M. Vaněk a kol.: Sto studentských revolucí

Cover
Titel
Sto studentských revolucí. Studenti v období pádu komunismu
Weitere Titelangaben
Životopisná vyprávění


Herausgeber
Vaněk, Miroslav; a kol.
Erschienen
Anzahl Seiten
840 S.
Preis
czk 890,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sarah Lemmen, Departamento de Historia Moderna e Historia Contemporánea, Universidad Complutense de Madrid

Es gehört zu den Eigenschaften des tschechischen Buchmarktes, dass Bücher, die den Nerv der Zeit treffen, oft schnell vergriffen und somit bereits kurz nach ihrer Erscheinung nicht mehr verfügbar sind. Die erste Ausgabe von Sto studentských revolucí (dt.: Hundert studentische Revolutionen) aus dem Jahr 1999 war – so erinnern sich Beteiligte – ein solches Buch, das viel besprochen wurde und bald aus den Buchläden verschwunden war. Es gilt als die erste grundlegende Oral History-Studie in Tschechien, die sich internationaler Standards bediente, und wird heute zu den tschechischsprachigen Standardwerken in diesem Bereich gezählt.1 Zwanzig Jahre später hat der Autor und Projektleiter Miroslav Vaněk (sein Mitstreiter und Co-Autor der ersten Ausgabe Milan Otáhal ist 2017 verstorben) mit einem neuen Team an Wissenschaftler:innen eine Neuauflage in die Wege geleitet, die nun, 30 Jahre nach der Samtenen Revolution, noch einmal die Akteure von damals selbst zu Wort kommen lässt. Die nur leicht überarbeitete und ergänzte Neuauflage ist demnach auf drei Zeitebenen zu lesen: Aus der Perspektive des Jahres 2019 wird sowohl 1999 als auch 1989 reflektiert.

Wie der Titel suggeriert, stehen hier die Erfahrungen von hundert Personen im Vordergrund, die im Herbst 1989 als Student:innen an tschechischen Hochschulen in unterschiedlichen Rollen die Demonstrationen und Streiks miterlebten und mitgestalteten, die zur „Samtenen Revolution“ und zum Untergang des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei führten. In biographischen Interviews, die 1996 bis 1998, also sieben bis neun Jahre nach den Ereignissen geführt wurden, berichten die Akteure von ihren Erlebnissen auf der Prager Studentendemonstration am 17. November 1989, die als Auftakt zur Samtenen Revolution gilt, sowie während der Streiks in den folgenden Wochen. Weil die Interviewer auch nach dem sozialen Umfeld vor dem Herbst 1989 – nach Familienleben, nach Schule und Freizeit, nach der Einbindung in staatliche Jugendorganisationen oder nach familiären Kontakten zu Dissident:innen – gefragt haben, lassen ihre Ausführungen zugleich eine breitere Kontextualisierung zu.

Diese Interviews machen mit 565 Seiten das Herzstück des Buches aus. 65 der hundert Gespräche sind – in nur leichter sprachlicher Überarbeitung – abgedruckt. Hier kommen Personen zu Wort, die 1989 an Universitäten in Prag, Brno, České Budějovice, Hradec Králové, Liberec, Olomouc, Ostrava, Pilsen oder Ústí nad Labem (aber nicht im slowakischen Landesteil) studierten und größere oder kleinere Rollen in den universitären Streiks und Demonstrationen gespielt hatten. So wird mit Monika Pajerová eine der führenden Personen der Studentenbewegung interviewt, ebenso Martin Mejstřík, der die Konflikte, aber auch die Freiheiten politischer Betätigung an der pädagogischen Fakultät und vor allem an der Theaterfakultät in Prag in den späten 1980er-Jahren beschreibt und schließlich auf die Planungen zur Demonstration am 17. November eingeht. Beide waren in der Studentenorganisation STIS aktiv, die seit dem Frühjahr 1989 unter dem Schirm der sozialistischen Jugendorganisation Freiräume an den Universitäten schuf. Studenten wie Marek Benda oder Martin Klíma, beide aus bekannten Dissidentenfamilien, waren dagegen in der unabhängigen Studentenbewegung Stuha aktiv. Auch die Konflikte und Reibereien zwischen den verschiedenen Gruppierungen werden in den einzelnen Interviews deutlich.

Deutlich wird auch die Pragzentriertheit der Studentenbewegung. Außerhalb Prags waren die Erfahrungen teilweise ganz andere. Tomáš Šponar, Student der Textilfakultät der Technischen Universität in Liberec, beurteilt kritisch, dass die Proteste in seiner Stadt oftmals ohne Plan ausgeführt worden seien. In Prag schienen die Leute besser informiert, enger vernetzt und auch schon länger mit Dissident:innen in Kontakt zu stehen. Noch am 17. November fuhr er mit seiner Theatergruppe nach Karl-Marx-Stadt, wo der gesellschaftliche Aufbruch nach dem Mauerfall deutlich zu spüren war. Dort habe er sich noch beschwert, dass alle möglichen Länder im Ostblock in Bewegung geraten seien und nur in seiner Heimat nichts passiere. Als sie am 19. November abends zurückgekommen waren, hatte sie die Revolution überrascht (S. 710–711).

Insgesamt zeigen die Interviews die Vielfalt der Perspektiven sowie die Euphorie, die Angst und auch den Frust, die die Ereignisse im Herbst 1989 unter den Beteiligten auslösten. Es verwundert nicht, dass sich zum Großteil die engagierten Studierenden zu Interviews bereitgefunden haben, und nicht etwa – wie von den Projektmitarbeitern ursprünglich geplant – auch diejenigen Studierenden, die die Streiks als Gelegenheiten für Ski- oder Heimaturlaube nutzten (S. 191). So zeichnet der Band nicht das Porträt einer ganzen Studentengeneration, sondern fokussiert auf eine Auswahl derjenigen, die im Herbst 1989 aktiv waren. Mit einem ausführlichen geographischen und Namensregister lassen sich die Interviews auch gezielt durchsuchen und stellen somit eine hervorragende Quelle für weitere Forschungen dar.

Den Interviews vorangestellt ist eine Reihe von einführenden Kapiteln. Die meisten sind aus der ersten Auflage direkt übernommen. Die „Historische Einführung“ bietet einen Überblick über studentische Protestformen in der Tschechoslowakei und somit den Kontext für die folgenden Interviews. Gezeigt wird hier, dass die studentischen Demonstrationen im November 1989 Teil einer längeren Entwicklung von Protesten, Gruppierungen sowie Kämpfen um Freiheiten waren, die vor allem in den späten 1980er-Jahren an Fahrt aufnahmen. Die „Methodische Einführung“ diskutiert ausführlich die Auswahl und Repräsentativität der Interviewpartner, beschreibt aber auch den Stand der Oral History im tschechischen akademischen Umfeld im Jahr 1999. Mit zeitlichem Abstand fällt hier vor allem der defensive Ton auf, mit dem Oral History erklärt und beschrieben wird, ebenso der konstante Versuch, Oral History als stringente wissenschaftliche Methode zu etablieren. Diese Tendenz ist schließlich auch im Kapitel „Das Leben in der Ära der so genannten Normalisierung: Eine Interpretation der Interviews“ [Život v období tzv. normalizace: interpretace rozhovorů] zu sehen, das die Interviews in thematischen Abschnitten analysiert. Nicht ganz überzeugend ist, dass hier Aspekte des jugendlichen Alltags in den 1980er-Jahren (mit den Abschnitten „Elterliches Umfeld“ – „Grundschule“ – „Pionierorganisation SSM“ – „außerschulische [...] Tätigkeit im Grundschulalter“ – „Mittelschule“ – „Sozialistischer Jugendverband“ – „Außerschulische Tätigkeit, Freizeit“ etc.) sehr ausführlich und raumausgreifend behandelt werden, während die eigentlich im Fokus stehenden Themen zur Revolution mit den Abschnitten „Aktivitäten nichtoffiziellen Charakters“ und „studentischer Streik“ vergleichsweise schnell abgehandelt werden.

Die Zeitgebundenheit der hier publizierten historischen Analysen wird auch von den neu hinzugefügten Beiträgen kritisch thematisiert. Im Vorwort zur Neuauflage plädiert Miroslav Vaněk dafür, das Buch als historische Quelle nicht nur zur Revolution von 1989 zu lesen, sondern auch zum Stand der Oral History in Tschechien im Jahr 1999 (S. 10). Dem ist hier deutlich zuzustimmen. Allerdings wäre diese Neuauflage auch genau der Ort, eine solche Reflexion und Kontextualisierung zu bieten und sie nicht den Leser:innen selbst zu überlassen. Auch das neu hinzugefügte Kapitel „Über die Geschichte und Erinnerung der Studenten und Studentinnen“ [O dějinách a paměti vysokoškolských studentů a studentek] von Pavel Mücke liefert diese Aktualisierung nicht, stattdessen wird hier eine historische Linie der einflussreichen Studentenaufstände in der böhmischen Geschichte von 1848 über 1893/94, 1939, 1945/48, 1968/69 bis 1989 gezeichnet.

Insgesamt ist dies ein faszinierendes Buch, das unheimlich viel zu bieten hat. Das liegt vor allem an der Fülle von Interviews, die allein quantitativ ein äußerst vielfältiges Bild der aktiven Studentengeneration in der Tschechoslowakei im Jahr 1989 zeichnen. Die diesem Teil vorangehenden, einführenden und analytischen Kapitel repräsentieren allerdings in weiten Teilen die Sichtweise von 1999. Diese Historisierung der Methode und Analyse wird aus der Perspektive von 2019 zwar thematisiert, aber nicht kontextualisiert oder erklärt, und bleibt somit unvollständig. Nicht unerwähnt bleiben soll auch die gründliche Redaktion sowie die sorgfältige Aufmachung dieser Ausgabe. Hochwertige Bindung und Typographie sowie eine gelungene Einbindung von Fotos und Titelseiten von studentischen Zeitschriften (1987–1990) machen das Buch auch visuell ansprechend.

Wie sähe eine solche Oral History-Forschung heute aus? Und wie stehen die ehemaligen studentischen Akteurinnen und Akteure heute zu den Ereignissen im Jahr 1989, zu ihren Reflexionen 1999 und zu den Langzeitfolgen „ihrer“ Revolution? Leser:innen, die sich eine Antwort auf diese Fragen erhoffen, können die Lektüre direkt in einer Folgepublikation fortsetzen, die ebenfalls 2019 unter dem Titel „Hundert studentische Evolutionen“ erschienen ist.2

Anmerkungen:
1 Michala Drahovzalová, Etablování orální historie v českém prostředí [Die Etablierung der Oral History im tschechischen Kontext], unveröffentlichtes Manuskript einer Diplomarbeit an der Karlsuniversität Prag 2019, S. 54.
2 Miroslav Vaněk u.a. (Hrsg.), Sto studentských evolucí. Vysokoškolští studenti roku 1989. Životopisná vyprávění v časosběrné perspektivě, Praha: Academia. Ústav pro soudobé dějiny, 2019. Siehe dazu auch die Rezension von Jan Surman, in: H-Soz-Kult, 07.07.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-29449.

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