„Halt’s Maul, Deutschland. Es reicht!“ – unter diesem Motto protestierten im Herbst 1990 autonome Gruppen in Berlin während der „Aktionstage für den Wiederzusammenbruch“ gegen die Deutsche Einheit. Die Aktionstage waren auch Ausdruck der Frustration darüber, dass die nur ein Jahr vorher noch gesellschaftlich verhandelten Ideen eines demokratischen Sozialismus nun endgültig ihre Zustimmung in der ostdeutschen Bevölkerung verloren hatten.1 In ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse 2024 in der Kategorie „Sachbuch“ nominierten Werk taucht die an der Universität Bielefeld lehrende Historikerin Christina Morina tief in das „Wesen und den Wandel des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses der Deutschen in Ost und West für die Zeit sowohl vor als auch nach der Zäsur von 1989“ (S. 13) ein.
Anspruch ihres Buches ist es, eine deutsch-deutsch verflochtene, politische Kulturgeschichte „von unten“ zu erzählen – und zwar von den 1980er-Jahren über den Systemwechsel von 1989 hinweg bis in die unmittelbare Gegenwart. Um „individuelle Vorstellungen von Demokratie und (Staats-)Bürgersein im geteilten und vereinten Deutschland“ (S. 17) zu untersuchen, greift Morina auf eine breite Quellenbasis zurück. Dazu gehören Briefe an die Bundespräsidenten, Schreiben der DDR-Bevölkerung an Ministerien, Medien oder die Partei- und Staatsführung, Überlieferungen aus Berliner und Leipziger Archiven der DDR-Opposition sowie Briefe an die „Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“ (GVK). Da ihre Quellen Anfang der 1990er-Jahre enden, wechselt sie im vierten und fünften Kapitel von der „individuell-gesellschaftlichen auf die politik-, parteien- und diskursgeschichtliche Ebene“ (S. 26). Je näher das Buch an die Gegenwart heranrückt, desto mehr bewegt sich die von Morina erzählte politische Kulturgeschichte von „unten“ nach „oben“. Die Grundlagen des Buches reichen somit vom Leserbrief an die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ aus den 1980er-Jahren bis hin zu einer medienbasierten Analyse, wie Angela Merkel ihre ostdeutsche Herkunft in öffentlichen Auftritten thematisierte.
Das Buch ist weit mehr als eine politische Kulturgeschichte deutsch-deutscher Demokratie- und Bürgervorstellungen, denn es entwickelt sich über seinen Verlauf von einem geschichtswissenschaftlichen zu einem zeithistorisch kommentierenden Werk, bis es im Fazit teilweise zu einer (geschichts-)politischen Abrechnung mit der DDR-Aufarbeitung avanciert. Die dynamische Struktur des Buches demonstriert, wie komplexe, vielstimmige und letztlich unabgeschlossene Geschichten erzählt werden können, wenn Autorinnen und Autoren im Wissenschaftsbetrieb die nötige Freiheit und existenzielle Sicherheit haben, ungebunden von den engen Konventionen einer Qualifikationsarbeit zu schreiben. Deutlich wird dies besonders im fünften Kapitel – das den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und die politische Biografie Angela Merkels darstellt –, aus dem heraus Morina am Ende ihres Buches (geschichts-)politische Akteurinnen und Akteure direkt zum Handeln auffordert. Morina zufolge ist es bis heute nicht gelungen, „Ostdeutschland und damit die ostdeutsche Diktatur- und Demokratiegeschichte auf angemessene Weise in das politische Koordinatensystem der Bundesrepublik zu integrieren“ (S. 279). Sie kommt deswegen zu der kritischen Bilanz, dass es an einer „langfristigen und transministerial verankerten Strategie mit einem Schwerpunkt auf demokratie- und strukturpolitische Reformen“ (S. 284) weiterhin fehle. Das in Halle (Saale) geplante „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ sieht sie dafür eindeutig als ungeeignetes Gebilde an, um solche Reformprozesse anzustoßen.
Die Untersuchung der Staatsbürgervorstellungen und Demokratieverständnisse in der DDR und Bundesrepublik seit den 1980er-Jahren bildet das Fundament des Buches. Dabei arbeitet Morina heraus, wie sich die „Bürger(selbst)verständnisse“ (S. 49) in Ost und West voneinander unterschieden: Die Schreibenden aus der DDR definierten den Bürgerbegriff über ihr Menschsein, ihre Funktion im Staat und als Bewohnerin oder Bewohner der DDR, wobei der „Begriff des Bürgers nicht als Identifikations-, sondern als Abgrenzungsbegriff – nicht im Sinne des Staates, sondern gegen ihn – in Anschlag gebracht wurde“ (S. 63). In der Bundesrepublik hingegen verstanden sich die jeweils Schreibenden als „der Wahlbürger, der Steuerbürger“ oder „der dem Staate dienende Bürger“ (S. 49). Die Briefe zeigten, so Morina, im Unterschied zur DDR keine dichotom in „‚oben‘ und ‚unten‘“ (S. 61) geteilte Sichtweise, sondern eine Wahrnehmung des Bundespräsidenten als temporär mit Macht ausgestattetem Repräsentanten, mit dem auf Augenhöhe und ohne die Gefahr von Repressionen kommuniziert werden konnte.
Weniger überzeugend als diese Systematisierungen wirken die Abgrenzungen gegenüber der DDR-Forschung einerseits und gegenüber dem Narrativ der „Erfolgsgeschichte“ der Bundesrepublik andererseits. Das liegt daran, dass Morina eine nuancierte, aber im Kern doch als „Erfolgsgeschichte“ interpretierbare Erzählung von Demokratie- und Staatsbürgervorstellungen entwickelt, und zwar deshalb, weil die Quellen dies offenbar hergeben. Wiederholt kritisch bilanziert die Autorin die DDR-Forschung, die eine „ganze Reihe von gewichtigen historischen Fragen […], wenn überhaupt nur andeutungsweise gestellt“ habe (S. 131). Mit ihrem demokratiehistorischen Ansatz stelle sie „weit verbreitete Annahmen über die vermeintlich stillgelegte und apathische DDR-Gesellschaft aus einer einzigartigen Perspektive auf den Prüfstand“ (S. 47).
Das wird dem aktuellen Wissensstand der DDR- und der Kommunismusforschung nicht unbedingt gerecht, weil zahlreiche Studien herausgearbeitet haben, dass Fragen des Politischen und der Demokratie, wie Morina selbst schreibt, vor und nach 1989/90 „sehr intensiv als Lebenswelterfahrung und -problem und nur sehr selten als politisch-rechtliche Ordnungs- und Verfahrensfrage verhandelt“ wurden (S. 177). Zum Beispiel stellten die Mitglieder einer westdeutschen Forschungsgruppe bereits 1987 bei Oral-History-Interviews in der DDR fest, dass das Sprechen über Konsum von der DDR-Bevölkerung genutzt wurde, um über politische Themen zu kommunizieren, die in der Öffentlichkeit nicht diskutierbar waren.2 Damit wird deutlich, dass die von Morina erzählte „DDR-Demokratieanspruchsgeschichte“ (S. 298) auch in anderen lebensweltlichen Räumen verhandelt wurde, die von der DDR-Forschung für die Zeit vor 1989 bereits intensiv untersucht worden sind. Für die Zeit ab 1990 war bis vor wenigen Jahren die sozialwissenschaftliche Forschung zuständig, auf deren aggregierte Ergebnisse Morina als Vergleichsfolie zurückgreift, deren qualitative und quantitative Sozialdaten sie allerdings nicht als alternative Quellen zu den bisher gesperrten staatlichen Überlieferungen heranzieht.3
Morina zeigt sehr anschaulich, wie vielfältig die Bürger- und Demokratievorstellungen in der langen politischen Kulturgeschichte in Ost und West waren, wie intensiv sie im Herbst 1989 in der „panfamiliären Öffentlichkeit“ (S. 140) der DDR diskutiert wurden und wie sie nach dem Mauerfall ungebremst aufeinanderprallten. Diese Vorstellungen reichten von Ideen einer linkssozialistischen Rätedemokratie über Forderungen nach einer ethnisch homogenen nationalistischen Volksdemokratie bis hin zu parlamentarisch-plebiszitären Demokratievorstellungen. Eine der wichtigsten Erkenntnisse des Buches ist, dass die „ostwestlich“ verwobenen „Demokratie- und Gesellschaftsideen“ (S. 297) letztlich kaum politische Folgen hatten, aber mentale Prägungen hinterließen, die sowohl konstruktiv als auch (zunehmend) destruktiv wirkten und wirken. Die Studie macht eindrucksvoll deutlich, wie die AfD ab etwa 2014 in den 1990er-Jahren nicht aufgegriffene beziehungsweise politisch nicht mehrheitsfähige, mindestens bis in die 1980er-Jahre zurückreichende Mobilisierungspotenziale von „Basisdemokratie, ‚unmittelbarer‘ Volksherrschaft und Bürgerbeteiligung“ (S. 304) zu nutzen vermochte. Insofern gelang es der AfD als einzige Partei, „das scheindemokratische Erbe der DDR-Zeit und die straßendemokratischen Impulse der 1989-Revolution gleichermaßen zur Legitimation einer antiparlamentarischen Revolte wiederzubeleben“ (S. 234).
Mit ihrer deutsch-deutsch verflochtenen und zäsurübergreifenden Demokratiegeschichte von „unten“ bindet Christina Morina ein weites sozialwissenschaftliches und zeithistorisches Forschungsfeld zusammen. Neu daran sind weniger die einzelnen Ansätze als vielmehr deren dynamische Zusammenführung unter einem breiten Demokratiebegriff, der sich einerseits als offen genug erweist, um in einer „langen“ deutsch-deutschen Perspektive erzählt zu werden. Andererseits ermöglichen die subjektiven Demokratie- und Bürgervorstellungen, die für Ostdeutschland spezifischen „eigensinnige[n] Aneignungen und Vorstellungen von demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen“4 zeithistorisch fundiert zu untersuchen. Aufgrund des fluiden Charakters ihres Buches bietet Morina nicht nur neue zeitgeschichtliche Erkenntnisse, weist auf noch zu erschließende Forschungsfelder hin und beeindruckt mit ihrer geschichtlichen Analyse der politischen Gegenwart, sondern liefert auch einen pointierten gesellschaftlichen Debattenbeitrag. Was will man mehr von einem historischen Buch?
Anmerkungen:
1 Vgl. Dirk Teschner, Hey – Rote Zora, in: zweiteroktober90, https://zweiteroktober90.de/kontext/teschner-hey-rote-zora/ (14.03.2024).
2 Vgl. Lutz Niethammer, Glasnost privat 1987, in: ders. / Alexander von Plato / Dorothee Wierling (Hrsg.), Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991, S. 9–73.
3 Vgl. Kerstin Brückweh u.a., Sozialdaten als Quellen der Zeitgeschichte. Zur Einführung, in: Geschichte und Gesellschaft 48 (2022), S. 5–27.
4 Alexander Leistner, Bis hierher und wie weiter? Zur Vergangenheit und Zukunft der asymmetrisch verflochtenen Transformation (Ost-)Deutschlands, in: ders. / Monika Wohlrab-Sahr (Hrsg.), Das umstrittene Erbe von 1989. Zur Gegenwart eines Gesellschaftszusammenbruchs, Wien 2022, S. 11–61, hier S. 44f.