V. Peters: Der "germanische" Code civil

Titel
Der "germanische" Code civil. Zur Wahrnehmung des Code civil in den Diskussionen der deutschen Öffentlichkeit


Autor(en)
Peters, Verena
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 95
Erschienen
Tübingen 2017: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XVI, 279 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Reimann, Universität Göteborg

Im Frühjahr 2018 widmete sich die ZEIT einer von Präsident Emmanuel Macron geplanten Änderung jenes Artikels des französischen Code civil, der in knappen Worten ein privatwirtschaftliches Unternehmen definiert. Macrons Reformvorhaben, so war zu lesen, führe erneut vor Augen, dass sich dieser junge Präsident gerne mit Napoleon vergleichen würde.1 Es lässt sich daran gut ablesen, welche überbordende Symbolik dem Code civil in Frankreich auch nach über 200 Jahren Geltungsgeschichte noch anhängt. Und so verwundert es auch nicht, dass das französische Zivilgesetzbuch von 1804 von Beginn an auch nach Deutschland hinübergewirkt hat. Dem Interesse, das dem Code civil innerhalb der deutschen juristischen Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert entgegen gebracht wurde, widmet sich nun Verena Peters in ihrer Kölner juristischen Dissertation. Die Rechtshistorikerin untersucht, wie im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs das Argument eines „germanischen“ Code civil entstand, wie es begründet wurde und wie es sich wandelte. Peters’ Fokus liegt dabei auf Stellungnahmen zum Code als Gesamtwerk, weniger zu einzelnen rechtlichen Regelungen. Daher ist ihre Studie auch für Historikerinnen und Historiker ohne juristische Vorbildung gut lesbar und bietet vielfältige Einsichten in die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses.

Im einleitenden Kapitel skizziert Peters Entstehungsbedingungen und Inhalt des Code civil, geht auf seine Geltung(sdauer) in Deutschland ein und stellt seine Symbolkraft innerhalb der französischen Gesellschaft heraus. Eingeführt in Frankreich im Jahre 1804 unter der Ägide Napoleons, war der Code civil seit 1807 im Zuge der napoleonischen Eroberungen auch geltendes Recht in Teilen Deutschlands. Nach 1813 wurde dies zumeist rückgängig gemacht, doch unter anderem im Rheinland und in Baden blieb der Code weiter in Kraft, bis 1900 im gesamten Deutschen Kaiserreich das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) eingeführt wurde.

Der Code civil war von seinen Autoren als ein Kompromiss angelegt. Er sollte die in Frankreich bis dahin bestehenden Rechtstraditionen, das römische Recht im Süden und das fränkische Gewohnheitsrecht im Norden (beide Rechtsbereiche waren selbstverständlich in sich heterogen) sowie einige rechtliche Errungenschaften der Revolution miteinander in Einklang bringen. In diesem Kompromisscharakter waren unterschiedliche Interpretationen bereits angelegt. Je nach politischer Konjunktur, gesellschaftlichem Klima, rechtspolitischem Interesse oder ideologischer Ausrichtung des Autors konnten die einen oder anderen Elemente des Codes als dessen „eigentliche“ ausgegeben und das Gesetzbuch damit entweder als „römisch“, „revolutionär“ oder in der deutschen Debatte als „germanisch“ deklariert werden.

Peters Untersuchung ist chronologisch aufgebaut; die acht Kapitel folgen den historischen Einschnitten im deutsch-französischen Verhältnis und betten die Debatten um den Code civil in ihren jeweiligen Kontext ein. Die Autorin erläutert, inwiefern die Annexion deutscher Einzelstaaten an Frankreich, die Befreiungskriege, die Gründung des Deutschen Kaiserreichs, die Einführung des BGB, der Erste Weltkrieg, die Friedenspolitik der 1920er-Jahre, der Nationalsozialismus sowie die deutsche Nachkriegspolitik die Einschätzung des Code civil in der deutschen Diskussion prägten.

Um diese Debatte nachzuzeichnen, verwendet Peters juristische Schriften unterschiedlicher Art sowie einige Beiträge von Historikern, die allesamt weniger danach ausgesucht wurden, wie prominent ihre Verfasser waren, sondern vielmehr danach, dass sie zumindest teilweise aufeinander Bezug nahmen. Diese Debattenbeiträge sollen im Sinne der historischen Diskursanalyse unter Berücksichtigung der sozialen Zusammenhänge und Machtverhältnisse unter den Autoren untersucht werden. Im Zuge der Darstellung, die zahlreiche juristische Kommentatoren aufführt, erfährt die Rezensentin jedoch nur bei einigen etwas über ihren soziopolitischen oder akademischen Hintergrund; weder die Biographien der Akteure noch die zeitgenössischen wissenschaftspolitischen Verhältnisse stehen – legitimer Weise – im Fokus der Untersuchung. Daher wäre es ratsam gewesen, auf den komplexen Foucaultschen Diskursbegriff zu verzichten und schlichtweg von einer Debatte innerhalb der juristischen Öffentlichkeit zu sprechen.

Peters gelingt es, aus der Fülle des Materials eine schlüssige Erzählung über die Entstehung und Verbreitung, die unterschiedlichen Verwendungen und das Verschwinden der These von einem „germanischen“ Code civil herauszupräparieren. Ihrer überzeugenden Analyse zufolge entwickelte sich das Argument von einem deutschen Code civil auf uneindeutige Weise und erlaubte gegensätzliche Schlussfolgerungen. So wurde der germanische Charakter des Codes – germanisch und deutsch wurden laut Peters in der Debatte meist synonym verwendet und „die Germanen“ als eine homogene Gruppe betrachtet – von manchen Autoren damit begründet, dass die fränkisch-germanischen Elemente darin überwögen und er daher „althergebrachtem“ germanischen Recht ähnele. Andere argumentierten wiederum, dass sein germanischer Charakter darin begründet liege, dass er auf römischem Recht basiere, das auch zuvor in Deutschland im Rahmen des ius commune galt. Jene römisch-rechtliche Prägung sahen andere Kommentatoren hingegen als Ausweis der Fremdheit des Code civil, der demnach in Deutschland keine Geltung beanspruchen durfte. Einige Kommentatoren, die den Code als etwas Eigenes ansehen wollten, wiesen auf dessen Anteile an nordfranzösischem Gewohnheitsrecht hin, das ihnen zufolge den Rechtsgrundsätzen germanischer Völker zur Zeit der Völkerwanderung entsprach. Sie behaupteten davon ausgehend, dass germanisches Recht mit dem Code civil nach Deutschland zurückgekehrt sei und dankenswerter Weise das „fremde“ römische Recht verdrängt habe.

Die Schlussfolgerungen, die aus der Annahme von einem germanisch geprägten Code civil gezogen wurden, waren ebenso wenig eindeutig. Bedeutete doch die Behauptung von einem germanischen Code civil nicht zugleich, dass dieser von dem betreffenden Autor auch positiv eingeschätzt bzw. als geltendes Recht in Deutschland akzeptiert wurde. Generell hing jedoch von der Gesamteinschätzung des Codes als mehr oder weniger germanisch durchaus ab, ob das Gesetzesbuch in Deutschland begrüßt wurde, oder ob es als etwas Fremdes, Oktroyiertes betrachtet und daher abgelehnt wurde. Auch verfolgten Kommentatoren, die die These vom germanischen Code civil vertraten, teils gegensätzliche Absichten, was größtenteils durch das herrschende Klima in den deutsch-französischen Beziehungen bedingt war: die Annahme von kultureller Überlegenheit sowie jene von enger Verwandtschaft zwischen französischer und deutscher Rechtstradition konnten mithilfe des Argument von einem germanischen Code civil gleichermaßen transportiert werden.

Peters betont, dass mit dem Argument von einem germanischen Code civil oftmals rechtspolitische Absichten verfolgt wurden. Dies insbesondere zur Zeit des Rheinbundes, als damit die Geltung französischen Rechts im Rheinland legitimiert werden sollte. Zur Zeit des Kodifikationsstreits um 1814 wurde das Argument von Verfechtern eines einheitlichen deutschen Zivilrechtsbuches nach dem Vorbild des Code civil herangezogen. Im Nachklang brachte der Jurist Heinrich Zöpfl die These in Umlauf, dass mit dem Code civil „ureigene“ germanische Rechtsinstitute nach Deutschland zurückgekehrt seien. Nach Einführung des BGB wurde mithilfe des Arguments vom germanischen Code die Geltung französischen Rechts im Rheinland historisch legitimiert, während es für die zeitgenössische rechtspolitische Debatte kaum mehr Anwendung fand. Vielmehr ging es nun im Sinne eines übersteigerten Nationalismus darum, die rechtlichen Errungenschaften der Germanen heraus zu stellen. Die These von einem germanischen Code civil befand sich also zu einer Zeit auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung, als man sich im Deutschen Kaiserreich in überlegener Position gegenüber Frankreich wähnte. Diese positive Betrachtungsweise, bei der auch Nostalgie mitschwang, verlor sich mit Beginn des Ersten Weltkrieges, als man den Code civil im Sinne einer erneuten Abgrenzung zu Frankreich verstärkt als „Rheinisches Fremdrecht“ einstufte. Während der kurzen Phase der Friedenspolitik in der Zwischenkriegszeit wurden die germanischen Elemente im Code civil erneut als Zeichen der rechtlichen und kulturellen Nähe zwischen Frankreich gedeutet, bevor „der germanische Code civil“ von Vertretern der rassistischen nationalsozialistischen Ideologie vereinnahmt wurde. Dies war sicherlich auch ein Grund für das baldige Verschwinden der These im öffentlichen juristischen Diskurs der Bundesrepublik nach 1949.

Peters’ Studie zeigt eingehend, wie Kulturgüter – zumeist transkulturelle hybride Konstrukte wie der Code civil – abhängig von unterschiedlichen historisch wandelbaren Faktoren als etwas Eigenes oder Fremdes deklariert werden können. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive ist Peters’ Buch eine überaus lohnende Lektüre für Historikerinnen und Historiker, die sich im Übrigen mit dem „Recht“ in all seinen sozialen und kulturellen Implikationen nicht immer gerne befassen.

Anmerkung:
1 Georg Blume, Dann halt wie Napoleon, in: Die Zeit, 27. März 2018.

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