J. Lütt: Das moderne Indien 1498 bis 2004

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Titel
Das moderne Indien 1498 bis 2004.


Autor(en)
Lütt, Jürgen
Reihe
Oldenbourg Grundriss der Geschichte 40
Erschienen
München 2012: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Das moderne Indien, 1498-2004“ aus der Feder des 2005 emeritierten Südasienhistoriker Jürgen Lütt ist ein streitbares Buch. Erschienen ist es in der renommierten Oldenbourg Reihe „Grundrisse der Geschichte“ und soll offensichtlich die Annäherung an „Indien“, womit Südasien gemeint ist, fortsetzen, die mit dem Band von Hermann Kulke über die „Geschichte Indiens bis 1750“ im Jahr 2005 begonnen wurde.

Als erstes sticht die sich überschneidende Periodisierung ins Auge und wirft die Frage auf, ob in der Geschichte des Subkontinents 1750 eine Zäsur markiert oder 1500 bzw. welche Argumente für das eine oder andere sprechen? Kulke führt ökonomische, gesellschaftliche und politische Gründe für seine Periodengrenze an und nimmt damit eine innerindische Warte ein. Bei Lütt scheinen dagegen ideologische Konzepte wie die europäische Modernisierung entscheidend für die Zäsursetzung zu sein. Denn das Jahr 1498 als Epochenschnitt steht bekanntlich in erster Linie für den Moment, in dem die Portugiesen, sprich Vasco da Gama, südasiatischen Boden betraten, nachdem sie das Arabische Meer mit Hilfe eines einheimischen Lotsen überquert und bis nach Südasien gesegelt waren. Nach Ansicht Lütts war das ein Schritt, der Indien in die Geschichte der Menschheit zurückholte, so als hätte das Land vorher keine Entwicklung gesehen und keine Geschichte gehabt (vgl. S. 147, v.a. S. 128).

Erstaunlich ist auch die Datierung des Endes seiner Beschreibung, das Jahr 2004. Schließlich steht es für das Ende der von der Hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) seit 1998 geführten Koalitionsregierungen der Indischen Union. Zum einen reduziert Lütt „Indien“ auf den Nationalstaat der Indischen Union, womit er sich freilich in bester postkolonialer Tradition befindet. Zum Anderen scheint die BJP für die konsequente Modernisierung des indischen Staates, seiner Wirtschaft und seiner Gesellschaft zu stehen, setzt die BJP doch folgerichtig um, was mit den Portugiesen begann, was mit den Briten als Kolonialmacht seine Fortsetzung fand und was schließlich mit der so genannten „Bengal Renaissance“ in den 1820er-Jahren einen ersten Höhepunkt erreichte. Der bestand angeblich in der Reform des Hinduismus oder dessen was als solcher verstanden wurde. Dezidiert vertritt Lütt die Meinung, die Reformbestrebungen seien ohne die britische Eroberung nicht denkbar gewesen (S. 162). Die BJP steht nach Lütt für einen säkularisierten Hinduismus, dessen Werte durch sie politikfähig gemacht wurden und der daher Indien in die Moderne nach europäischem Vorbild tragen kann (S. 189-193).

Folgerichtig ist dem Autor nach die moderne, also neuere Geschichte „Indiens“ die Geschichte der Begegnung mit den Europäern. Die Portugiesen und die katholische Kirche machen den Anfang, gefolgt von den europäischen Handelsgesellschaften, insbesondere die der Dänen, der Holländer und der Engländer, wobei Lütt auch die Deutschen am Werke sieht. Die Etablierung der Kolonialmächte, allen voran der East India Company führt er letztlich auf die Überlegenheit europäischer Waffentechnik zurück. Kern der Modernisierung sei „Die Öffnung Indiens“ gewesen, der ein eigener Abschnitt gewidmet ist (S. 30-35), getragen vom britischen Utilitarismus, den radikal-reformerischen Ideen der englischen Evangelikalen sowie dem wirtschaftlichen Liberalismus. Nur mit Hilfe dieses Anstoßes von Außen waren, so Lütt, die verkrusteten Strukturen von Land und Leuten aufzubrechen und Indien letztlich an die Weltgemeinschaft heranzuführen. Indien, so scheint es, besaß nach Lütt vor 1498 nicht nur ein geringes historisches Bewusstsein, geschweige denn eine eigene Geschichtsschreibung, sondern sei auch nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu reformieren, weshalb die Gesellschaft statisch blieb und ohne europäischen Kolonialismus noch immer ein rückständiges Land wäre (siehe S. 30-35).

Überhaupt stellt er den Studierenden in dem Teil „Darstellung“ – immerhin handelt es sich um eine Studieneinführung – als die Kernfrage der indischen Geschichte den Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Moderne vor. Dies ist nicht unproblematisch.

Der Forschungsstand, Teil 2 des Bandes, ist über Strecken einseitig und reduziert wiedergegeben. Die Debatten der vergangenen Jahre erscheinen bei Lütt als eine Auseinandersetzung um die seiner Meinung nach krude Ausbeutungsthese marxistischer Lesart einerseits und einer behutsamen Modernisierung nach liberalem Gesellschaftsentwurf andererseits (S. 1-2). Das verkürzt nicht nur, sondern ist umso problematischer, als der Band damit dem Anspruch der Reihe nicht gerecht wird, den Forschungsstand ausführlich zu besprechen (Vorwort). Bei Lütt erfährt man hingegen in extenso die Position der so genannten Cambridge School aus den 1960er- und 1970er-Jahren, der die marxistische Position gegenübergestellt ist. Deutlich wird diese Polarisierung unter anderem in der Passage zur „Bilanz der Kolonialherrschaft“ (S. 178-187). Als Essenz der „kritischen Position“ (S. 178) wird das Buch von Mike Davis1 vorgestellt, dem gegenüber die gemäßigte Position Deepak Lals2 steht.

Davis macht in der britischen Kolonialherrschaft einen einzigen und einzigartigen Niedergang der südasiatischen Gesellschaften aus. Dieses Bild der Marxisten, zu denen Davis sich selbst zählt, sei nach Lütt inzwischen weltweit geradezu kanonisch geworden (S. 181). „Die liberale Position“ (so die Zwischenüberschrift S. 182) vertritt besagter Deepak Lal mit seiner These vom Hindu Equilibrium. Zwischen dem 6. Jahrhundert und 1991 habe es zwar keine „Stagnation“ der indischen Wirtschaft und Gesellschaft gegeben, wie Lütt Lal referiert, sondern vielmehr eine gleichgewichtige „Stabilität“ geherrscht, gewährleistet durch das Kastensystem und die Dorfgemeinschaft. Erst mit der so genannten „Liberalisierung“, der wirtschaftlichen Öffnung der Indischen Union im Jahr 1991, habe eine jahrtausendealte Struktur ihr Ende gefunden (S. 183). Beide Schriften und Argumentationen vorzustellen ist natürlich wichtig, aber zugleich hätte man sich eine Historisierung gewünscht, denn beide Autoren führen eine Auseinandersetzung aus der Zeit des Kalten Krieges fort.

Gravierender ist, dass in dem Band Lütts die Vielfalt momentaner Forschungen und Forschungstrends untergeht. Themen wie Arbeitsgeschichte, Umweltgeschichte, Sozialgeschichte und Staatsformierung, die in den letzten zwei Jahrzehnten prominent in der Debatte zu Südasien sind, werden nicht oder kaum dargestellt. Überdies hat die Darstellung des Forschungsstands einige Fehlstellen, die selbst mit dem Verweis auf die gebotene Kürze und die notwendige Auswahl von Kernaspekten meines Erachtens nicht zu rechtfertigen sind. Etwa, dass die Portugiesen und die christlich-katholische Mission thematisiert sind, nicht aber die protestantische Mission, die weitaus größere Wirkungen zeitigte als die katholische. Gerade auf diesem Feld sind in den letzten zwanzig Jahren eine Reihe von maßgeblichen Publikationen erschienen.3 Aber auch, dass die neuesten Publikationen zur Historiografie Südasiens nicht berücksichtigt werden.4

Die Herausgeber der Reihe hatten die Grundrisse seinerzeit mit der Feststellung initiiert, „dass dem nacharbeitenden Historiker, insbesondere dem Studenten und Lehrer, ein Hilfsmittel fehlt, das ihn unmittelbar an die Forschungsprobleme heranführt.“ (Vorwort) Dem nachzukommen, leistet das Buch nur bedingt. Wer die Forschung kennt, wird die Tradition, aus der Autor kommt, erkennen und einordnen können. Studierenden wird dies wohl nur in Begleitung möglich sein, gerade weil sich der Verlauf der historiographischen Debatten nicht erschließt. Und auch der fortgeschrittene Historiker, der nicht zu Südasien arbeitet, wird die Position der beschriebenen Literatur nicht oder nur schwer entschlüsseln können. Für mich zeugt Lütts Buch von einer Indien-Forschung, die in weiten Teilen überholt ist. Liest man es als einen Einstieg in frühere Ansätze und Sichtweisen in der Wiedergabe einer der Akteure, ist es eindrücklich. Als Einführung in laufende Debatten scheint es mir nicht geeignet.

Anmerkungen:
1 Mike Davis, Late Victorian Holocausts. El Nino Famines and the Making of the Third World, London 2001; dt Ausgabe: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin 2005.
2 Deepak Lal, The Hindu Equilibrium. India c. 1500 BC – AD 2000, Oxford 2005.
3 U. a. Daniel Jayaraj, Inkulturation in Tranquebar. Der Beitrag der frühen dänisch-halleschen Mission zum Werden einer indisch-einheimischen Kirche (1706-1730), Erlangen 1995; Robert Eric Frykenberg, Christians and Missionaries. Cross-Cultural Communication since 1500, Cambridge 2003; Will Sweetman, Mapping Hinduism. ‚Hinduism‘ and the Study of Indian Religions, 1600-1776, Halle 2003; Andreas Gross / Y. Vincent Kumaradoss / Heike Liebau (Hrsg.), Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India, 3 Bde., Halle 2006; Michael Mann, Europäische Aufklärung und protestantische Mission in Indien, Heidelberg 2006; ders., Aufgeklärter Geist und evangelische Missionen in Indien, Heidelberg 2008; Heike Liebau / Andreas Nehring / Brigitte Klosterberg (Hrsg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert, Halle 2010.
4 Daud Ali (Hrsg.), Invoking the Past. The Uses of History in South Asia, Oxford 1999; Vinay Lal, The History of History. Politics and Scholarship in Modern India, Oxford 2003; Michael Mann, Sinnvolle Geschichte. Historische Repräsentationen im neuzeitlichen Südasien, Heidelberg 2009.