B. Schär u.a. (Hrsg.): Antiziganismus in der Schweiz und in Europa

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Titel
Antiziganismus in der Schweiz und in Europa. Geschichte, Kontinuitäten und Reflexionen


Herausgeber
Schär, Bernard C.; Ziegler, Béatrice
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Karola Fings, NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln

Der Sammelband geht auf die Tagung „Zur Lage der Roma und anderer ehemals als ‚Zigeuner’ diskriminierter Gruppen in Europa. Perspektiven der Forschung – Impulse für den Geschichtsunterricht“ zurück, die im Januar 2013 am Zentrum für Demokratie in Aarau stattfand. Anlass für diese Tagung waren, so Bernhard C. Schär und Béatrice Ziegler in ihrer Einleitung, die aktuelle, überwiegend negative Berichterstattung über Roma in der Schweiz und in Europa, gegen die Minderheit erlassene Sondergesetze sowie Diskriminierungen und pogromartige Vertreibungen bis hin zu offener Gewalt mit Todesfolgen. Auch die im Vergleich zum Durchschnitt der übrigen europäischen Bevölkerung durchweg schlechtere Lage von Roma – etwa in Bezug auf Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung – werden als Motivation genannt. Ansatz der Tagung war es, Antiziganismus als ein Problem der europäischen Mehrheitsgesellschaften zu thematisieren, seine historischen Wurzeln und seine „radikalisierteste Variante“ – den nationalsozialistischen Genozid – zu betrachten sowie die Gründe und Ausdrucksformen seines Fortbestehens und Gegenstrategien zu erörtern.

Der Band ist eine Dokumentation dieser Tagung. Der Titel „Antiziganismus in der Schweiz und in Europa“ weckt hingegen Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Nur in der Einleitung findet sich eine knappe Definition von Antiziganismus: als einer gegen die Minderheit gerichteten Form von Rassismus, die diese anhand von religiösen, kulturellen oder biologischen Kriterien als „Fremde“ markiere, in romantisch verklärender oder auch repressiv verzerrender Weise darstelle sowie die Politik gegenüber der Gruppe maßgeblich präge (S. 10f.). Eine Auseinandersetzung mit dem in den letzten zwanzig Jahren an Bedeutung gewinnenden, freilich bis heute nicht unumstrittenen Begriff fehlt ebenso wie eine Reflektion darüber, ob und inwiefern Antiziganismusforschung das Verständnis über Motivation, Praktiken und Auswirkungen von Essentialisierung, Stigmatisierung und Exklusion von Roma-Minderheiten befördern kann. So stehen auch die Beiträge in den drei Kapiteln „Geschichte“, „Kontinuitäten“ und „Reflexionen“ eher nebeneinander, als dass sie sich mit einer übergeordneten Fragestellung befassten. „Antiziganismus“ wird nicht auf sein Potenzial als Analysekategorie geprüft, oftmals kommt noch nicht einmal der Begriff vor.

Der Beitrag der Trierer Germanistin Iulia-Karin Patrut (S. 25–37) ist einer der wenigen des Bandes, der die Möglichkeiten kritisch reflektierender Antiziganismusforschung aufzeigt. Patrut wendet sich den Argumentationsmustern, Praktiken und Institutionen zu, die den Ausschluss der als „Zigeuner“ Stigmatisierten vollzogen oder vorantrieben. Dabei untersucht sie am Beispiel von Texten, die den Wissensdiskurs in Europa über „Zigeuner“ prägten, die Persistenz des Ausschlusses und die Semantiken langer Dauer. Der Zuschreibung von Areligiösität in der Frühen Neuzeit folgte im 17. Jahrhundert die Unterstellung von sozialer Devianz – Zuschreibungen, die immer wieder aktualisiert und verändert wurden. Ende des 18. Jahrhunderts trat als dritte exkludierende Semantik Ethnizität hinzu. Den Ausschluss von „Zigeunern“ analysiert sie im Zusammenhang mit „der Arbeit am mehrheitsgesellschaftlichen Selbstentwurf“; „Zigeuner“ galten als „Gegenfolie der Positivwerte gängiger gesellschaftlicher Selbstzuschreibungen“ (S. 34).

Zwei Beiträge widmen sich der Geschichte der schweizerischen „Zigeunerpolitik“. Für Schlagzeilen sorgte vor einigen Jahren der Befund, dass Sinti und Roma, die sich vor nationalsozialistischer Verfolgung in die Schweiz zu retten versuchten, an der Grenze abgewiesen und damit dem NS-Machtapparat ausgeliefert wurden. Noch mehr Aufmerksamkeit erregte der Skandal um das „Hilfswerk Kinder der Landstraße“ der Schweizer Stiftung „Pro Juventute“, die sich die Bekämpfung der „fahrenden Lebensweise“ zur Aufgabe gemacht hatte und von 1926 bis 1973 586 Kinder aus der Gruppe der Jenischen ihren Eltern wegnahm und sie „fremdplatzierte“.1 Wenn in der Schweiz über „Zigeuner“ diskutiert wurde, dann bezog sich dies bis in die 1980er-Jahre hinein fast ausschließlich auf „Jenische“. Dabei handelt es sich um eine Bevölkerungsgruppe, die nicht Romanes, sondern eine eigene Sprache spricht, und die nach dem Selbstverständnis heutiger Repräsentanten eine sich im Mittelalter aus vagierenden Bevölkerungsgruppen herausbildende eigene „Ethnie“ darstellt. Ein Manko des Bandes ist, dass in die Geschichte und Selbstverortung dieser Gruppe nicht eingeführt wird.

Der Historiker Thomas Meier skizziert vier Phasen schweizerischer „Zigeunerpolitik“: Mit der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 wurde die Erfassung und Einbürgerung heimischer „Zigeuner“ zusammen mit der „Bekämpfung der fahrenden Lebensweise“ vorangetrieben. Dann setzten sich vor allem die Grenzkantone für eine Schließung des Landes für „ausländische Zigeuner“ ein, was zwischen 1906 und 1972 zu einem Einreiseverbot für „Zigeuner“ sowie zu Ausweisungen aus Schweizer Hoheitsgebiet führte. Als dritte Phase beschreibt Meier die sozialpolitisch gegen Einheimische gerichtete, von 1926 bis 1973 andauernde Praxis der Kindeswegnahme. In der schließlich erfolgreichen öffentlichen Kritik an der privaten, aber von staatlichen Stellen finanzierten Organisation sieht Meier den Beginn einer neuen Entwicklung schweizerischer „Zigeunerpolitik“, bei der den „Fahrenden und Jenischen“ und ihren Selbstorganisationen mit Empathie begegnet worden sei, was letztlich zur Anerkennung der „Fahrenden“ als nationale Minderheit (1998) und dem Jenischen als Sondersprache geführt habe.

Bei Thomas Huonker, Historiker und Lehrer, stehen ebenfalls die Jenischen im Mittelpunkt, auch wenn der Titel seines Beitrages eine „Geschichte der Anerkennung von Roma, Sinti und Jenischen als Opfergruppen des Holocaust sowie als Volksgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ verspricht. Schon die suggestive Verbindung von „Jenischen“ als „Opfer des Holocaust“ lässt ahnen, dass der Beitrag eine analytische Trennschärfe vermissen lässt. Zwar bemüht sich Huonker einleitend um eine Definition der drei Gruppen, doch zeichnet er weder die komplexen Anerkennungspolitiken von Roma als NS-Opfer in den genannten Ländern überzeugend nach, noch setzt er sich mit der Frage auseinander, welche historisch-politischen Bedeutungen die teils erreichten, teils erstrebten staatlichen Anerkennungen von Sinti, Roma, Jenischen als nationale Minderheiten haben.

Mehrere Beiträge widmen sich der Repräsentation von Roma in Printmedien. Der Politikwissenschaftler Markus End, der in seinen Arbeiten über die „Struktur und Funktionsweise des modernen Antiziganismus“ wie kaum ein anderer die theoretische Verortung dieses Neologismus vorangetrieben hat, ist in dem Band leider nur mit einer Mikrostudie vertreten.2 Er untersucht Antiziganismus am Beispiel der Berichterstattung über „Roma“ im Occupy-Camp in Frankfurt am Main im Jahr 2012. Er fand annähernd 60 Artikel und Pressemitteilungen, in denen zwischen April und August 2012 über „Roma“ berichtet wurde. „Roma“ steht nach seiner Analyse als eine „Metapher für sozial unerwünschte Zustände wie Schmutz, Betteln und Verwahrlosung“ (S. 107), die erst dadurch verständlich werde, dass die Rezipienten und Rezipientinnen über ein spezifisches kulturelles „Wissen“ verfügten. Die Historikerin Nicole Horákova betont in ihrer Untersuchung über die Berichterstattung in der tschechischen Presse die Bedeutung der Zeitungsberichte für die öffentliche Meinungsbildung.

Instruktiv ist der Beitrag des Soziologen Jean-Pierre Tabin, der die Ergebnisse einer Feldstudie präsentiert, in der die Presseberichterstattung mit einer Überprüfung der Wirklichkeit kontrastiert wird. Anlass war, dass die Westschweizer Presse zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu überging, Betteln zunehmend mit ethnischen Kriterien zu problematisieren. „Roma“ wurden dabei als eine „Gemeinschaft von Armen“ dargestellt, die sich durch vormoderne Verhaltens- und Lebensweisen auszeichneten, und kein Recht hätten, den öffentlichen nationalen Raum auf diese Weise zu nutzen. Quer durch alle politischen Lager wurde über bandenmäßig organisierte, berufsmäßige Bettler und den Missbrauch von Kindern für das Betteln geklagt. Die Studie ergab, dass diese Zuschreibungen mit der Realität nicht übereinstimmten: Weder ließ sich das Betteln als ein spezifisches „Problem“ von Roma verifizieren, noch konnten mafiöse Strukturen, der Einsatz von Kindern oder ein mit Betteln zusammenhängender Anstieg von Kriminalität festgestellt werden.

Zu der Tagung waren zwei Repräsentanten von Jenischen und Roma eingeladen, um die Forschungen von Nicht-Roma („Gadze“) zu „spiegeln“. Venanz Nobel, jenischer Schriftsteller, Journalist und Historiker, sowie Stéphane Laederich, Mathematiker und Direktor der Schweizer „Rroma Foundation“, problematisieren jeweils verschiedene Aspekte, die auf grundsätzliche Forschungsprobleme im Themenfeld hinweisen, für die auch dieser Sammelband steht. Ein zentrales ist dabei die Benennung der Minderheiten, die immer die Gefahr einer Essentialisierung und Homogenisierung in sich birgt. „Roma“, so Venanz Nobel, sei zwar als „Dachlabel“ geeignet gewesen, um die Repräsentanz in internationalen Gremien zu stärken, doch dadurch würde die Vielzahl der Gruppen „in einen Topf geworfen“. Auch Stéphane Laederich kritisiert „unsinnige Bezeichnungen“ wie „Roma, Sinti und Jenische“ (S. 95). Im Diskurs um die „richtige“ Bezeichnung werden Gruppenidentitäten ebenso verhandelt wie die im Band kaum ausgelotete Wechselwirkung von Fremd- und Selbstwahrnehmung. Nobel geht dabei mit Blick auf die Diskussion um die Kinderbücher von Otfried Preussler sogar so weit, eine „erneute Auslöschung unserer Volksgruppen“ (S. 22) an die Wand zu malen, falls die Figur des „Zigeuner“ aus Kinderbüchern gestrichen werde.

Über wen gesprochen wird, wenn von „Roma“ die Rede ist, das beantworten die Autorinnen und Autoren des Bandes unterschiedlich. Das meist herangezogene Kriterium der Sprache taugt nicht, wenn Menschen ihrem Selbstverständnis nach Roma sind, das Romanes aber nicht (mehr) sprechen. Nicht problematisiert wird der häufig verwendete Begriff „fahrend“ (oder „nicht-sesshaft“), der als Signum von „Zigeunern“ unterstellt wird und der in der Minderheitenpolitik in der Schweiz von Bedeutung ist. Laederich und Huonker betonen, dass Roma-Gruppen mit Ausnahme einer winzigen Minderheit nie „fahrend“ gewesen seien. Huonker stellt heraus, dass die überwiegende Mehrheit der in der Schweiz lebenden Roma wie auch die Jenischen „sesshaft“ seien. Wieso dennoch letztere um eine Anerkennung als „nicht-sesshafte Minderheit“ streiten, wird nicht erhellt.

Wie eingangs kritisiert wird, fehlt eine zusammenfassende Reflektion über die mehrheitsgesellschaftliche Arbeit am Bild von „Roma“; einige Beiträge liefern indes Anregungen für eine vertiefende Beschäftigung damit. Forschende, so Laederich, griffen Elemente aus der Kultur der Roma heraus – etwa Konzepte der Ehre und Schande oder den Respekt vor Älteren – und konstruierten auf diese Weise das Bild einer „patriarchalen, archaischen Lebensweise von Familienclans“. Auch erforsche man nur die „Sichtbaren“, also diejenigen, die den gängigen Stereotypen entsprächen. Konflikte zwischen Selbstverortungen und Fremdzuschreibungen macht Anne-Seline Moser in ihrem Beitrag über junge Roma-Akademikerinnen in Ungarn aus. Bei den von ihr interviewten Frauen stieß sie auf eine „Diversivität der Selbstentwürfe“ und „multiple, kontextabhängige Identifikationen“ (S. 155). Diese Frauen grenzten sich nicht nur von homogenisierenden Zuschreibungen durch die Mehrheitsgesellschaft ab, sondern ebenso von homogenisierenden Konzepten einiger Roma-Organisationen. Angela Mattli problematisiert, dass Nichtregierungsorganisationen an der Konstruktion von Roma als „bedürftigem Subjekt“ beteiligt seien, indem sie die Situation von Roma als unterschiedslos dramatisch darstellten, um Spenden und Fördermittel zu erhalten.

Schär und Ziegler sprechen in ihrer Einleitung von einem „Vakuum an gesicherten sozialwissenschaftlichen Kenntnissen“ über Roma, das von polizeilich-medialen Zerrbildern gefüllt werde (S. 18). Sie weisen daher auf den großen Bedarf an archivbasierten, sozialhistorischen und empirischen Untersuchungen zur Geschichte und Gegenwart „insbesondere der großen ost- und zentraleuropäischen Roma-Gemeinschaften“ (S. 17) hin. Ebenso lässt sich auf das Vakuum hinweisen, das „Antiziganismus in Europa“ in seiner historischen Dimension nach wie vor darstellt.

Anmerkungen:
1 Thomas Meier, Von Menschen und Akten. Die Aktion „Kinder der Landstraße“ der Stiftung Pro Juventute, Zürich 2009.
2 Markus End, Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 22/23 (2011), S. 15–21; ders., Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/