A. Oberdorf: Demetrius Augustinus von Gallitzin

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Titel
Demetrius Augustinus von Gallitzin. Bildungspionier zwischen Münster und Pennsylvania 1770–1840


Autor(en)
Oberdorf, Andreas
Erschienen
Paderborn 2020:
Anzahl Seiten
XVII, 409 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rainald Becker, Bayerische Geschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München

Andreas Oberdorfs Biographie über Demetrius Augustinus von Gallitzin, Sohn der berühmten Amalia von Gallitzin, lässt gleich in mehrfacher Hinsicht historisches Neuland sichtbar werden. Zunächst bietet die von Jürgen Overhoff (Münster) betreute Dissertation die erste moderne Gesamtdarstellung des in Westfalen aufgewachsenen, später in die USA ausgewanderten katholischen Priesters, Missionars und Bildungspioniers. Darüber hinaus steht Gallitzin für ein weithin unterschätztes, erst jüngst stärker beachtetes Kapitel der Forschung, nämlich das der katholischen Aufklärung in ihrer transatlantischen Verflechtung.1 Von John Carroll, dem ersten katholischen Bischof der Vereinigten Staaten von Amerika, einmal abgesehen, verkörperte Gallitzin wie kaum ein anderer Zeitgenosse des späten 18. Jahrhunderts diese vielfältigen Vernetzungen. Dabei treten mit Westfalen und Pennsylvania, den beiden Lebenswelten des Adligen, zwei Räume in den Blick, die bislang noch kaum in ihrem atlantischen Zusammenhang gewürdigt worden sind.

Vom Standpunkt der amerikanischen Geschichte aus ist die Studie wiederum als zentraler Beitrag zur Beziehung von Religion und Politik, von Kirche und Staat im Zeitalter der Early Republic einzustufen: Wie das katholische Denken auf die amerikanische Erfahrung konfessioneller Vielfalt reagierte, auf welche Weise die Kirche, die auf Transzendenz verwiesene Heilsanstalt, mit den irdischen Postulaten von Toleranz und Religionsfreiheit umging und ob sie sich in der Verfassungswirklichkeit der frühen USA zurechtfinden konnte, solche Fragen umreißen den amerikageschichtlichen Problemhorizont der Beobachtungen. Auch wenn bei Oberdorf der Name nicht fällt, seine Betrachtungen stellen doch die systemische Frage nach dem Verhältnis von katholischer Kirche und moderner Demokratie, wie sie Alexis de Tocqueville in seinem Essay über das Ancien Régime und die Revolution (1856) programmatisch formulierte und zugleich positiv beantwortete: Das Christentum, auch der Katholizismus, stehe dem Geist demokratischer Gesellschaften nicht entgegen; vielmehr mache die christliche Botschaft erst den Esprit der Demokratie möglich.2

Der Hauptteil der Dissertation stellt die besonders bemerkenswerte transatlantische Karriere von Demetrius Gallitzin in den Vordergrund: Dem Sohn eines russischen Diplomaten und einer preußischen Adligen, war der amerikanische Lebensweg nicht vorherbestimmt. 1770 in Den Haag geboren, zog er im Alter von neun Jahren zusammen mit der Mutter und seiner Schwester Marianne nach Münster. Amalia hatte sich von ihrem Mann getrennt, um sich der Erziehung ihrer Kinder im Geist pädagogischer Idealität widmen zu können. Dass ihre Wahl für diesen Zweck auf die westfälische Residenzstadt fiel, hatte mit deren Ruf als Vorort der katholischen Aufklärung zu tun. Demetrius wuchs im Mittelpunkt eines überregional ausstrahlenden intellektuellen Zirkels auf, des Gallitzin-Kreises. Nachdem Amalia mit ihren Kindern vom reformierten zum katholischen Bekenntnis übergetreten war, nahm sie unter maßgeblicher Förderung ihres Mentors Franz von Fürstenberg, Generalvikar und leitender Minister im Fürstbistum Münster, Einfluss auf die res publica litteraria. Ihr Kernanliegen bestand darin, sichere Katholizität mit aufklärerischen, empfindsamen und frühromantischen Strömungen zu verbinden.

Aus dieser Konstellation erwuchs die ungewöhnliche Entscheidung, Demetrius 1792 auf Grand Tour durch die USA zu schicken. Das Vorhaben verdankte sich einer politisch-historischen Bildungsabsicht: Amalia wollte ihren Sohn auf eine spätere administrative Laufbahn vorbereiten und ihn zugleich dem Einfluss seines Vaters entziehen, der für Demetrius eine Karriere in der russischen Armee anstrebte. Auch äußere Faktoren begünstigten die Entscheidung: Die USA galten als gelungenes Experiment einer bürgerlichen Revolution, während der immer näher an Deutschland heranrückende Terreur der französischen Revolution tiefe Abscheu hervorrief. Zudem ließen die Revolutionskriege die klassische Bildungsreise durch Frankreich und Italien als gefährliches, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen erscheinen.

Die Hoffnung der Mutter auf die Rückkehr ihres Sohnes sollte sich nicht erfüllen. Unter dem Eindruck seines Reisebegleiters, des Geistlichen Franz Xaver Brosius, vor allem unter dem Einfluss von John Carroll, den Amalia selbst um Hilfe gebeten hatte, wandte sich der junge Gallitzin in der Neuen Welt dem Priestertum zu. In Baltimore durchlief er das Exilseminar der aus dem revolutionären Frankreich geflohenen Sulpizianer mit dem Ziel, in die amerikanische Mission gehen zu wollen. Nach seiner Priesterweihe übernahm Gallitzin ab 1799 die Seelsorge im äußersten Westen von Pennsylvania. In jahrzehntelanger Missionsarbeit bis zu seinem Tod 1840 erreichte er den Aufbau einer rund 10.000 Seelen umfassenden Pfarrei um die von ihm begründete (und heute noch bestehende) Gemeinde Loretto. Der deutsche Adlige zählte damit zur Avantgarde der katholischen Kirche in Pennsylvania – zusammen mit den schon seit Beginn des 18. Jahrhunderts in Philadelphia wirkenden (Ex-)Jesuiten.

Dem bewegten interkontinentalen Lebenswandel seines Protagonisten nähert sich Oberdorf auf akribische Weise an. In der Untersuchung sind Funde aus über 30 in- und ausländischen Archiven zusammengetragen, aus amerikanischen Quellen ebenso wie aus deutschen, niederländischen, französischen, italienischen und russischen. In konzeptioneller Hinsicht beeindruckt die Studie durch ihren breiten Zugriff auf den Kontext. Die unterschiedlichen Schauplätze von Gallitzins Biographie sind sorgfältig ausgeleuchtet. Oberdorf widmet sich mit dem Kreis von Münster (Teil I, Kap. 3–5) nicht nur dem intellektuellen Sozialisationsraum von Demetrius; er liefert auch ein anschauliches Porträt des frühen amerikanischen Katholizismus (Teil II, Kap. 2–3). Mancher konfessionellen Einseitigkeit in der deutschsprachigen Atlantic History – mit ihrer starken Betonung des protestantischen Moments – tritt die differenzierte Darstellung wirkungsvoll entgegen.3

Hohe Aufmerksamkeit verdient indes das intellektuelle Erbe des Geistlichen. Dass sich Oberdorf Gallitzins bislang kaum ausgewertetes publizistisches Œuvre vornimmt (Teil II, Kap. 5), ist daher als methodische Kernleistung der Monographie zu bewerten. Der Autor berührt damit die Frage nach dem Selbstverständnis der katholischen Kirche in den frühen USA – ein Thema, das Gallitzin in seiner „Defence of Catholic Principles in a Letter to a Protestant Minister“ (1816) aufgriff. Mit ihr reagierte er auf die antikatholischen Attacken eines protestantischen Geistlichen und dessen Warnung vor der mangelnden Kompatibilität der Kirche mit den Werten der amerikanischen Verfassung. Demgegenüber betonte der Missionar das bürgerliche Recht auf freie Religionsausübung und kirchliche Selbstverwaltung, und zwar gerade unter Rekurs auf die Verfassungsgebote der Republik. Oberdorf erkennt hierin eine spezifisch amerikanische, nämlich staatskirchenfreie Variante der katholischen Aufklärung: Als „gemäßigte ‚katholische Mitte‘“ (S. 341) habe diese einen geachteten Platz in der Gesellschaft der frühen Moderne gesucht und gefunden. Gewiss ist dieser Einschätzung zuzustimmen. Gleichwohl blieb dieses beachtliche Plädoyer für die Religionsfreiheit nicht nur auf die Katholiken vom historischen Zuschnitt Gallitzins beschränkt. Hier zeigt sich ein Argumentationsmuster, das in der Geschichte des US-amerikanischen Katholizismus seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auftauchte. Die Forderung nach Religionsfreiheit – als Recht auf institutionelle Selbstbestimmung der Kirche ebenso verstanden wie als individuelle Gewissensfreiheit – bestimmte das ultramontane Milieu. Zudem bot es intellektuelle Hilfe in den Auseinandersetzungen mit den offen antikatholischen Parteiströmungen auf protestantischer Seite, den sogenannten Know Nothings und Anti-Catholic Bigots. Auch heute noch beherrscht das Thema die amerikanische Innenpolitik, freilich erweitert um eine bemerkenswerte ökumenische Komponente: Das Beharren auf konstitutionell garantierter religious liberty ist ein gemeinsames Anliegen von Katholiken und Evangelikalen, nun gerichtet gegen die weltanschaulichen Zumutungen des progressiven Säkularismus. Bemerkbar macht sich dieser tiefe Grundsatzkonflikt auf allen Ebenen des politischen Systems – bei den Personalentscheidungen um die Plätze im Obersten Verfassungsgericht gleichermaßen wie bei den Volksentscheiden zum Abtreibungsrecht in den einzelnen Bundesstaaten, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen.4

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu insbesondere: Jürgen Overhoff / Andreas Oberdorf (Hrsg.), Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika (Das achtzehnte Jahrhundert, Supplementa 25), Göttingen 2019.
2 Vgl. Alexis de Tocqueville, L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1856, Buch I, Kap. II, S. 11.
3 Zu diesem Forschungsdefizit und dem Postulat seiner Revision schon früher: Michael Zöller, Washington und Rom. Der Katholizismus in der amerikanischen Kultur (Soziale Orientierung 9), Berlin 1995; Werner Kremp (Hrsg.), Katholizismus im atlantischen Raum (Atlantische Texte 22), Trier 2004.
4 Vgl. etwa Charles J. Chaput OFM Cap., Render Unto Caesar. Serving the Nation by Living Our Catholic Beliefs in Political Life, New York 2008 (22012); Richard J. Neuhaus, America Against Itself. Moral Vision and the Public Order, Notre Dame u.a. 1992.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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