J. Flemming: Die Madsacks und der »Hannoversche Anzeiger«

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Titel
Die Madsacks und der »Hannoversche Anzeiger«. Eine bürgerliche Großstadtzeitung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, 1893–1945


Autor(en)
Flemming, Jens
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Christian Führer, Arbeitsbereich Deutsche Geschichte, Universität Hamburg

Hannover hat unter den deutschen Großstädten keinen sonderlich guten Ruf, gilt die Stadt an der Leine doch als ein Hort von Mittelmaß und Langeweile. Dennoch erfüllte (und erfüllt) Hannover im Raum Niedersachsen selbstverständlich Metropolfunktionen. Mediale Angebote waren ein wichtiger Teil dieser herausgehobenen sozialgeographischen Stellung. So erschien die auflagenstärkste niedersächsische Tageszeitung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts selbstverständlich in Hannover: Wenn es in der damaligen preußischen Provinz ein überregional gelesenes und beachtetes Blatt gab, dann war dies der seit 1893 erscheinende „Hannoversche Anzeiger“ (HA). Alle anderen Hannoveraner Tageszeitungen erreichten nur eine deutlich geringere Verbreitung.

Die hier anzuzeigende Publikation von Jens Flemming beschäftigt sich mit der Geschichte des HA und mit der Geschichte der Familie Madsack, die das Blatt über zwei Generationen hin verlegte und auch redaktionell leitete. Presse-, Unternehmens- und Familiengeschichte rücken dabei gleichberechtigt in den Blickpunkt. Das Buch präsentiert die Ergebnisse mehrjähriger Forschungsarbeiten, die von Sylvia Madsack, der letzten Vertreterin der Familie im Nachfolgeunternehmen des HA-Verlages (der Madsack Verlagsgesellschaft, die im bundesdeutschen Pressewesen eine wichtige Rolle spielt) angeregt und finanziert wurden. Die Darstellung stützt sich sowohl auf die Zeitung selbst als auch auf ein offensichtlich bemerkenswert reichhaltiges Archiv der Verlagsgesellschaft Madsack sowie auf familiär überlieferte Schriftstücke. Quellen aus 19 weiteren Archiven kamen ergänzend hinzu. Mit diesem umfangreichen Material erzählt der Autor für die Jahre bis 1933 im Wesentlichen von bemerkenswerter Geschäftstüchtigkeit. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) hat er hingegen vor allem von dem politischen Opportunismus zu berichten, mit dem die Madsacks das von ihnen geführte Unternehmen retten wollten.

Wie schon der Name verrät, gehörte der HA zu einem speziellen Typ von Tageszeitungen, der in den Jahren nach 1880 in nahezu allen Großstädten im damaligen Deutschen Reich erfolgreich eingeführt wurde: Die „Anzeiger“-Presse gab sich politisch dezidiert neutral; Annoncen von örtlichen Gewerbetreibenden und auch Kleinanzeigen von Leserinnen und Lesern füllten einen erheblichen Teil der Seiten. Dank der so generierten Einnahmen waren Zeitungen dieses Typs meist deutlich billiger als ihre in der Regel traditionsreicheren und journalistisch profilierteren Konkurrenzblätter. Hohe Auflagen dienten als Argument im Werben um weitere Geschäftsanzeigen.

Auf dieses von anderen Verlegern erdachte Geschäftsmodell griff August Madsack zurück, als er 1893 gemeinsam mit mehreren stillen Teilhabern den HA gründete. Er war erst zwei Jahre zuvor aus dem Baltikum nach Hannover gezogen, verfolgte aber zielstrebig den Plan, sich in seiner neuen Heimat als Verleger zu etablieren. Dieses recht kühne Vorhaben, als Ortsfremder ein Lokalblatt aufzubauen und zu leiten, gelang überraschend gut: 1905 zählte der HA mit einer täglich gedruckten Auflage von 107.000 Exemplaren bereits zu der kleinen Gruppe großer deutscher Tageszeitungen. In Norddeutschland war allenfalls der „Hamburger Anzeiger“, der mit dem HA geschäftlich nichts zu tun hatte, vergleichbar auflagenstark.

Wie zahlreiche andere Vertreter der „Anzeiger“-Presse bot auch das Hannoveraner Blatt noch im Kaiserreich immer reicheren Lesestoff: Die journalistische Berichterstattung wurde mindestens ebenso wichtig wie der Annoncenteil. Damit entwickelte auch der HA eine recht präzise zu benennende politische Linie. Sie lag – wie sich fast denken lässt – in der Mitte des damaligen politischen Spektrums, war also moderat-liberal. Nationalistische und militaristische Töne sowie Treueschwüre für Kaiser und König gehörten ebenso zu dieser politischen Färbung wie Stellungnahmen gegen das anachronistische Drei-Klassen-Wahlrecht, das in Preußen sowohl für den Landtag wie auch für alle Stadtparlamente galt. Im Ersten Weltkrieg verstärkte sich die nationalistische Prägung: Gerade in der Schlussphase des Krieges war der HA eine publizistische Plattform für Forderungen nach einem „Siegfrieden“. Nach der Novemberrevolution und dem Sturz aller deutschen Monarchen setzte das Blatt sogar noch stärker als zuvor auf Appelle an nationale Empfindungen. Es war nun viel von der „Volksgemeinschaft“ die Rede; Parteienstreit galt als ein großes Übel. Den Hohenzollern allerdings weinte die Redaktion interessanterweise denn doch keine Träne nach; mit der Republik hat sie sich rasch arrangiert.

Für die Zeit nach 1929, als die schwere Wirtschaftskrise das politische Gefüge der Weimarer Republik durcheinanderwirbelte, vermerkt Flemming eine verstärkte politische „Suchbewegung“ der HA-Redaktion (S. 268), die schon seit 1921 von Erich Madsack, dem jüngsten Sohn des Verlagsgründers, geleitet wurde. Von Adolf Hitler und den Nationalsozialisten hielt man sich zwar fern; positive Worte zu Mussolini aber fanden sich gleich mehrfach. Im April 1932 druckte der „Anzeiger“ sogar ein antiparlamentarisches Pamphlet des „Duce“, deklarierte den Text aber zugleich doch als „Diskussionsgrundlage“. Mit solchen Zweideutigkeiten machte man sich in der NSDAP keine Freunde. Nach der Machtübernahme der Partei gehörte der HA daher zu den „bürgerlichen“ Zeitungen, die zwar nicht verboten wurden, der Partei aber doch ein Dorn im Auge waren.

Die Einordnung der Hannoveraner Zeitung in das „gelenkte“ Pressewesen der NS-Diktatur verlief insgesamt recht zügig und weitgehend reibungslos. Immer in der Absicht, das Blatt zu bewahren, kam Erich Madsack (der seit dem Tod seines Vaters im Februar 1933 das gesamte Unternehmen führte), den Nationalsozialisten weit entgegen. Ein dreitägiges Erscheinungsverbot der Zeitung im Juni 1933, weil der HA in einer Kurzmeldung – wahrheitsgemäß – Männer der Schutzstaffel (SS) als die Schuldigen an einer Gewalttat in Hildesheim benannte, hat dies sicher befördert. Die opportunistische Unterwerfung hatte jedoch schon früher begonnen.

Dort, wo ihm das möglich war, bemühte sich Erich Madsack jedoch gleichzeitig, auch weiterhin als der „ehrbare Kaufmann“ zu handeln, als den er sich offensichtlich sah. So wurde die Unterbeteiligung einer jüdischen Familie an den Besitzrechten des Verlages auf seine Initiative hin im Mai 1934 trickreich verborgen: Ein Strohmann übernahm die Anteile und musste sich dabei vertraglich verpflichten, die nun an ihn gehenden Gewinnbeteiligungen an die alten Anteilseigner weiterzuleiten. Diese juristische Konstruktion hielt erstaunlicherweise bis 1938. Zu diesem Zeitpunkt hatte die NSDAP insgeheim auch das geschäftliche Kommando im HA-Verlag übernommen: Wie andere Eigentümer „bürgerlicher“ Zeitungen wurden auch die Madsacks im Jahr 1936 dazu gezwungen, die Mehrheit an ihrer Firma an die NS-Presseholding Vera zu verkaufen. Die nachfolgenden Jahre bis 1943 firmierte Erich Madsack zwar weiterhin als Chefredakteur. De facto aber handelte es sich beim HA nun um nichts anderes als um eine NSDAP-Zeitung. Erst die kriegsbedingte Zwangsfusion des „Anzeigers“ mit dem lokalen Parteiblatt im Frühjahr 1943 machte diesem langjährigen Spuk, der für die Madsacks finanziell sehr vorteilhaft war, ein Ende.

Mit seinem Buch legt Jens Flemming für die Jahre zwischen Kaiserreich und dem Ende des NS-Regimes eine Studie vor, die alle bereits vorliegenden Arbeiten zur Geschichte der deutschen Lokalpresse in diesem Zeitraum an Genauigkeit und Differenziertheit übertrifft. Für Leserinnen und Leser, die mit den Grundzügen der deutschen Pressegeschichte vertraut sind, bietet die Darstellung zwar keine großen Überraschungen, aber das liegt nicht an Flemming. Es ergibt sich vielmehr aus der Natur der Sache: Vor wie nach 1933 entwickelten sich die meisten der nicht-parteigebundenen deutschen Tageszeitungen sehr ähnlich wie der HA. Wer kritisch gestimmt ist, dem mag die Praxis des Autors, fast alle der sehr vielen namentlich im Buch genannten Personen jeweils mit ausführlichen biografischen Skizzen vorzustellen, mitunter denn doch etwas zu viel werden. Einige Passagen, in denen die Verlagsgeschichte in das allgemeine Zeitgeschehen eingebettet wird, richten sich zudem stärker an das „allgemein interessierte“ Publikum, als man es in einer thematisch so speziellen Untersuchung vielleicht erwarten sollte. Dem Rang der Darstellung tun derart geringfügige Einwände keinen Abbruch.

Zu vermerken bleibt die Tatsache, dass Flemmings Buch nach der Fertigstellung im Jahr 2014 jahrelang ungedruckt blieb. Zu den Gründen dieser Verzögerung vermerkt der Autor nur, er habe sie „nicht zu verantworten“ (S. 18). Wie 2017 in etlichen Medien zu lesen war, ergab sich das Problem aus den Risiken der historiografischen Auftragsforschung, deren Freiheit ja vielfach dann endet, wenn Resultate zu drucken sind, die den Geldgebern nicht passen.1 Wie diese Blockade im vorliegenden Fall aufgebrochen wurde, ist eine Geschichte für sich. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Ergebnisse intensiver Forschungsarbeit unterdrückt werden sollten. Dies wäre rückblickend freilich umso empörender, als Flemming ausgesprochen fair über die NS-Verstrickungen der Familie Madsack urteilt. An der wissenschaftlichen Qualität seiner glücklicherweise nun doch noch publizierten Arbeit kann es keinen Zweifel geben. Insbesondere die Abschnitte des Buches über die journalistische Praxis der HA-Redaktion nach 1933 können wegen der von Flemming ausführlich zitierten internen Dokumente als Pflichtlektüre für alle gelten, die sich für die NS-Zeit interessieren: Der hohe moralische Preis, den Journalisten in einer Diktatur unweigerlich zahlen müssen, wenn sie ihrem Beruf treu bleiben, wird hier eindringlich deutlich.

Anmerkung:
1 Diese Debatte begann mit zwei Berichten im „Spiegel“: April, April, in: Der Spiegel, 5.8.2017, Nr. 32; Gegen die guten Sitten, in: Der Spiegel, 30.9.2017, Nr. 40.

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