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Titel
Der Gauleiter. Das Amt "Willkür". Adolf Wagner (1890–1944) – eine Biografie


Autor(en)
Zuber, Brigitte
Reihe
Beiträge zur Kulturwissenschaft
Erschienen
Bielefeld 2023: Athena Verlag
Anzahl Seiten
774 S.
Preis
€ 78,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Meis, Lehrstuhl für Neueste Geschichte / Lehrstuhl für Unternehmensgeschichte, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf / Universität Stuttgart

Die Erforschung der Gauleiter schreitet rasch voran.1 Adolf Hitlers „Führer der Provinz“ (Michael Kißener / Joachim Scholtyseck) besaßen in ihrem Gau eine auf alle Bereiche von Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ausgreifende Machtfülle. Wie sich die Aneignung und Verteidigung von Einfluss auf Gauebene gestaltete, war höchst unterschiedlich. Umso wichtiger sind Gauleiterbiografien. Sie geben Einblick in das Innenleben der oberen Führungsebenen des Nationalsozialismus und in die Funktionsweise von System wie Ideologie vor Ort.

Hier setzt die 774 Seiten starke und reichlich bebilderte Studie von Brigitte Zuber an. Mit ihrer Gauleiterbiografie liegt sie vollauf im Trend. Dass sie sich dabei auf Adolf Wagner, den Gauleiter des „Traditionsgaues“ München-Oberbayern konzentriert, ist zudem längst überfällig. Selbst unter den durchweg sehr einflussreichen Gauleitern stachen einige besonders mächtige hervor. Adolf Wagner ist einer von ihnen. Unter den parallel bis zu 42 im Amt befindlichen Gauleitern muss er zu den wichtigsten fünf gezählt werden. Schon Anfang der 1920er-Jahre und damit recht früh engagierte er sich in der „Bewegung“, stieg relativ rasch auf, wurde Reichsleiter und 1930 Gauleiter und schließlich auch noch Landesminister in Bayern. 1944 verstarb er an den Folgen eines Schlaganfalls.

Das Ziel von Brigitte Zubers Studie ist es, anhand der Biografie Adolf Wagners und „[i]n Anlehnung an das [Fraenkelsche] Begriffsduo von Maßnahmenstaat und Normenstaat [...] das Musterexemplar eines Maßnahmenpolitikers auf sein Verhalten gegenüber den unter normenstaatlichem Schutz stehenden Kräften zu überprüfen“ (S. 11). Dabei stellt sie konkrete Fragen nach der für Adolf Wagner besonders wichtigen Wirtschaftspolitik, nach seinen Konflikten innerhalb des Systems und nach „widerwillig[en]“ wie „freiwillig[en]“ (S. 11) Rücksichten auf den Gesamtstaat bei Umsetzung der eigenen Politik.

Inhaltlich wählt die Verfasserin den klassischen biografischen Zugang einer Betrachtung von der Wiege bis zur Bahre. Gerade bei den Gauleiterbiografien hat sich bislang noch kein einheitliches Vorgehen durchgesetzt. Gesamtbetrachtungen liegen genauso vor wie Schwerpunktsetzungen bei politischen Wirkungsbereichen. Im Falle Adolf Wagners bietet sich aber Ersteres viel eher an, so, wie es die Verfasserin auch vollführt hat. Denn soweit ersichtlich, sind Adolf Wagners Art und Weise der Herrschaftsdurchsetzung sowie seine eigenen Schwerpunkte in Wirtschafts- und Kulturpolitik erheblich geprägt von seiner Kindheit und Sozialisation.

Gegliedert ist die Studie in elf Kapitel. Bis auf die beiden letzten sind sie alle in etwa gleich lang. Das erste Kapitel betrachtet die frühen Jahre Adolf Wagners in Lothringen, seine Studienzeit im Rheinland, die Kriegsjahre in Frankreich und den Berufseinstieg im Bergbau samt Aufstieg zum Bergwerksdirektor. Die Kapitel zwei bis zehn sind jeweils auf einen engen Zeitraum von meist wenigen Jahren konzentriert. Das zweite Kapitel widmet sich der Zeit von 1920 bis 1933, in der Adolf Wagner sich beruflich behauptete und gleichzeitig in der NSDAP engagierte. Es zeigt auf, wie seine Sozialisation und Radikalisierung weiter verliefen. Im dritten Kapitel geht es spezifisch um die für den Wirtschaftspolitiker Adolf Wagner besonders wichtige Phase von 1930 bis 1933, war doch die letzte Phase der Weimarer Wirtschaftsgeschichte geprägt von umfassenden sozialen und ökonomischen Verwerfungen. Das vierte Kapitel behandelt das Jahr 1933 und fragt, wie Wagners Agieren während der „Machtergreifung“ zu verorten ist. Im fünften Kapitel folgt das Krisenjahr 1934, welches die Partei bei ihren inneren Flügelkämpfen vor eine Zerreißprobe stellte und von Adolf Wagner ein vorsichtiges und zurückhaltendes Verhalten forderte.

Die häufig schwierig greifbaren Jahre 1935 und 1936 zwischen Machtfestigung und Aufrüstung werden im sechsten Kapitel betrachtet. Die nachhaltige Verankerung der eigenen Position ist dabei auch bei Adolf Wagner zu erkennen. Im siebten Kapitel gerät der Kulturpolitiker Adolf Wagner in den Jahren 1936 bis 1938 sehr stark in den Mittelpunkt. Nicht zuletzt die Schulpolitik in Bayern fiel nun in seinen Wirkungsbereich. Das Jahr 1938 ist der zeitliche Fixpunkt des achten Kapitels. Dieses Jahr bildete nicht nur für die Expansionspolitik des Reiches einen zentralen Wendepunkt, sondern gleichermaßen auch für die Ausweitung der Macht der Gauleiter auf andere Territorien. Adolf Wagner konnte so gerade auf die Kulturpolitik in Österreich Einfluss ausüben.

Die Tätigkeit als Reichsverteidigungskommissar von 1939 bis 1942, die trotz der jüngeren Gauleiterbiografien häufig unterschätzt wird, ist Thema des neunten Kapitels. Ging die Forschung lange von einer Machtminderung der Gauleiter im Kriege aus, zeigt nicht zuletzt der Blick auf ihre Funktion als Reichsverteidigungskommissare ihre erheblichen Eingriffsmöglichkeiten in den Alltag auf. Im zehnten Kapitel werden Adolf Wagners Erkrankung und Tod inklusive posthume Fragen in den Blick genommen. Kapitel elf geht schließlich einigen von der Chronologie der Gliederung losgelösten Fragen zur spezifisch Wagnerschen Herrschaftstechnik nach.

Durch ihre fundierte und detailorientierte Arbeit kann die Verfasserin etliche Einzelfragen klären, offene Debatten aufzeigen sowie Denken und Selbstverständnis Adolf Wagners selbst anhand scheinbar sekundärer Einzelheiten darlegen. Dies ist ihr hoch anzurechnen. Es gelingt ihr, Adolf Wagners individuelle Biografie und Weltsicht mit seiner konkreten Politik zu verbinden. Ersichtlich wird so (vor allem bei Wirtschafts- und Kulturfragen) ein politisch motivierter Schrittmacher, der eigene Akzente zu setzen vermochte. Seine Möglichkeiten lotete er stets aus und versuchte sie zu erweitern. Er verließ sich nicht auf die einmal errungene Position. Gerade bei der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der deutschen Juden, der bayerischen Kunstpolitik und der Effizienzsteigerung der Kriegsvorbereitungen wird dies nachhaltig deutlich. Die Studie ist ein Gewinn für die Betrachtung der Interdependenz der Auswirkungen und Rückkopplungen zentraler und regionaler NS-Politik.

Im Wesentlichen gibt es lediglich ein größeres Manko an der Studie: Die Einordnung in das Korps der Gauleiter kommt viel zu kurz. Gerade der Vergleich mit anderen Gauleitern hätte weitere zum Verständnis von NS-Herrschaft und NS-System relevante Erkenntnisse erbracht. Speziell die einflussreichsten Gauleiter hätten sich hier als Vergleichsfolien angeboten. Doch Gauleiter wie Josef Bürckel, Karl Kaufmann, Martin Mutschmann oder Carl Röver werden allenfalls kurz erwähnt, obwohl der Forschungsstand Anderes hergegeben hätte. Selbst der Leiter des benachbarten Gaus Schwaben, Karl Wahl, findet keine Berücksichtigung. Dabei versuchte Adolf Wagner über Jahre dessen Gau zu übernehmen. Gauleiter mit zusätzlichen machtvollen reichsweiten Funktionen wie Joseph Goebbels oder Fritz Sauckel finden zwar Beachtung, aber eben kaum als Gauleiter, sondern zumeist in ihren anderen Funktionen. Dabei war es gerade das Amt des Gauleiters, das ihnen wie auch Adolf Wagner als Machtbasis für alle anderen politischen Ämter diente.

Abgesehen davon ist Brigitte Zuber aber eine hervorragende Studie und Gauleiterbiografie gelungen, die für die Gauleiterforschung künftig unverzichtbar ist. Der Detailgrad ist erfreulich, das Taktieren und Vorgehen Adolf Wagners werden deutlich nachgezeichnet, offene Fragen werden präsentiert. Für das Voranschreiten der Gauleiterforschung wäre es wünschenswert, wenn dadurch die Untersuchung weiterer Gauleiter angeregt würde.

Anmerkung:
1 So sind in den letzten zehn Jahren umfangreiche biografische Studien zu den Gauleitern von Hamburg (Karl Kaufmann), Oberschlesien (Fritz Bracht), Köln-Aachen (Josef Grohé) und Mecklenburg (Friedrich Hildebrandt) erschienen. Weitere Gauleiter wie Josef Goebbels, Fritz Sauckel oder Julius Streicher wurden primär mit Blick auf ihre reichsweiten Tätigkeiten erforscht, aber auch ihre Gauleiterämter wurden hierbei ausführlich betrachtet. Sieht in entsprechender Reihenfolge: Daniel Meis, Karl Kaufmann (1900–1969) und die Ideologie des Nationalsozialismus, Baden-Baden 2023; Daniel Meis, Hamburgs „Führer“ Karl Kaufmann (1900–1969). Ein Leben zwischen Macht, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Krankheit, Darmstadt 2022; Mirosław Węcki, Fritz Bracht – Gauleiter von Oberschlesien. Biographie, Paderborn 2021; Daniel Meis, Josef Grohé (1902–1987) – ein politisches Leben?, Berlin 2020; Ralf Salomon, Friedrich Hildebrandt. NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter in Mecklenburg. Sozialrevolutionär und Kriegsverbrecher, Bremen 2017; Ralf Georg Reuth, Goebbels. Eine Biographie, München 2021; Swantje Greve, Das „System Sauckel“. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine. 1942–1945, Göttingen 2019; Ranco Ruault, Tödliche Maskeraden. Julius Streicher und die „Lösung der Judenfrage“, Frankfurt am Main 2015; Daniel Roos, Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923–1945, Paderborn 2014; Lothar Wettstein, Josef Bürckel. Gauleiter, Reichsstatthalter, Krisenmanager Adolf Hitlers, Norderstedt 2013.

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