Titel
Migrazioni.


Herausgeber
Arru, Angiolina; Ehmer, Josef; Ramella, Franco
Reihe
Quaderni Storici 36. Jahrgang, Nr. 106, Heft 1, 2001
Erschienen
Bologna 2001: Il Mulino
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 26,86
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margareth Lanzinger, Universität Wien Institut für Geschichte bzw. "Arbeitsbereich Historische Anthropologie" beim Interuniversitären Institut für Interdiszipliäre Forschung und Fortbildung

Die Idee, in der Reihe der Quaderni Storici einen den „Migrationen“ gewidmeten Band herauszugeben, hat Geschichte. Das HerausgeberInnnenteam knüpft damit an die 1995 erschienene Nummer zum Thema „Cittadinanza“, Stadtbürgerrecht, an. Damals zeigte sich, wie wichtig die städtischen Bestimmungen und Statuten für die Definition von Zugehörigkeit, für die Formation und die Konstellationen kommunaler Machtsphären im Ancien Régime waren. Zentrale Bedeutung kam dabei vor allem einer Figuration zu: den Beziehungen zwischen den in der Stadt geborenen und den zugezogenen Einwohnerinnen und Einwohnern. Angesichts divergierender Einschätzungen erschien es notwendig, die bisherigen Ergebnisse der Migrationsforschung einer kritischen Prüfung zu unterziehen (S. 3). Die neuere Stadtgeschichts- und Mobilitätsforschung schreibt Städten durch die Neuzeit hindurch Offenheit sowohl der Arbeitsmärkte als auch der Heiratsmärkte für zuziehende Frauen und Männer zu. Eine Reihe von Forschungsergebnissen signalisiert allerdings Gegenteiliges. Um feststellen zu können, auf welche Weise sich immigrierte Frauen und Männer in städtische Ordnungssysteme einfügen, bedarf es erstens einer adäquateren geschlechtsspezifischen Aufschlüsselung der geographischen Mobilität. Und zweitens gilt es, das Augenmerk auf Unterschiede bezüglich der Solidaritätsnetze, der Allianzen, der mit der Emigration verbundenen Zielvorstellungen und Zukunftspläne zu legen. (S. 4).

Die insgesamt acht Beiträge zum Themenschwerpunkt des im Folgenden vorgestellten Migrations-Bandes setzen an diesem Punkt an, erweitern aber das Diskussionsspektrum darüber hinaus um zentrale Aspekte. Douglas Catterall bewegt sich in seiner Untersuchung an genau diesen Schnittstellen zwischen ImmigrantInnen, gebürtigen StadtbürgerInnen und der städtischen Politik gegenüber Zugewanderten (S. 25-57). Seine Frage zielt auf andere Indikatoren der Integration als die herkömmlichen ab: Die Art und Weise, in der das Rotterdamer Konsistorium Ende des 17. Jahrhunderts Nachforschungen über einen immigrierten Schotten, der des skandalösen Benehmens bezichtigt war, anstellte, führt Douglas Catterall zum Schluss, dass der städtischen Obrigkeit die Absicherung der Stabilität und des Funktionierens des Gemeinwesens wichtiger war, als die Einhaltung der Statuten. Der Lebensweg, seine Aktivitäten, die Gründe für seine Handlungsweise, all dies ließ sich im Zuge dieses Verfahrens rekonstruieren. Ist der Immigrant dann noch ein „Fremder“?

Wenn sich auch das Mobilitätskonzept in der Migrationsforschung inzwischen erweitert hat, und Distanz und Dimension der Migrationsräume dahingehend relativiert werden, dass auch kleinräumige Mobilität – zwischen Dörfern, zwischen Stadt und Umland – einbezogen wird, ist immer noch vieles offen. Mit einer auf die Motivationen des Weggehens gelegten Perspektive (S. 5f) ist nach wie vor die Vorstellung verbunden, dass familiale, verwandtschaftliche und/oder kommunale Solidaritätsnetze Migrationsverläufe und -routen maßgeblich beeinflussen. Wenn nun – wie von Douglas Catterall exemplarisch vorführt – das sich Einfügen in die Nachbarschaft, die Fähigkeit, einen guten Ruf aufzubauen und diesen zu verbreiten, Kategorien wie Vertrauenswürdigkeit so zentral sind, dann müssen andere Fragen an die Quellen gestellt – etwa nach der Fähigkeit der MigrantInnen, jene Netze zu aktivieren, die beiden Örtlichkeiten gemeinsam sind –, und damit der Blick verstärkt auch auf den Herkunftsort gerichtet werden.

Ein zentraler Punkt, der die folgenden Beiträge verbindet, scheint mir in einer Auffächerung der Blickrichtungen zu liegen: Geographische Mobilität wurde in der Neuzeit vielfach mit Wanderbewegungen gleichgesetzt, die Konzentration lag auf den Individuen als Teil von Migrationsströmen. Massenmigration fand zwar sichtbareren Niederschlag in den Quellen, war aber von der Quantität her nicht unbedingt bedeutender als Individualunternehmungen. Der auf solche Kettenwanderungen gerichtete Fokus drängte das Interesse an der Mobilität Einzelner bislang in den Hintergrund (S. 9). Von einer Verlagerung des Schwerpunktes sind neue und interessante Impulse für Konzepte und Darstellungsweisen von Mobilität zu erwarten – und hier auch eingelöst worden.

Sandra Cavallo begegnet diesem Forschungsdefizit in ihrer Studie über junge Chirurgen, die Ende des 17. Jahrhunderts nach Turin kamen, um sich in einem Beruf von wachsendem Prestige zu etablieren, in den städtischen Krankenanstalten in bekannten Niederlassungen unterzukommen und sich nicht nur beruflich, sondern auch sozial zu verankern (S. 59-90). Ihr Weg führte sie zumeist nicht geradewegs an den Zielort, sie durchwanderten zuvor das piemontesische Territorium, begaben sich auch über dessen Grenzen hinaus und sammelten da wie dort Berufserfahrungen und knüpften Kontakte. Besonders interessant ist im thematischen Kontext ihr Ergebnis, dass sich – einmal in Turin angekommen – in der Mehrzahl der Fälle nur schwache Spuren familialer oder kommunaler Bindungen finden lassen. Bezeichnenderweise gaben sie in Selbstdarstellungen – in den Akten, die anlässlich einer Überprüfung der Konzessionen erhoben wurden – nicht ihren Herkunftsort an. Entgegen dem in der Fachliteratur vorherrschenden Bild definieren sich diese Immigranten in erste Linie über ihre Fähigkeit, neue Verbindungen zu begründen und durch diese zu beruflicher und sozialer Integration in der Stadt zu gelangen.

Michael Eve steigt über einen aktuellen politischen Bezug in das Migrationsthema ein und plädiert für eine kritische Reflexion eines soziologischen, aber auch in den Geschichtswissenschaften wirkungsmächtigen Modells von Integration (S. 233-259). Seine Kritik setzt an der in der Forschungspraxis gängigen Klassifikation an, die auf Basis der geographischen Distanz zum Herkunftsort vorgenommen wird. Als Unterscheidungsmerkmal gilt dabei, ob die Zugewanderten mit den StadtbewohnerInnen und der Gesellschaft im Allgemeinen die Kultur teilen oder nicht. Von dieser Gleichsetzung zwischen geographischer und kultureller Distanz leitet sich in einem nächsten Schritt eine Korrelation zwischen Herkunft und Integrationsverlauf ab: je größer die Entfernung, umso schwieriger die Integration. Michael Eve merkt an, dass die Konzentration auf die geographisch determinierte kulturelle Differenz den Blick auf andere Aspekte verstellt hat. Gleichzeitig fallen Menschen aus einem ländlich-bäuerlichen Milieu etwa, die sich in städtisch-industrielle Kulturen integrieren müssen, unter diesem Blickwinkel aus der Beobachtung heraus. Ein Potenzial sieht Michael Eve in der Auseinandersetzung mit ethnischen Gemeinden in den Städten und den Implikationen, die eine solche Schlüsselposition des Herkunftsortes und der Herkunftskultur mit sich bringt. Können sie nicht auch jenseits der Vorstellung von Ethnizität als „Faktor erster Ordnung“ erforscht werden?

Der Beitrag von Francesca Decimo geht in unter eben diesen Vorzeichen analytisch in die Tiefe (S. 201-231). Sie hat im Rahmen einer qualitativen Studie Migrationserfahrungen somalischer und marokkanischer Frauen in den 90er Jahren in Bologna erforscht (vgl. auch ihren Beitrag in L’Homme.Z.F.G. 11, 2, 2000). Diese Frauen repräsentieren zwei unterschiedliche Formen weiblicher Präsenz von ImmigrantInnen in Italien und der geschlechtsspezifischen Zusammensetzung ethnischer Gemeinden: Die somalischen Frauen sind mehrheitlich ledig und allein nach Italien gekommen, getragen von dem Vorhaben, mit dem Verdienst aus ihrer Arbeit die Existenznot ihrer – von den Folgen des Krieges – betroffenen Familien zu lindern. Die Marokkanerinnen hingegen sind verheiratet und ihren Männern nachgefolgt. Die Netze, in die sie in der Stadt eingebunden sind, haben sowohl für die Somalierinnen als auch für die Marokkanerinnen zentrale Bedeutung und gleichen sich – allerdings nur oberflächlich besehen. Dahinter stehen sehr gegensätzliche Wahrnehmungen und Vorstellungen: Verschiedene Modelle liegen zugrunde, die von den Unterschieden in der Zusammensetzung, den mit der Migration verbundenen Zielen und den sich daraus ableitenden Solidaritäten, aber auch internen Kontrollinstanzen geprägt sind. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass es nicht so sehr auf die Dauer des Aufenthaltes als Voraussetzung für eine Integration in die Stadt ankommt, sondern auf die Bindungen, welche die Frauen aktiv konstituieren können. Dafür ist das Vorhandensein strukturierter Umfelder – Nachbarschaft oder Arbeit beispielsweise – ausschlaggebend, die stabile Interaktionen ermöglichen und Kontakte begünstigen können.

Sozialen Netzen in der Stadt geht auch Luigi Lorenzetti in seinem Artikel über Genf im 19. Jahrhundert nach (S. 153-176). Seinen Ausgangspunkt bildet die Frage, ob zwischen der Präsenz ausgedehnter Verwandtschaftsnetze in der Stadt und dem sozialen und beruflichen Werdegang von Immigranten eine engere Beziehung besteht. Im Ergebnis kommt er zu einer ambivalenten Einschätzung: Das Vorhandensein solcher Verwandtschaftsnetze kann wertvolle Unterstützung bei der Integration in soziale und berufliche Felder der Stadt bieten, einer solchen aber auch hinderlich sein und ein Gefühl von Fremdheit perpetuieren. Der entscheidende Punkt dabei ist, „wer“ die Verwandten sind, das heißt, welche gesellschaftlichen Positionen sie innehaben, in welchen Berufsfeldern sie tätig sind, über welche Kontakte sie verfügen. Luigi Lorenzetti nimmt für einen Teil seiner Untersuchung savoyardische Maurer in den Blick, die in einer Bruderschaft institutionalisiert sind und sich eine Nische im Genfer Bauwesen sichern konnten. Gleichzeitig waren und blieben sie dadurch aber auf ein bestimmtes Betätigungsfeld eingegrenzt. Die in Genf ansässige Verwandtschaft zuziehender Uhrmacher hingegen weist eine ganze Palette an Positionen im sozialen Feld der Stadt auf. Entsprechend vielfältig gestaltet sind auch die Strukturen und Möglichkeitsräume, in die sie sich integrieren können.

Einen biografischen Zugang wählt auch Maurizio Gribaudi, der in seinem Beitrag den Lebensweg von vier Männern aus dem Arbeitermilieu rekonstruiert und darin ebenfalls an die Frage nach der Stadt als Möglichkeitsraum anschließt (S. 115-151). Quellenbasis bildet die von Frédéric Le Play in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegte Biografiesammlung. Nicht nur soziale Bindungen bestimmen mit, was als nutzbare Ressource wahrgenommen wird und welche Zukunftspläne Menschen schmieden, sondern auch Erinnerungen, Vorstellungen und Symbole als dynamische Konfiguration. Der Autor verweist auf die Existenz eines sozialen Feldes, das entlang einer eigenen Skala von Statuszuweisungen strukturiert ist und eigenen Logiken folgt. Auf welcher Grundlage wird beispielsweise über Erfolg oder Misserfolg entschieden? So ist die Geschichte von Bertrand, der es vom saisonal nach Südfrankreich wandernden Kaminkehrer zum Altwarenhändler in Paris bringt, aus dessen Perspektive als eine Aufstiegsgeschichte zu lesen. Der Autor sieht ein für die Migrationsforschung relevantes Problemfeld, das sich aus der analytischen Trennung zwischen Subjekten und Kontexten ergeben kann, darin, dass immer wieder von einer allzu kompakt konzipierten und kohärent strukturierten Gesellschaft ausgegangen wird. Interessant ist sein Versuch einer grafischen Umsetzung der Lebenswege der vier Männer: von Alexis, dem Drucker, Bertrand, dem Altwarenhändler, Jean und Paul Antoine, beide Tischler.

Leslie Page Moch untersucht unterschiedliche Integrationsformen der Bretonen in Paris in der Zeit zwischen 1875 und 1925 und stellt einen Vergleich zwischen dem 16. Arrondissement, südlich vom Montparnasse gelegen, und St. Denis im Norden der Stadt an (S. 177-199). In St. Denis begegnen wir einer relativ homogenen Arbeiterkultur, hier bleiben die zugezogenen Bretonen über lange Zeiträume ansässig und bauen stabile Sozialbeziehungen auf. Das 16. Arrondissement hingegen weist eine stark fragmentierte Sozial- und Berufsstruktur auf und trägt vielmehr den Charakter einer Zwischenstation. Kontaktnetze eruiert Leslie Page Moch über die Trauzeugen, vier an der Zahl waren es zu dieser Zeit; ab 1910 durften auch Frauen diese Funktion übernehmen, sodass ab da auch weibliche Sozialbeziehungen auf diesem Wege sichtbar werden.

Mit der Gesellenwanderung setzt sich schließlich Sigrid Wadauer auseinander (S. 91-114). Neuere Studien haben gezeigt, dass die Gesellenwanderung keineswegs nur eine typische Phase der vorindustriellen Handwerkerlaufbahn war, sondern auch im 19. und 20. Jahrhundert ein Massenphänomen darstellte. Sigrid Wadauer geht noch ein Stück weiter und kann in ihrer Analyse von Handwerkerbiografien eine Palette verschiedenster Sinnstiftungen auffächern, welche die Protagonisten ihrer geographischen Mobilität geben. Sie bewegen sich nicht nur zwischen verschiedenen Arbeitsmärkten, nicht nur als Beschäftigungssuchende und Bittsteller: Die Bandbreite an möglichen Varianten umfasst ebenso touristische und kulturelle wie abenteuerliche Aspekte. Die verwendeten Selbstbezeichnungen – manchmal als Wandernde und manchmal als Reisende – stellen die eine in der Forschung vielfach vorausgesetzte dichotomische Trennung zwischen Migration und Reise in Frage.

Gesamt gesehen spiegelt dieser Band zum Thema „Migrationen“ das Innovationspotential eines international lebendigen Forschungsfeldes wider, dessen Produktivität sich vielfach aus einer Dynamisierung festgefahrener Bilder und Dichotomien ergibt. Gleichzeitig ist auch die Bedeutung solcher Periodika, wie sie die Quaderni Storici darstellen, zu betonen, die mehrfache Brückenschläge auf hohem wissenschaftlichen Niveau vorzunehmen vermögen: zwischen der Verankerung in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Verbindungen zu benachbarten Disziplinen sowie Aktualitätsbezügen und der selbstverständlichen Integration neuerer theoretisch-methodischer Zugangsweisen und Konzeptionen von Geschichte – das gilt beispielsweise für die anthropologische Wende oder die Mikrogeschichte ebenso wie für frauen- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven und Fragestellungen.
Innerhalb dieses Rahmens wurden in einem weit gespannten zeitlichen Bogen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart wichtige Differenzierungen vorgenommen und neue Blickrichtungen auf die Migrationsgeschichte eröffnet. Hervorheben möchte ich auch die Bandbreite an interessantem Quellenmaterial zum Thema und daran anknüpfend der Methodenvielfalt in den einzelnen Aufsätzen. Nicht zuletzt Dank eines sehr engagierten Editorials bietet der Band einen sehr guten und ebenso breit wie tief angelegten Einblick in den aktuellen Forschungsstand der Migrationsgeschichte und in Problemfelder, die hier noch weiter zur Diskussion stehen werden. Die meisten Beiträge enthalten darüber hinaus eine Fülle an spannenden Fragen und Ergebnissen, die auch Forschenden mit einem „sesshafteren“ Blick auf sozio-kulturelle Prozesse in Städten und Dörfern interessante Perspektiven und Anregungen bieten – ausreichend geistiges Gepäck für ein weiteres Stück des Weges also. Das auf dem Cover abgebildete Modell eines Schrankkoffers hat in diesem Sinne die passende Größe.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Land
Sprache der Rezension