J. Klein: "Der Prophet des Staatsgedankens"

Cover
Titel
"Der Prophet des Staatsgedankens". Hans Delbrück und die "Preußischen Jahrbücher" (1883–1919)


Autor(en)
Klein, Jonas
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
471 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Rojek, Abteilung Neuere Geschichte, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Jonas Klein widmet sich in seiner Potsdamer Dissertation einem der profiliertesten öffentlichen Intellektuellen des Deutschen Kaiserreiches, Hans Delbrück (1848–1929), sowie der von ihm über viele Jahre betreuten Zeitschrift „Preußische Jahrbücher“. Die bisherige Forschung hat zwar Teilaspekte von Delbrücks Wirken, etwa als Militärhistoriker, beleuchtet, aber eine umfassende wissenschaftliche Biografie existiert nach wie vor nicht.1 Gleichwohl ist die Forschung in den letzten Jahren in Bewegung gekommen. 2018 hat Christian Lüdtke ein Buch vorgelegt, das sich mit der Rolle Delbrücks in den Debatten der Weimarer Republik beschäftigte2, und in naher Zukunft soll eine Auswahledition der umfänglich überlieferten Korrespondenz Delbrücks zur Publikation gelangen (vgl. S. 12 Anm. 17). Im Kontext dieses Editionsprojekts ist auch die vorliegende Studie entstanden, die nun Delbrücks Wirken im Kaiserreich unter breiter Auswertung von dessen Nachlass beleuchtet.

Klein strebt keine Biografie im eigentlichen Sinne an, sondern versteht seinen Protagonisten als „Kommunikator“, der „als Seismograph für die politische Kultur des Kaiserreichs angesehen werden“ könne (S. 11, ähnlich S. 25). Methodisch sucht die Arbeit in der Einleitung Anschluss an die politische Kultur- und Intellektuellengeschichte und führt Begriffe der soziologischen Vertrauensforschung sowie eine Unterscheidung Erving Goffmans hinsichtlich der Vorder- und Hinterbühne von Kommunikationssituationen ein, die aber im Hauptteil erstaunlicherweise kaum noch eine Rolle spielen. Dort dominiert dagegen eine sehr dichte Darstellung, die sich ganz an den Quellen – vor allem dem Nachlass und den Preußischen Jahrbüchern – entlanghangelt, erst im Fazit werden die Kategorien wieder knapp genutzt, um das Material zu sortieren.

Im zweiten Kapitel schildert der Verfasser kurz Delbrücks Lebensweg (S. 29–47). Delbrück stammte aus einer bestens vernetzten Familie, studierte Geschichte, nahm am Deutsch-Französischen Krieg teil und agierte im unmittelbaren Umfeld des künftigen Kaisers Friedrich III., wirkte zudem als Parlamentarier und Professor und verfügte über exzellente Kontakte zu den Spitzen des Reiches. Trotzdem verstand sich Delbrück nicht als Politiker, sondern als Gelehrter. Als publizistisches Sprachrohr dienten ihm vor allem die Preußischen Jahrbücher, deren Entwicklung Klein im Anschluss schildert (S. 48–75). Hier veröffentlichte Delbrück in drei Jahrzehnten ca. 800 Texte, die vor allem deshalb innerhalb der Eliten Wirkung entfalteten, da die Hefte von „Meinungsmacher[n] und Entscheidungsträger[n]“ (S. 62) gelesen wurden.

Da der Umfang von Delbrücks Publikationen und vor allem seines Nachlasses „für unter dem Fallbeil des Wissenschaftszeitarbeitsgesetzes operierende Historiker nicht zu bewältigen ist“ (S. 18), hat der Verfasser eine Mischung aus Chronologie und Systematik gewählt, die in fünf Hauptkapiteln Delbrücks Rolle als Herausgeber der Zeitschrift sowie seine Verortung in zentralen innen- und außenpolitischen „Krisenherden“ (Hans-Ulrich Wehler) des Kaiserreichs rekonstruieren. Das Fazit fasst schließlich die Ergebnisse der Arbeit auf elf Seiten zusammen.

Zunächst wendet sich Klein im dritten Kapitel der Bismarck-Ära zu und schildert Delbrücks Positionierung gegenüber dem neuen Staat, im Kulturkampf sowie hinsichtlich der Sozialdemokratie. Die Analyse macht deutlich, dass Delbrück dem Staat positiv gegenüberstand. Preußen, die Monarchie und das nach seiner Interpretation durch eine vorbildliche „Mischverfassung“ gekennzeichnete Reich verschmolzen für ihn zu einer bewahrenswerten Größe, die mittelfristig gesellschaftliche Integrationsleistungen entfalten könne, weshalb Delbrück weder Anlass für (Kultur-)Pessimismus noch für eine kritiklose Bewunderung des Erreichten sah. Er verstand den Staat als deutsch-protestantisch, aber bemühte sich um eine Integration derjenigen Katholiken, die er als liberal wahrnahm und votierte für Toleranz. Ähnlich agierte er mit Blick auf die Sozialdemokratie. In paternalistischer Weise betrachtete er es als Aufgabe der höheren Stände, sich um die Integration der Arbeiter zu bemühen. Er hielt nach dem Ende des Sozialistengesetzes „Kompromisse“ (S. 141) mit der Sozialdemokratie für unumgänglich und reagierte damit auch auf Entwicklungen innerhalb des sozialdemokratischen Lagers.3 In diesem Kontext plädierte er sogar für „taktische Stimmabgaben zugunsten sozialdemokratischer Kandidaten“ (S. 142) und benannte damit ein typisches Feld der Kompromisspolitik im Kaiserreich.

Eine analoge Liberalität findet sich in den Debatten um die (nationalen) Minderheiten, denen sich das Buch im vierten Hauptkapitel zuwendet. Delbrück attackierte die ostelbische Nationalitätenpolitik gegenüber den Polen scharf, was auch zu einigen Gerichtsprozessen führte, und warb für Verständnis. Zum einen, weil das seinem gesellschaftspolitischen Ideal entsprach, zum anderen, da er die polnische Frage im Kontext der internationalen Beziehungen betrachtete. Auch gegenüber den Dänen in Nordschleswig lehnte er eine aggressive Germanisierungspolitik ab und suchte den Konflikt mit radikalnationalistischen Organisationen. Hier setzte er – wie auch mit Blick auf das Reichsland Elsass-Lothringen – auf eine Integration der nationalen Minderheiten in den neuen Staat und warf seinen Gegnern mangelnden Glauben an Deutschlands Stärke vor. Wesentlich zurückhaltender verhielt er sich mit Blick auf die Frauenemanzipation. In dieser Frage war er „kein Vorreiter“ (S. 241), aber auch kein fanatischer Gegner wie die sich um 1900 organisierenden Antifeministen, denn Reformen erschienen ihm auf diesem Feld zweifellos als notwendig, wenngleich diese nur behutsam vonstatten gehen sollten.

Das fünfte Hauptkapitel fokussiert die außenpolitischen „Krisenherde“ unter Wilhelm II. und erläutert Delbrücks Partizipation und Rolle in den Debatten um des Reiches Stellung im Mächtekonzert sowie um die Rüstungs- und Kolonialpolitik. Das Reich war für Delbrück eminenter Bestandteil der Pentarchie und er votierte lange Zeit für einen wehrhaften Staat, der „Rüstung um der Rüstung willen“ (S. 287) zu betreiben habe, bezog allerdings in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg Stellung gegen die radikalen Forderungen von Alldeutschen und Imperialisten. Diese Linie setzte er, dies ist Gegenstand des sechstens Hauptkapitels, auch nach Kriegsbeginn fort, warb für vergleichsweise gemäßigte Kriegsziele und innere Reformen, gerade damit der Obrigkeitsstaat Integrationskraft entfalten und dadurch erhalten werden könne.

Insgesamt wird Delbrück als ein Intellektueller sichtbar, der um Unabhängigkeit bemüht war, Kompromisse schätzte und sich irgendwo zwischen Konservativen und Liberalen positionierte. Er engagierte sich „für kulturellen Liberalismus, progressive Sozialpolitik und nationale Integration“ (S. 428). Deutlich wird, dass die preußisch-deutschen Eliten mit Delbrück über einen streitbaren und kritikfähigen Intellektuellen verfügten, der sich für durchaus berechtigt hielt, die Politik mit gelehrten Mitteln mitgestalten zu dürfen.

Der Untersuchung von Jonas Klein kommt das Verdienst zu, die Rolle Delbrücks und seines Mediums in der Debattenlandschaft des Kaiserreichs auf breiter Quellenbasis profiliert zu haben. Damit liefert das Buch nicht nur einen weiteren Baustein einer Biografie Delbrücks, sondern erweitert auch unser Wissen über die politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs. Wer mit dem Buch arbeiten möchte, wird durch den systematischen Aufbau und ein Personenregister bequem auf die dort aufbereiteten Detailinformationen zurückgreifen können. Zudem darf man auf die angekündigte Edition der Delbrück’schen Korrespondenz gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Anneliese Thimme, Hans Delbrück als Kritiker der wilhelminischen Epoche, Düsseldorf 1955; Andreas Hillgruber, Hans Delbrück, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Göttingen 1973, S. 416–428; Sven Lange, Hans Delbrück und der „Strategiestreit“. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879–1914, Freiburg im Breisgau 1995; Wilhelm Deist, Hans Delbrück – Militärhistoriker und Publizist, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 57 (1998), S. 371–383.
2 Christian Lüdtke, Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende, Göttingen 2018. Vgl. meine Rezension https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27729 (24.01.2024).
3 Vgl. zur Bedeutung der Kompromisspolitik im Kaiserreich und bei der Sozialdemokratie Sebastian Rojek, Kompromiss und Demokratie. Eine begriffsgeschichtliche Annäherung, in: Historische Zeitschrift 316 (2023), S. 564–602, hier bes. S. 581–600.

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