Ulbricht an Beratungen und Entscheidungen der Komintern und damit des Moskauer Machtzentrums mitwirkt und selbst auf höchster Ebene am Weltgeschehen beteiligt ist, allerdings auch eine Kehrseite. Sie ist möglicherweise dem Anspruch geschuldet, dass dieses Buch als wissenschaftlich fundiertes Angebot für das „breite“ Lesepublikum gedacht ist. Immer wieder wird die Darstellung von Ulbrichts Weg und Handeln durch teilweise mehrseitige Unterabschnitte unterbrochen, in denen er überhaupt nicht figuriert und die wohl als erforderliche Kontextinformationen gedacht sind. Leider verbindet Kowalczuk diese Exkurse aber immer wieder mit Betrachtungen philosophischer und kulturkritischer Art, etwa zu Weber, Hegel und Poppers Gesellschaftstheorie, zur ambivalenten Bilanz des Historikerstreits um Ernst Nolte oder zu Thomas Manns Kulturkritik am Ende der Weimarer Republik – alles Dinge, die man so oder ähnlich schon woanders gelesen hat. Natürlich hängt bekanntlich alles mit allem und daher auch irgendwie mit Ulbricht zusammen, übergangslos eingefügt wirken diese Abschweifungen jedoch als störende Fremdkörper.

Ungefähr ab dem Ende der Weimarer Republik und dem Beginn von Ulbrichts Exil verflüchtigen sich diese verzichtbaren Passagen zunehmend. Sie geben, gestützt auf die umfangreichen Überlieferungen von Protokollen und Sitzungsmaterialien der KPD- und Komintern-Spitzengremien, einer packenden Erzählung der endlosen, mit gnadenloser wechselseitiger Verachtung ausgetragenen Kontroversen und Intrigen innerhalb des obersten Führungszirkels der deutschen Kommunisten Raum, und zwar sehr viel Raum. Zwar teilte Ulbricht im Großen und Ganzen die Obsessionen und ideologischen Wahnvorstellungen seiner Kontrahenten, dennoch vermittelt dieses Kollektiv-Psychogramm den Eindruck, dass er – zusammen mit Wilhelm Pieck und Franz Dahlem – als ein Einäugiger unter Blinden überlebte, während die anderen, überwiegend der „ultralinken“ Gruppe um Thälmann entstammend, schließlich den Säuberungen Ende der 1930er-Jahre zum Opfer fielen.

Auch der letzte inhaltliche Schwerpunkt dieses Bandes, der Ulbrichts Agitationsarbeit an der sowjetisch-deutschen Front und mit deutschen Kriegsgefangenen nach 1941 gewidmet ist, zeigt ihn als verbohrten Ideologen, der sich dennoch unermüdlich widrigen Tatsachen stellt, in diesem Fall der kaum zu erschütternden Treue der deutschen Soldaten zu Reich und Führer – eine Erfahrung, die sein Misstrauen gegenüber der deutschen Arbeiterschaft (sic!) und ihren politischen Dispositionen nachhaltig prägen sollte.

Im politisch-historischen Urteil schont Kowalczuk Ulbricht nicht – vor allem, wenn es um die Mitverantwortung für das Scheitern der Weimarer Republik geht: Unbeirrbar hielt dieser an der Vorstellung fest, dass die Sozialdemokratie „sozialfaschistisch“ und daher der eigentliche, den Nazis nachgeordnete Feind im Kampf gegen den Faschismus sei. Zugleich verzichtet Kowalczuk konsequent auf jegliche „rettende“ Würdigungen jener Kommunisten, denen im Nachhinein auf Grund ihrer Kehrtwendung oftmals mehr Nachsicht zu Teil wurde als ihnen zustand, etwa Münzenberg und Wehner. Diese standen Ulbricht in nichts nach, wenn es darum ging, diese Parteilinie durchzusetzen. Es ist diese in der Novemberrevolution entstandene Frontstellung, an der Ulbricht unbeirrt festhielt, und die die deutschen Kommunisten als schwere Hypothek in die Zeit nach der Zerschlagung der Nazi-Diktatur mitnahmen.

Was den wissenschaftlichen Anspruch angeht, ist eine Kritik unumgänglich. Kowalczuk verzichtet im Text wie in den Fußnoten weitgehend auf langweilende Forschungsstand-Referate, bezieht aber gelegentlich Stellung zu strittigen Deutungen einzelner, in Fachwissenschaft und Publizistik diskutierter Aspekte. Soweit so gut. Unverzichtbar aber ist auch gegenüber einem Lesepublikum, dem vorgeblich ja nur End- und keine Fußnoten zuzumuten sind, eine Diskussion der archivalischen Quellen. Das Buch enthält kein Quellen- und Literatur-, lediglich ein Abkürzungsverzeichnis. Der Verlag stellt für diesen und den nachfolgenden Band online ein Literaturverzeichnis zum Download zur Verfügung. Zu einer geschichtswissenschaftlichen Darstellung gehört aber auch ein gegliedertes und üblicherweise in der Einleitung kommentiertes Quellenverzeichnis, nicht lediglich eine kurze editorische Notiz, wie sie am Ende des zweiten Bandes zu finden ist. Interessant und für eine quellenkritische Lektüre notwendig wäre etwa zu wissen, welche Dokumente aus dem Komintern- und KPD-Zusammenhang der Autor wo in welcher Überlieferung konsultiert hat – im Russischen Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte (RGASPI) in Moskau? oder anderswo in Kopie? – und wie er die Verlässlichkeit und Vollständigkeit dieser Überlieferungen einschätzt. Worin liegt etwa der eminente Stellenwert der Dimitroff-Tagebücher, auf die er – wie auch viele andere Autorinnen vor ihm – umfangreich zurückgreift? Auf wessen kritisch-editorische Vorleistungen Dritter, etwa dem Herausgeber der Dimitroff-Tagebücher Bernhard Bayerlein, stützt sich der Autor? Dieses Monitum ändert nichts daran, dass es sich in der Summe um den ersten Band einer mit Gewinn zu lesenden Biographie handelt – wenn man denn die Zeit für 1.000 Seiten aufbringt. An zahlreichen Stellen wäre in Verbindung mit einem gründlichen Lektorat etwas weniger mehr gewesen. Der Rezensent sieht dem zweiten, dem „Diktator“ Ulbricht gewidmeten Band mit neugieriger Spannung entgegen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch