Cover
Titel
Schlager erforschen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ein populäres Phänomen


Herausgeber
Müske, Johannes; Fischer, Michael
Reihe
Populäre Kultur und Musik
Erschienen
Münster 2023: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Felix Ruppert, Insitut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft, Philipps-Universität Marburg

Einer Statistik des Deutschen Musikrats zufolge hören im Jahr 2023 46 Prozent der über 14-jährigen Deutschen „sehr gern/auch noch gern“ Deutsche Schlager. Zwar sind das 9,6 Prozent weniger als noch vor zwanzig Jahren, doch sind es immerhin mehr als 32 Millionen Menschen, was den Schlager auf Platz 3 der meistgehörten Musikgenres in Deutschland setzt.1 In Anbetracht dieser Zahlen und einer über 120-jährigen Geschichte des Genres sollte man meinen, dass es eine rege wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema gebe, doch „eine systematische kulturwissenschaftliche Untersuchung des Schlagers steht bislang aus“ (S. 10), wie der Kulturanthropologe und Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, Johannes Müske, feststellt. Gründe hierfür sind nicht selten ideologischer Natur und werden im Band an verschiedenen Stellen aufgeführt: so etwa die „Schmutz und Schund“-Debatten der 1920er- und 1950er-Jahre, die Opposition zum Volkslied (vor allem in den volkskundlich geprägten Kulturwissenschaften) und die kultur(industrie)kritischen Ansätze der Kritischen Theorie. Zudem galten und gelten Schlager in akademischen Kreisen nicht gerade als Ausdruck distinguierten Geschmacks, weshalb Kaspar Maases Beobachtung, „dass zumeist persönliches Interesse der Autor:innen die Wahl populärkultureller Themen bestimmt“2, auch für die blinden Flecke innerhalb der Erforschung des Phänomens Schlager gelten mag. Erst in den letzten zwanzig Jahren wachsen das Interesse und die Bereitschaft, sich zunehmend unvoreingenommen mit dem Thema Schlager auseinanderzusetzen. 2008 gelang es dem Musikethnologen Julio Mendívil mit einer ethnografischen Untersuchung des Feldes Schlager, einen Perspektivwechsel von einer bisher eher phänomenologischen Herangehensweise hin zu einer diskursanalytischen zu etablieren.3

Der vorliegende Sammelband basiert auf dem gleichnamigen Workshop, der vom 31. Januar bis 1. Februar 2020 im Zentrum für populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg stattgefunden hat.4 Zwischen seinen Deckeln versammelt der Band eine Fülle interdisziplinärer und methodisch unterschiedlich fundierter Beiträge, die die facettenreiche Bandbreite an kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf das „populäre Phänomen“ Schlager aufzeigen „und so zu einer stärkeren Beachtung des Themas [beitragen]“ sollen (S. 10). Nach dem einführenden Beitrag von Johannes Müske gliedert sich der Band in vier thematische Teile: „Ideologie und Politisierung“, „Klang und Performance“, „Musik und Markt“ sowie „Mediale Inszenierung“, denen die insgesamt vierzehn Artikel untergeordnet sind.

Die Beiträge der ersten Sektion beschäftigen sich mit der ideologischen Vereinnahmung und der Politisierung des Schlagers in historischer wie gegenwärtiger Perspektive. Hierin befassen sich die Autor:innen auf zwei Ebenen mit der Ideologisierung des Schlagers: zum einen auf der Ebene des Phänomens und zum anderen konsequenterweise auf der Ebene der wissenschaftlichen Beschäftigung. So befassen sich die Beiträge im Sinne der ersten Ebene mit der Instrumentalisierung des Schlagers zur Popularisierung des Rechtsrocks (siehe den Beitrag des Politikwissenschaftlers Maximilian Kreter), der Fangemeinde des „Volks-Rock’n’Rollers“ Andreas Gabalier (siehe den Beitrag der Empirischen Kulturwissenschaftlerinnen Ella Detscher und Marie Kaltenbach) und der Integrierung des Schlagers in die sozialistische Kulturpolitik der DDR (siehe den Beitrag des Musikwissenschaftlers Michael Rauhut). Auf die Ebene der Forschungsgeschichte blickt vor allem Kaspar Maase, der für die vergangenen 120 Jahre Schlagerforschung zwei dominante Deutungsmuster identifiziert. Während bis in die 1960er-Jahre ein ästhetischer Ansatz vorherrschte, der den Schlager zwischen den zwei Polen Volksmusik und Kunstmusik verortete, dominiert seit den 1960er-Jahren ein funktionalistisches Deutungsmuster, das vor allem von den Sozialwissenschaften und der Kritischen Theorie beeinflusst ist. Für eine Kulturwissenschaft, die alltags- und akteur:innenorientiert argumentiert, ist ein rein funktionalistischer Ansatz laut Maase nicht ausreichend, da er die „subjektiven Erfahrungen, Befriedigungen und Lernprozesse“ (S. 28) der Schlagerrezipient:innen ausblendet.

Die Sektion „Klang und Performance“ setzt sich mit ästhetischen Merkmalen von Schlagerliedern und damit zusammenhängenden Aufführungspraxen auseinander. Sowohl in Bezug auf klangliche als auch auf performative Merkmale wird deutlich, dass der Schlager als musikalisches Genre schwer zu fassen ist, da die Grenzen zu anderen Musikstilen, wie etwa zur Rockmusik (siehe den Beitrag von Alan van Keeken) und zur Popmusik (Beitrag von Marina Forell), immer weiter verschoben oder verwischt werden. In Forells Beitrag, der einen postfeministischen und performanzorientierten Blick auf die Bühnenshow Helene Fischers wirft, zeigt die Autorin darüber hinaus auf, dass zumindest in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung noch ein Bild vom „sauberen“ Schlager vorherrschend ist. Betrachtet man im Vergleich den sogenannten Ballermann-Schlager – der in diesem Band allenfalls Erwähnung findet – und die dazugehörigen performativen Praktiken in den Partypalästen auf Mallorca5, werden noch ganze andere Qualitäten dessen offenbar, was man als „unsauber“ bezeichnen könnte.

In der dritten Sektion, „Musik und Markt“, beschäftigen sich die Autor:innen mit ökonomischen Aspekten des Schlagers. Sehr interessant sind hier die unterschiedlichen gewählten Ansätze, mit denen sich dem Thema genähert wird. So untersucht die Musikwissenschaftlerin Christina Richter-Ibáñez aus einer translationswissenschaftlichen Perspektive das Lied „Schuld war nur der Bossa Nova“ (1963, Interpretin: Manuela). Hierin werden nicht nur Vermarktungslogiken und -praktiken, sondern auch „technische Produktionsbedingungen und ästhetische Entscheidungen“ (S. 151f.) der an einer Produktion beteiligten Personen deutlich. Mit dem Fokus auf Übersetzungen gelingt außerdem die Sichtbarmachung von in der Forschung bislang häufig marginalisierten Produktionsbeteiligten. Erweitert werden die Ausführungen zur internationalen Marktlogik von Christian A. Müller, der aufzeigt, weshalb die deutsche Schlagerindustrie nicht, oder nur zeitversetzt, auf den Zug populärkultureller Trends der USA (der Betrachtungszeitraum sind die 1950er-/1960er-Jahre) aufgesprungen ist. Hierbei argumentiert er aus wirtschaftshistorischer Perspektive und mit großer Quellenkenntnis. Sein Beitrag ist ein Plädoyer dafür, wirtschaftliche Faktoren und Quellen, trotz aller quellenkritischen Herausforderungen (vgl. S. 160f.; auch im Beitrag von Martin Lücke, S.129–131), verstärkt in die Analyse der Schlagergeschichte einzubeziehen.

Im letzten Abschnitt des Bandes, „Mediale Inszenierung“, geht es um weitere Formen der Vermarktungsstrategien von Schlagern, nun aus ästhetisch-funktionalistischen statt wie zuvor aus ökonomischen Perspektiven. Neben Henry Keazors ikonologisch argumentierender Auseinandersetzung mit Plattencovern vertreten drei weitere Artikel die Untersuchung von Schlagerfilmen. In beiden Forschungszweigen wird deutlich, dass nicht selten Wechselwirkungen zwischen den Biographien der Protagonist:innen, ihrer öffentlichen Images und der medialen (Klatsch-)Berichterstattung in Medien wie etwa Plattencovern und Schlagerfilmen verhandelt werden. Während der Kunsthistoriker Keazor dies am Beispiel des Schlagersängers Nino de Angelo und dessen Albencover aufzeigt, die in hohem Maße dessen Biografie und musikalische Entwicklung rezipieren, behandelt die Musikwissenschaftlerin Maria Fuchs die „kulturelle Erinnerung der Alpen“6 anhand von Luis-Trenker-Produktionen. Hans J. Wulff stellt in seinem Beitrag das Konzept von Populärkultur als „Lernfeld“ am Beispiel des Schlagerfilms vor. Unter einem solchen Lernfeld versteht der Medienwissenschaftler nicht etwa „die Modelle eines curricular gegliederten (schulischen) Lernens“, sondern vielmehr das „pädagogisch Unkontrollierte“ (S. 205), das Lernen aus gelebter Erfahrung. Somit spielen populärkulturelle Medien (weit über den Schlagerfilm hinaus) immer auch Vermittlungsrollen in „Sozialisationsprozessen“ (ebd.) der Rezipient:innen. Als solche können sie identitätsstiftend wirken und gesellschaftliche Akzeptanz für neue Stile fördern. Eine Untersuchung, die populärkulturelle Medien zugleich als Lernfelder begreift und die methodische Herausforderung überwindet, die sich hierbei ergibt (vgl. S. 207), sei in der Lage, tieferliegende, möglicherweise unbewusste Funktionen ihres Gegenstands freizulegen.

Den Beteiligten des Bandes ist es gelungen, eine ausgeglichene interdisziplinäre Sammlung von Artikeln in theoretisch-konzeptionellen, historischen und gegenwärtigen Perspektiven auf den Schlager umzusetzen. Somit kann das Buch als aktueller Anlaufpunkt für künftige Forschungsvorhaben genutzt werden. Denn hiermit ist der Schlager noch nicht hinreichend erforscht – im Gegenteil: Viele Artikel postulieren Desiderate und plädieren für eingehendere Untersuchungen der jeweiligen Forschungsfelder – nicht zuletzt auch, um eine kritische Reflexion und Historisierung der bisherigen Schlagerforschung voranzutreiben. Viele der hier vertretenen Ansätze zeigen ihren Wert auch darin, dass sie Personen zum Sprechen bringen, die bislang in der Forschung ungehört blieben. Gekoppelt mit ethnografischen Methoden (siehe Detscher und Kaltenbach) und eingehender Quellenarbeit (siehe Müller, Lücke und andere) sind hier viele neue und spannende Erkenntnisse zu erwarten. „Schlager erforschen“ ist ein reichhaltiger Sammelband, der Einblicke in unterschiedliche kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Schlager bereithält. Was alle Beiträge eint, ist die Ansicht, dass der Schlager ein gesellschaftlich relevantes und ernstzunehmendes Forschungsfeld darstellt, das es verdient, mit ebensolchem Ernst behandelt zu werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Deutscher Musikrat, Statistik. Bevorzugte Musikrichtungen nach Altersgruppen, https://miz.org/de/media/274291/download?attachment (04.12.2023), S. 8.
2 Kaspar Maase, Populärkultur, in: Timo Heimerdinger / Markus Tauschek (Hrsg.), Kulturtheoretisch argumentieren. Ein Arbeitsbuch, Münster 2020, S. 380–407, hier S. 385.
3 Vgl. Julio Mendívil, Ein musikalisches Stück Heimat. Ethnografische Beobachtungen zum deutschen Schlager, Bielefeld 2008.
4 Disclaimer: Der Rezensent war als zuhörender Gast bei diesem Workshop anwesend.
5 Vgl. Marina Schwarz, Schon wieder besoffen – Kleinbiotop Mallorca und der Wunsch nach Exzess, in: dies. (Hrsg.), Das verdächtig Populäre in der Musik. Warum wir mögen, wofür wir uns schämen, Wiesbaden 2021, S. 175–190.
6 Untertitel des Beitrags: „Genrekino, populäres Lied und kulturelle Erinnerung der Alpen“.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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