Titel
Home after Fascism. Italian and German Jews after the Holocaust


Autor(en)
Koch, Anna
Reihe
The Modern Jewish Experience
Erschienen
Bloomington, Indiana 2023: Indiana University Press
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
$ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Katharina Lill, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Das Zuhause ist ein zentrales Moment menschlicher Existenz. Es stellt daher einen faszinierenden, angesichts seines Facettenreichtums aber auch sehr anspruchsvollen Untersuchungsgegenstand dar. Anna Koch nimmt diese Herausforderung an und zeichnet kenntnisreich ein Panorama jüdischer Lebenswelten und Selbstverständnisse in den beiden deutschen Staaten und Italien nach der Shoah. Die Dissertation fragt nach der Bedeutung von Zuhause für jene Menschen, die dieses durch Ausschluss, Entrechtung und Raub verloren hatten und nun in ihre Herkunftsländer oder sogar -orte zurückkehrten. Obwohl Koch keine dezidiert emotionsgeschichtliche Arbeit verfassen will, stellen Gefühle ein wichtiges Element ihrer Untersuchung dar. Dabei interessieren die Autorin Emotionspraktiken in erster Linie als Ausdruck von Nähe und Distanz gegenüber bestimmten Gemeinschaften. Als Vergleich konzipiert, kann die Studie den jeweiligen Einfluss des nationalen Kontexts darauf verdeutlichen, ob und inwiefern sich Jüdinnen und Juden nach 1945 in der Bundesrepublik, der DDR und in Italien zuhause fühlten.

Die Monographie gliedert sich in vier Kapitel, die jeweils einem zentralen Aspekt für das Verhältnis als jüdisch verfolgter Personen zum Zuhause gewidmet sind. In „Returning Home?“ beleuchtet Koch, wie diese aus dem Exil, dem Lager oder dem Versteck nach Hause zurückkamen. Während eine solche Rückkehr für viele der betroffenen Italienerinnen und Italiener eine Selbstverständlichkeit darstellte, war sie für aus Deutschland stammende Jüdinnen und Juden angesichts der internationalen Ablehnung eines Wiederaufbaus jüdischen Lebens in beiden deutschen Staaten in höchstem Maße legitimationsbedürftig. Indem Koch die sich neu formierenden jüdischen Gemeinschaften im Anschluss an Barbara Rosenwein als „emotional communities“ versteht, kann sie zeigen, wie diese sowohl in der frühen Bundesrepublik als auch in der DDR im Gegensatz zu ihren italienischen Pendants eine patriotisch-affektive Hinwendung zum Heimatland tabuisierten und emotionale Distanz wahrten.

Das zweite Kapitel bietet einen Überblick zur frühen Auseinandersetzung mit der Shoah und berührt damit das bereits intensiv beforschte Feld der Erinnerung. Entsprechend begegnet Leserinnen und Lesern hier viel Bekanntes, wobei gelegentlich erstaunt, dass die Autorin ihre Darstellung nur selten auf die einschlägige Literatur stützt und stattdessen, wie im übrigen Buch, primär aus Quellen zitiert. Die individuellen Narrative der Vergangenheit, so das Argument, hingen nicht nur von persönlichen Erfahrungen, der unterschiedlichen Rolle der Länder im Krieg sowie den jeweiligen Erinnerungskulturen ab; vielmehr formten sich eigene Erinnerungsgemeinschaften. Während der Mythos der „Brava Gente“ – des von Natur aus anständigen und an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges unschuldigen italienischen Volkes – für jüdische wie nichtjüdische Italienerinnen und Italiener anschlussfähig war und daher eine integrative Wirkung entfaltete, verhinderten gänzlich unterschiedliche Auffassungen des Geschehenen in der BRD eine Wiederannäherung. In der DDR eröffnete das Narrativ des antifaschistischen Widerstands gewisse Möglichkeiten, die jüdische Erfahrung im Rahmen eines universalen Rassismus zu thematisieren, und bot damit insbesondere jüdischen Kommunistinnen und Kommunisten Identifikationschancen.

In einem dritten Schritt widmet sich Koch Phänomenen, die sie als Versuche der Wiederaneignung des früheren Zuhauses begreift. Unter dem Titel „Reclaiming Home“ geht sie etwa auf den Wunsch nach Rache ein, auf die Strafverfolgung von Täterinnen und Tätern, den Kampf gegen den Antisemitismus oder die Restitution. Ein Engagement in dieser Hinsicht konnte erfolgreich sein und den Wunsch verstärken, am Aufbau eines neuen Deutschlands mitzuwirken, aber auch bittere Enttäuschung nach sich ziehen. National spezifisch seien jeweils die Gründe sich einstellender Ernüchterung gewesen: In der Bundesrepublik und der DDR war dies der nicht oder nicht konsequent genug vollzogene Bruch mit dem Nationalsozialismus, in Italien hingegen ein nicht erfülltes Versprechen der Rückkehr in eine idealisierte, präfaschistische Vergangenheit.

Ein letztes Kapitel fragt schließlich nach dem Verhältnis von jüdischer und nationaler Zugehörigkeit. Während sich italienische Jüdinnen und Juden primär als Italienerinnen und Italiener verstanden, in jedem Fall aber beide Identitätsmarker nicht als Widerspruch betrachteten, blieben jüdische Menschen in Deutschland auf Distanz zur Nation und fühlten sich von dieser nachhaltig entfremdet. Um ihre dennoch existierenden affektiven Bindungen konzeptionell zu fassen, schlägt Koch vor, von „niches of belonging“ zu sprechen. Als solche bezeichnet sie kleinere Gruppen, Regionen oder bestimmte kulturelle Aspekte wie Sprache und Bräuche, denen gegenüber auch Jüdinnen und Juden in Deutschland weiterhin Zugehörigkeitsgefühle entwickeln konnten.

Die Arbeit eröffnet eine neue Perspektive auf bereits viel beforschte Felder. Während jüdische Konstruktionen von Zuhause im europäischen Nachkrieg bisher allenfalls am Rande Beachtung fanden1, fokussieren die vier Analysekapitel Themenkomplexe, die für sich genommen bereits zum Gegenstand diverser Studien über jüdisches Leben nach der Shoah insbesondere in Deutschland geworden sind.2 Der von Koch äußerst weit gefasste Begriff „Home“ ermöglicht es ihr, hierzu etwas Neues zu sagen, indem sie sein integratives Potential nutzt und die Bedeutung der verschiedenen Einzelaspekte für die Selbstverortung der historischen Akteurinnen und Akteure zusammenführt. Auch mit der durchgängigen Berücksichtigung des Emotionalen beschreitet sie neue Wege. Innovativ und erkenntnisreich ist schließlich gerade der Vergleich der drei postfaschistischen Staaten, durch den der Einfluss des jeweiligen nationalen Rahmens auf die Ausprägung des Zuhause-Gefühls deutlich hervortritt.

Die sehr breite Anlage der Untersuchung bedingt jedoch zugleich auch ihre wesentlichen Schwachstellen. So enthält sich Koch von vornherein des Versuchs, den Begriff „Home“ näher zu definieren, der im Deutschen sowohl das „Zuhause“ als auch die „Heimat“ – letzteres ist der in der Forschung deutlich verbreitetere Themenkomplex – bezeichnen kann (S. 9). Dies zieht eine Weitläufigkeit nach sich, die zwar einen guten Überblick relevanter Aspekte ermöglicht und das lebensweltliche Eingebundensein der Akteurinnen und Akteure ernstnimmt, stellenweise aber auch zu Oberflächlichkeiten führt. Obwohl die Breite von Kochs Kenntnissen und der zu Rate gezogenen Literatur durchaus beeindrucken, zeigen sich an einigen Stellen verkürzte Darstellungen. So führt sie zum Beispiel an, dass die Rückerstattungsgesetzgebung den Prozess der Restitution in Westdeutschland eher behindert als beschleunigt habe (S. 127f.). Dabei versäumt sie, zwischen Soforthilfemaßnahmen und gesetzlicher Rückerstattung zu unterscheiden, die in der Regel eine Rückgabe überhaupt erst ermöglichte. An anderer Stelle wiederum skizziert Koch die Entnazifizierung etwas undifferenziert als gänzlich gescheitertes Projekt (S. 135). Dass die Dissertation eher an die Historiographie zum Heimatbegriff im deutsch-jüdischen Kontext anschließt und mit einem recht abstrakten Verständnis von „Home“ arbeitet, verdeutlicht schließlich der Umstand, dass das Materielle in der Arbeit kaum eine Rolle spielt und lediglich in Passagen über die Rückkehr zum Elternhaus oder zur Restitution in Erscheinung tritt. Dies überrascht insofern, als es derzeit vor allem die an Materieller Kultur interessierte Forschung ist, die explizit mit den Begriffen „Home“ bzw. „Zuhause“ operiert.3

Eine Würdigung der Dissertation wäre unvollständig ohne den Hinweis auf ihren enormen Quellenreichtum. Koch zog Archivmaterialien aus Deutschland, Italien, Israel und den USA heran, sie konsultierte Periodika sowie eine große Zahl an Tagebüchern und Memoiren. Generell bilden Ego-Dokumente das Fundament ihrer Analyse. Eindrücklich ist zudem die hohe Textqualität. Der Autorin gelingt es, ihre Argumente in großer Klarheit vorzubringen, was insbesondere der vorbildlichen Strukturierung geschuldet ist. Zugleich bewegt sie sich auf einem hohen narrativen Niveau und gewährleistet die Lebendigkeit ihrer Erzählung durch zahlreiche Belegstellen und Beispiele.

Anna Koch leistet mit „Home after Fascism“ einen anregenden Beitrag zur Nachgeschichte der Shoah in den Nachfolgestaaten der beiden wichtigsten Repräsentanten des europäischen Faschismus. Trotz einiger Schwachstellen, die vor allem in der Natur des zum Ausufern einladenden Themas begründet liegen, kann sie zeigen, wie sich italienische Jüdinnen und Juden mittels des Brava Gente-Mythos vergleichsweise unkompliziert mit ihrer Nation identifizieren und entsprechend warme Gefühle gegenüber ihrem Zuhause zeigen konnten. In der DDR entfaltete vor allem ein antifaschistisches und kommunistisches Selbstverständnis eine integrative Wirkung. Jüdinnen und Juden in der jungen Bundesrepublik indes sahen sich Emotionsnormen gegenüber, die Zugehörigkeitsgefühle zum Land der Täter tabuisierten, sodass sich ein Empfinden von Vertrautheit und Zuhause zunächst nur in Nischenbereichen einstellen konnte.

Anmerkungen:
1 Am ausführlichsten bisher wohl: Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, München 2007.
2 Vgl. Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland. Von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012; Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach der Shoah. Neubeginn – Konsolidierung – Ausgrenzung, Köln 2018; Irmela von der Lühe / Axel Schildt / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause“. Jüdische Remigration nach 1945, Göttingen 2008.
3 Vgl. Hans Peter Hahn (Hrsg.), Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration, Frankfurt am Main 2019; Shannon Fogg, Stealing Home. Looting, Restitution, and Reconstructing Jewish Lives in France, 1942–1947, Oxford 2017.