M. Neumann: Soldatenbriefe des 18. und 19. Jahrhunderts

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Titel
Soldatenbriefe des 18. und 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Syntax und Textstruktur in der Alltagsschriftlichkeit unterschiedlicher militärischer Dienstgrade


Autor(en)
Neumann, Marko
Reihe
Germanistische Bibliothek 68
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 365 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Fischer-Kattner, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Marko Neumann schlägt mit seiner Rostocker Dissertation eine Brücke zwischen Militärgeschichte und Germanistik – angesichts der Distanz zwischen den Disziplinen keine leichte Aufgabe. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive untersucht er 170 „Soldatenbriefe“ der Jahre 1745 bis 1872, die er aus Editionen, Digitalisierungsprojekten, vor allem aber eigener Archivarbeit von Stralsund bis München und Wien zusammenstellt.

Neumann analysiert die privaten Briefe1 von Militärangehörigen an ihre Familien im Vergleich mit 71 Musterschreiben aus zeitgenössischen Briefstellerpublikationen. An diesem Korpus untersucht er alltagssprachliche Verwendungsweisen des Deutschen in unterschiedlichen sozialen Schichten (Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere) innerhalb desselben Berufsfeldes. Anhand des von Koch und Oesterreicher entwickelten Modells von Nähe- und Distanzsprachlichkeit2 fragt Neumann, ob die Soldaten ihre Briefe eher mündlich oder schriftlich konzipierten. Dabei konzentriert er sich speziell auf die Syntax in den Schriftstücken. Im Zuge dieser quantifizierenden Arbeit treten historische Ereignisse und Entwicklungen (jenseits der Sprachentwicklung) leider ganz in den Hintergrund.

Die Arbeit ist in sieben unterschiedlich lange Kapitel gegliedert. In den beiden ersten ordnet Neumann seine Arbeit in die germanistische Forschung sowie die (deutschsprachige) Militärgeschichte ein und erläutert theoretisch-methodische Grundlagen. Die sozial- und alltagshistorische „neue“ Militärgeschichte bearbeitet Feldpostbriefe schon länger als Quellen für Kriegserfahrungen, vor allem aus den beiden Weltkriegen.3 Demgegenüber konstatiert Neumann für Feldpostbriefe aus dem 18. und 19. Jahrhundert in der historischen Sprachwissenschaft eine Forschungslücke.

In Kapitel 3 wird das untersuchte Korpus detailliert vorgestellt. Um aufgenommen zu werden, mussten Briefe handschriftlich oder buchstabengetreu inklusive aller Einleitungs- und Schlussformeln überliefert sein. Sie mussten von Militärangehörigen in einer Kriegszeit (zwischen dem Zweiten Schlesischen Krieg und dem Deutsch-Französischen Krieg) verfasst und an Familienmitglieder gerichtet sein. Von einzelnen Verfassern, die zumindest rudimentär biographisch identifizierbar sein müssen, wurden maximal drei Schreiben aufgenommen. Neumanns Auswahl deckt ein breites Spektrum in Bezug auf regionale Herkunft, militärische Dienstgrade und Adressierte (Eltern, Ehefrauen/Geliebte und Geschwister) ab, ohne die Kategorien immer gleich gewichten zu können. So werden beispielsweise aus den Jahren vor 1800 nur 18 Briefe, nach 1850 dagegen 110 berücksichtigt. 95 Briefe von Mannschaftsdienstgraden stehen 75 Schreiben von Offizieren und Unteroffizieren gegenüber. Die Ungleichgewichtungen entspringen jedoch einfach der historischen Entwicklung und Überlieferung: Während lange vor allem Offiziersbriefe geschrieben und aufbewahrt wurden, wuchs das Feldpostaufkommen einfacher Soldaten im ausgehenden 19. Jahrhundert dank Alphabetisierung und verlässlicherer Transportstrukturen stark an.

Der Hinweis, dass die Briefe nach Schreibdatum und nicht nach dem Schulbesuch der Schreiber geordnet sind, verdeutlicht, wie entscheidend die Prägung des Schreibstils für die historische Sprachwissenschaft ist. Der sprachgeschichtliche Hintergrund bedingt auch das eher grobmaschige chronologische Untersuchungsraster und Neumanns Einschätzung, dass der „Einfluss der konkreten Kriegsumstände“ (S. 63) gering gewesen sei. Den in der Begriffsgeschichte diagnostizierten grundlegenden Wandel der revolutionären „Sattelzeit“ thematisiert die Arbeit gar nicht. Blieb die Alltagssprache der Soldaten vom tiefgreifenden politisch-sozialen Wandel unberührt? Ist Syntax immer ein Phänomen der langen Dauer? Die Studie regt zu diesen Überlegungen an, setzt selbst jedoch andere Schwerpunkte.

In Kapitel 4 analysiert Neumann kommunikative Funktionen und Themen einzelner Sprachhandlungen in den Schreiben. Von fünf Grundfunktionen sind in den Soldatenbriefen vor allem die Informations- (durchschnittlich etwas über 50 Prozent des Textmaterials) und, erst in zweiter Linie, die in der Briefforschung betonte Kontaktfunktion (knapp 40 Prozent) realisiert. Mit weitem Abstand folgen Appell- und Obligationsfunktion (also Verpflichtung des Schreibers oder Empfängers auf eine Handlung). Die Deklarationsfunktion tritt gar nicht auf. Die Verteilung entspricht der funktionalen Zuordnung in den oben erwähnten Musterschreiben, wobei diese thematisch ein positiveres Bild vom Soldatenberuf zeichneten. Interessant sind textlinguistisch-soziale Differenzierungen. Zum Beispiel beeinflusst das Geschlecht des Adressierten die Textfunktion: Frauen erhielten weniger Informations- als Kontaktanteile – eine Tendenz, die bei Schreibern im Offiziersrang ausgeprägter war als bei Mannschaftsdienstgraden. Die Verbindung zur Geschlechtergeschichte wird mit Christa Hämmerle angerissen, könnte in Bezug auf Männlichkeitskonstruktionen allerdings weiter ausgebaut werden.

Kapitel 5 behandelt den Briefaufbau. In Orts- und Datumsangabe, Anrede, Unterschrift und zum Teil vorhandener Nachschrift stimmen die Soldatenbriefe formal weithin mit den Musterbriefen überein. Auch weniger geübte Schreiber im Mannschaftsgrad hielten sich streng an Konventionen. Neumann vermutet, dass sie ihnen als Krücke für die ungewohnte Tätigkeit dienten. Kapitel 6 erhärtet diese Annahme, zeigt es doch, dass die einfachen Soldaten auch häufiger stilistisch verpönte, überkommene sprachliche Formeln für Einleitung, Ausleitung und Gliederung nutzten.

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet Kapitel 7, wo das Briefmaterial syntaktisch analysiert wird. Neumann widmet der Satzkomplexität, den formalen Satztypen sowie Stellungs- und Reihungsvarianten jeweils ausführliche Unterkapitel. Mannschaftsbriefe weisen eher parataktische Satzreihen auf als komplizierte Über- oder Unterordnungen in Satzgefügen und Satzperioden. Offiziere verwenden Letztere ein wenig häufiger. Um seine Befunde sprachgeschichtlich einzuordnen, vergleicht Neumann sie mit Untersuchungsergebnissen zu anderen Textgattungen – von Rechts- und Sachtexten bis hin zur Bild-Zeitung. Insgesamt erweist sich die Satzkomplexität nicht als klarer „Indikator für die Nähe-/Distanzsprachlichkeit einer Äußerungsform“ (S. 200). Sowohl schriftlich als auch mündlich konzipierte Texte zeigen sich in Satzlänge und -abhängigkeiten vielfältig.

Beim Einsatz von Satztypen pflegten die realen Schreiber einen abwechslungsreicheren Ausdruck als die Musterbriefe. Sie verwendeten auch Formen, die nicht dem schriftsprachlichen Standard entsprachen (etwa diverse „verkürzte“ Strukturen, Kap. 7.3.2). Markante Unterschiede zwischen Mannschaftssoldaten und Offizieren bestanden nur in sehr begrenzten Bereichen von Satztypen und Satzstellungen. Offiziere bevorzugten zum Beispiel die Relativpronomina „der/die/das“ gegenüber dem in Briefstellern und Stilratgebern als weniger natürlich gescholtenen „welcher/welche/welches“. Auch leiteten sie Kausalsätze eher mit „da“ als mit „weil“ ein und bedienten sich häufiger der Subjekt-Verb-Inversion nach „und“. Solche plakativen Markierungen setzten Offiziere sozial von einfachen Soldaten ab. Ansonsten bestanden viele „syntaktische Konstanten“ (S. 306) über die Abschnitte des Untersuchungszeitraums und die sozialen Gruppen hinweg.

Zum Schluss folgert Neumann, dass in der Alltagssprache der Soldatenbriefe keine absoluten Grenzen zwischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit, bzw. mündlicher und schriftlicher Konzeption, gezogen werden können. Als Alternative schlägt er vor, „lockere“ und „strenge Fügungsweisen“ (S. 306) der Syntax zu unterscheiden. Einfache Soldaten wandten häufiger die lockere Fügung an, die wenige Interpunktionen aufweist und Sätze oft ohne manifeste Bezüge aneinanderreiht. Demgegenüber bevorzugten die Offiziere die grammatikalisch klareren Satzbau- und Interpunktionsstrukturen der strengen Fügungsweise, wie sie auch die Briefsteller propagierten. Mannschaftsdienstgrade verwendeten durchaus auch Distanzmerkmale, doch zeigten sie sich dabei mit archaisierenden und formelhaften Ausdrücken als ungeübte Schreiber.

Neumanns materialreichen Studie eröffnet Historiker/innen interessante Einblicke in eine quantitativ arbeitende Sprachwissenschaft. Mit ihren textlinguistisch-sozialen Differenzierungen schließt die Untersuchung an die Sozialgeschichte des Militärs an. Hier kann der Befund, dass syntaktische Gebräuche über die bekannten sozio-politischen Zäsuren hinweg andauerten, weitere Forschung zu Kriegen als Kontinuitäts- oder Wandlungsfaktoren anregen. Dazu verspricht das gesammelte, online zugängliche Quellenmaterial, besonders die Ego-Dokumente aus den Einigungskriegen des Kaiserreichs, auch Ansatzpunkte für Kultur- und Neue Politische Geschichte(n). Erwächst hieraus vielleicht sogar einmal ein Kooperationsprojekt zwischen Linguistik, Geschichte und Informatik zur historischen (Alltags-)Sprache des Krieges?

Anmerkungen:
1 Transkriptionen stehen online zur Verfügung unter: https://www.winter-verlag.de/de/detail/978-3-8253-4642-3/Neumann_Soldatenbriefe/ (14.05.2020).
2 Peter Koch / Wulf Oesterreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36/1 (1985), S. 15–43.
3 Vgl. (auch von Neumann herangezogen) Nikolaus Buschmann / Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn 2001 sowie Klaus Latzel, Kriegsbriefe und Kriegserfahrung. Wie können Feldpostbriefe zur erfahrungsgeschichtlichen Quelle werden?, in: Werkstatt Geschichte 22 (1999), S. 7–23. Über die von Neumann konsultierten deutschen Verzeichnungs- und Digitalisierungsprojekte hinaus zeigt sich dieses breite historische Interesse auch international, etwa am Imperial War Museum (https://www.iwm.org.uk/history/letters-to-loved-ones) oder dem Center for American War Letters (https://www.chapman.edu/research/institutes-and-centers/cawl/index.aspx).

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