Das Kaliningrader Gebiet weckt seit vielen Jahren großes Interesse, vor allem auch aus dem Grund, dass das seit 1945 sowjetisch besetzte Königsberg und das umliegende Territorium in den gesamten Nachkriegsjahrzehnten hermetisch abgeriegelt waren. Die Öffnung 1990 zog zahlreiche Besucherinnen und Besucher an. In den folgenden Jahren erschien eine Reihe von geschichtswissenschaftlichen Publikationen, in denen vor allem deutsche und russische, aber auch litauische und polnische Forscherinnen und Forscher der Frage nachgingen, wie aus Königsberg Kaliningrad wurde. Daneben gab es einen Boom der Erinnerungsliteratur zu Ostpreußen im Zweiten Weltkrieg und in der frühen Nachkriegszeit, der inzwischen aber bereits seit Längerem abgeebbt ist.
Nicole Eaton hat sich zwei Jahrzehnte später die Aufgabe gestellt, selbst in Kaliningrader Archiven zu forschen und die Forschungs- sowie Memoirenliteratur aus den 1990er-Jahren mit Blick auf die Sowjetisierung des vormals deutschen Königsbergs auszuwerten. Sie spannt ihren Fokus jedoch noch etwas weiter und bezieht die Zeit des nationalsozialistischen Ostpreußens mit ein. Eaton geht von dem Standpunkt aus, dass es sich sowohl beim Nationalsozialismus als auch beim Stalinismus um radikal transformierende und gewalttätige „revolutionäre“ Regime gehandelt habe (S. 4). Die Bedingungen in den Grenzregionen des Dritten Reichs und der Sowjetunion hätten sich aber dramatisch von denen in Berlin und Moskau unterschieden, sodass es zu Ausbildungen lokaler Versionen der jeweiligen Utopien (so wörtlich, S. 9) gekommen sei. Ohne einen direkten Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der sowjetischen Herrschaft in der Region anzustreben, geht Eaton davon aus, dass Ideologie und Lebenserfahrungen in Königsberg ebenso wie in Kaliningrad durch Isolation geprägt waren. Eaton möchte ihren Ansatz ausdrücklich nicht als strukturellen Vergleich, sondern als eine verflochtene Geschichte beider Regime verstanden wissen. So will sie zeigen, wie diese um denselben geografischen Raum konkurriert hätten (ebd.).
Dieser hochinteressante Ansatz wird jedoch nicht konsequent weiterverfolgt. Dies beruht nicht zuletzt auf der streng chronologischen Anlage des Buches in sieben Kapiteln. Damit unterwirft sich die Autorin eher der fortlaufenden Erzählung als der konsequenten Analyse.
Den Auftakt von Eatons Darstellung bildet ein Überblick über die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit, wobei sie vor allem die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Versailler Vertrags schildert. Hier zieht sie unter anderem einen Reiseführer von 1927 als Quelle zurate. Dagegen finden weder der Ausbau Königsbergs zu einer der modernsten Großstädte Deutschlands noch das Königsberger Modell einer fortschrittlichen Kommunalverwaltung Erwähnung, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass Eaton diesbezüglich nicht auf vertiefende frühere Forschungen zurückgreifen konnte.
Im zweiten Kapitel schildert Eaton den Aufstieg des Gauleiters Erich Koch und die konsequente Erweiterung seines ostpreußischen Machtbereichs um Zichenau (Ciechanów) und Białystok bis hin zu seinem Aufstieg zum Reichskommissar der Ukraine. Ihrer Ansicht nach habe der sogenannte „Königsberger Kreis“ der Nationalsozialisten um Koch, darunter insbesondere der Staatswissenschaftler Hans-Bernhard Grünberg und der Jurist Graf Fritz-Dietlof von der Schulenburg, eine lokale Variante des Nationalsozialismus entwickelt, die auf dem preußischen Erbe Ostpreußens, der bäuerlichen Wirtschaft und der Grenzlandgeografie fußte. Koch habe auf das Wissen dieser Experten zurückgreifen und bereits im Juni 1933 ein viel beachtetes Aufbauprogramm vorlegen können. Eaton bezieht sich ferner auf den 1934 in Kraft getretenen „Ostpreußenplan“, der auf eine landgebundene Industriewirtschaft in der Region abzielte. Die Königsberger Nazis hätten geplant, Ostpreußen zum Zentrum eines östlichen Wirtschaftsnetzwerks und zur Avantgarde des Nationalsozialismus für das Reich auszubauen. Ihre spezifisch ostpreußische nationalsozialistische Revolution sei jedoch genauso wie die Naziherrschaft in ganz Deutschland an Widersprüchen und Nepotismus gescheitert.
Anschließend folgt unter der Überschrift „Downfall“ die Darstellung des Einmarsches der Roten Armee in Ostpreußen. Eaton thematisiert hier das Fluchtgeschehen, die Tragödie um das Flüchtlingsschiff „Wilhelm Gustloff“, die Zeit der „Festung Königsberg“, den Todesmarsch nach Palmnicken und das Massaker am Ostseestrand sowie das erste Aufeinandertreffen von Russen und zivilen Ostpreußen. Dabei nutzt sie zahlreiche Zitate aus den gängigen Quellen. Weder Fremdarbeiterinnen noch französische oder italienische Kriegsgefangene, die sich damals in großer Zahl in der Provinz befanden, finden hier Erwähnung. Dies hätte den Blickwinkel gehörig erweitert, zumal darunter auch nicht wenige sowjetische Bürger waren, die nach Ostpreußen verschleppt worden waren und nach Kriegsende beschlossen, dortzubleiben. Anstatt die Chance zu nutzen, die verflechtungsgeschichtliche Dimension ihrer Arbeit zu unterstreichen, stellt Eaton in diesem Abschnitt bewusst konventionelle ostpreußische Opfernarrative in den Mittelpunkt, welche die eigene Mittäterschaft und das Schicksal von Juden sowie anderen nichtdeutschen Opfern ignorieren.
Das vierte Kapitel, in dem Eaton ihren Blick auf die sowjetischen Soldaten lenkt, die 1944/45 nach Ostpreußen einmarschierten, ist mit „Liberation and Revenge“ betitelt. Im Wesentlichen setzt sie sich hier mit der Rhetorik der Propagandaschriften des Journalisten Ilja Ehrenburg auseinander, der seinerzeit zur Abrechnung mit den Deutschen aufgerufen hatte. Dabei zeichnet sie auch innersowjetische Diskussionen über das Phänomen der Gewalttätigkeit unter Soldaten der Roten Armee nach.
Im nachfolgenden Kapitel wendet sich Eaton dem ersten Nachkriegsjahr im sowjetisch besetzten Königsberg zu. Trotz der tiefgreifenden ideologischen Veränderungen, die mit der Sowjetisierung einhergingen, sei Königsberg praktisch ohne Plan und Strategie sowjetisch geworden (S. 147). Dazu ließe sich anmerken, dass die Sowjetunion nur mühsam von der Kriegs- wieder auf die Planwirtschaft umschwenkte. Bis zum Inkrafttreten des ersten Nachkriegsfünfjahrplans 1946 fungierte das Königsberger Gebiet, das nun die Bezeichnung „militärischer Sonderbezirk“ trug, in erster Linie als temporäre Zwischenstation für die vielen Soldaten der Roten Armee, die nicht alle auf einmal demobilisiert werden sollten. Erst danach wurde die Region offiziell als Kaliningrader Oblast in die reguläre sowjetische Wirtschaft einbezogen.
Unter der Überschrift „Living Together“ erzählt Eaton von den Jahren 1945 bis 1948, in denen sowjetische und deutsche Bürger nebeneinander in der Stadt sowie Region lebten und arbeiteten. Dabei kann sie auf umfangreiches Quellenmaterial aus den Veröffentlichungen von Jurij Kostjašov und dem von Eckhard Matthes herausgegebenen Band schöpfen.1 Obwohl es noch zahlreiche deutsche Einwohnerinnen und Einwohner gab, wurden deren Vertreter nie in die Verwaltungsarbeit miteinbezogen. Die sowjetischen Neusiedler forderten, dass Kaliningrad endlich eine wahre sowjetische Stadt werden müsse.
Das siebte Kapitel berichtet von der Marginalisierung und Ausweisung der Deutschen. Eaton betont mehrfach, dass die Ausreise der Deutschen aus Kaliningrad nur ein kleines Kapitel der großen Ära der „Bevölkerungsentmischung“ (unmixing of peoples) im Nachkriegseuropa gewesen sei (S. 231). Mit dieser pauschalisierenden Subsumierung nivelliert sie die Spezifika der Vertreibung der Deutschen aus Königsberg/Kaliningrad jedoch nach Meinung der Rezensentin zu stark. Nirgendwo sonst erfolgten die Zwangsmigrationen nach Kriegsende ohne Übereinkunft der Alliierten und dazu noch unter nahezu hundertprozentiger Verweigerung jedweder Entscheidungsfreiheit der Betroffenen.
Schließlich widmet sich Eaton auch dem propagandistischen Mythos, wonach es sich bei dem Kaliningrader Gebiet um alte slawische Erde handele (S. 241). Auch wenn sie diesen Topos im Titel ihres Buches prominent exponiert, kommt sie letzten Endes zu dem Ergebnis, dass das Narrativ von der Befreiung der Stadt vom Faschismus durch die siegreiche Rote Armee überwogen habe.
In ihrem Resümee kommt Eaton auf ihre Ausgangsthese zurück, dass Königsberg und Ostpreußen, die in den 1920er- und 1930er-Jahren durch den Polnischen Korridor vom Kernland des Deutschen Reichs abgeschnitten waren, durch Isolation und Härte zu einer Petrischale für eine lokale Variante des Nationalsozialismus gediehen seien. 1945 sei das erneut isolierte Kaliningrad dann zum Schauplatz einer weiteren Revolution geworden – diesmal im Zeichen des sowjetischen Projekts, den Kommunismus auf den Ruinen des Faschismus aufzubauen. In beiden Phasen hätten lokale Politiker und Intellektuelle ihre eigenen Visionen für diese „Revolution“ entwickelt (S. 250). Sowohl die Königsberger als auch die Kaliningrader hätten ihre Stadt als Brücke zur Zivilisation empfunden und gleichzeitig als Bollwerk gegen die Barbarei imaginiert (S. 252).
Eatons Interpretation lässt sich nicht so einfach folgen. Die Entwicklungen, die sie für Ostpreußen als nationalsozialistische Revolution beschreibt, hatten ihren planerischen Ausgangspunkt in der Weimarer Republik und wurden dann von Erich Koch aufgegriffen sowie instrumentalisiert. Die Autorin beruft sich in diesem Teil ihrer Darstellung im Wesentlichen auf Sekundärliteratur, namentlich auf Hans Mommsens Darstellung von Schulenburg2, der diesen als einen Verfechter des von Oswald Spengler kreierten Mythos vom Anbruch einer neuen „revolutionären“ Epoche darstellt. Es handelt sich dabei aber nicht per se um eine nationalsozialistische Revolution. Hinzu kommt, dass der Forschungsstand zu verschiedenen Aspekten der Kriegs- und Zwischenkriegszeit für Ostpreußen immer noch lückenhaft ist und weit hinter der vergleichsweise gut erforschten Nachkriegsgeschichte zurückbleibt. Dieses Ungleichgewicht spiegelt sich leider auch in der Arbeit von Eaton wider.
Nicole Eaton hat für ihr Buch alles rezipiert und verarbeitet, was das deutsche Bildungsbürgertum, das sich für Ostpreußen interessiert, an Memoirenliteratur gelesen hat: von Dönhoff bis Lehndorff, von Goldstein bis Giordano und natürlich Michael Wieck. Dazu greift sie intensiv auf die einschlägige deutsche und russische Forschungsliteratur zurück, die seit Mitte der 1990er-Jahre erschienen ist. Die Recherchen in den Kaliningrader Archiven erscheinen demgegenüber eher als nachrangig. Eaton hat eine fortlaufende Erzählung daraus komponiert, in der Zitate aus Dokumenten, Forschungen und Memoirenliteratur miteinander verwoben werden. Auf diese Weise ist ein kompaktes Narrativ über zwei Schlüsseljahrzehnte ostpreußischer Geschichte entstanden, dessen interpretatorischer Ansatz durchaus weiter diskutiert werden sollte.
Anmerkungen:
1 Jurij Kostjašov, Sekretnaja istorija kaliningradskoj oblasti. Očerki 1945–1956 gg [Die geheime Geschichte des Kaliningrader Gebiets. Essays 1945–1956], Kaliningrad 2009; Eckard Matthes (Hrsg.), Als Russe in Ostpreußen. Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg/Kaliningrad nach 1945, Ostfildern 1999.
2 Hans Mommsen, Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes, München 2000.