Zittel, Claus (Hrsg.): Wissen und soziale Konstruktion. . Berlin 2002 : Akademie Verlag, ISBN 3-05-003725-3 301 S. € 49,80

Landwehr, Achim (Hrsg.): Geschichte(n) der Wirklichkeit. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte des Wissens. Augsburg 2002 : Wißner-Verlag, ISBN 3-89639-361-8 390 S. € 20,00

Kretschmann, Carsten (Hrsg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003 : Akademie Verlag, ISBN 3-05-003770-9 409 S. € 49,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Etzemüller, SFB 437 "Kriegserfahrung", Eberhard Karls Universität Tübingen

Im Alltag weiß man viel, und das mit aller Gewissheit; den meisten Wissenschaftlern geht es bei ihrer Arbeit nicht anders. Was aber ist „Wissen“ und wie findet man es? Drei interessante Sammelbände gehen diesen Fragen nach. Zunächst zeigt der von Achim Landwehr herausgegebene Band über „Geschichte(n) der Wirklichkeit“ exemplarisch die Schwierigkeiten, „Wissen“ historiographisch zu erfassen. Trotzdem er seine Ansprüche nicht einlösen kann, ist der Band anregend und sind die meisten Beiträge für sich genommen sehr interessant, etwa — um nur zwei herauszugreifen, die mir besonders gefallen haben — Ralf-Peter Fuchs‘ Aufsatz über die (mangelnden) Raumkenntnisse frühneuzeitlicher Untertanen, die sich in den kompliziert verschachtelten Herrschaften nicht zurechtfanden, kaum wussten, zu welcher Obrigkeit ihr Dorf gehörte und wo diese geografisch zu lokalisieren war. Regelmäßige Grenzbegehungen und spezifische Abgaben sollten den Untertanen eine Vorstellung davon vermitteln, wie Raum und Herrschaft zusammenfielen. Oder Anton Tantners Darstellung der hartnäckigen Versuche österreichischer Behörden, „Vermischungen“ aller Art durch Numerierungen und tabellarische Erfassungen in Ordnung zu verwandeln: miteinander vermischte Herrschaften und Untertanen in einem Ort, in einem Haus vermischte Familien oder gar, als Folge von Umzügen, vermischte Identitäten einzelner Untertanen.

Landwehr umreißt in der Einleitung die Probleme. „Wissen“ beziehe sich auf die „Wirklichkeit“ und erhebe den Anspruch, „wahr“ zu sein. Gibt es aber DIE Wirklichkeit oder vielmehr nur differierende Wirklichkeiten? Deshalb lässt Landwehr diesen problematischen Begriff rasch fallen, denn die Gesellschaft verständige sich darüber immer wieder aufs Neue, allerdings unter dem Stichwort „Wissen“. Was aber ist Wissen? Es ist ein historisches Phänomen, das man nicht bestimmen, sondern dessen Entstehung und Funktionieren in ganz unterschiedlichen Kontexten man nur beschreiben könne. Was lernen wir also in den empirischen Aufsätzen über „Wissen“? Fuchs analysiert die Technik, spezifische Kenntnisse zu schaffen. Claudia Stein geht es um die Wahrnehmung der „Franzosenkrankheit“, d.h. um die Deutung von Zeichen; Valentin Groebner um die Lehre von Zeichen. Tantner beschreibt die Versuche, Unterschiede zu fixieren, um Ordnung zu gewinnen. Michaela Völkel nimmt sich der Speicherung, Vermittlung und Zweckentfremdung von Information in Druckgraphiken an; Dietrich Erben der „Geschichtsüberlieferung durch Augenschein“ im Ereignisdenkmal. Brigitte Sölch beleuchtet die Konstruktion von Geschichte durch museale Sammlungen und die politischen Zielsetzungen, die sich damit verbinden; Gabriele Bickendorf die Sichtbarmachung von Kunst und Geschichte. Silvia Verena Tschopp behandelt die komplexe Genese und Überlieferung von Geschichtsbildern sowie deren interessegeleitete Vereinnahmung; Rebekka von Mallinckrodt die durch Katechismen vermittelten doktrinären Wahrheiten; Stephan Bachter die Produktion und den Erfolg von Zauberbüchern.

Durch diese Aufzählung ist das Problem beschrieben. In jedem Beitrag taucht der Begriff „Wissen“ auf — nur Erben benutzt nicht einmal dieses Wort —, er kann aber mühelos durch andere Begriffe ersetzt werden. Dadurch verliert das Phänomen „Wissen“ sehr an Schärfe, und dieses Manko scheint mir durch zweierlei bedingt: Erstens kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Beiträge für diese Tagung einfach unter dem Stichwort „Wissen“ zusammengefasst wurden; sie hätten ohne jede Änderung auch in anderen Kontexten publiziert werden können. Das schmälert nicht automatisch ihren Wert. Doch eine zweite Crux ist die, dass fast alle Beiträge „Wissen“ einfach voraussetzen, statt es genauer zu untersuchen. Katechismen vermitteln nun einmal Dogmen — in welcher Form ist das „Wissen“? Druckgraphiken sind zunächst einmal nur Bilder, sie speichern und vermitteln nicht in jedem Fall Wissen, sondern sind — ohne Rezeption — „leer“. Auch Geschichtsbilder oder Zeichensysteme wird man nicht umstandslos mit „Wissen“ ineinssetzen dürfen.

Über „Wissen“ an sich erfährt man in diesem Band also nicht viel. Liest man jedoch die Beiträge gegen den Strich, so erhält man zahlreiche Anregungen, wie Wissen zustandekommt. Museale Ordnungen sind nicht einfach nur die Voraussetzung für die Visualisierung und Vermittlung von Wissen, wie Sölch schreibt, sondern sie schaffen durch die Strukturierung und Visualisierung von Bruchstücken überhaupt erst Wissen, indem sie deutende Ordnungen herstellen. Politik instrumentalisiert und verzerrt nicht einfach nur Wissen, wie es in mehreren Beiträgen anklingt, sondern provoziert es überhaupt erst. Vermischungen, wenn man denn an ihnen leidet, stimulieren Fixierungen, also Ordnung und damit Wissen, wie es um die Unordnung der eigenen Herrschaft wirklich bestellt ist. Die Identifizierung von Zeichen ist eine wesentliche Bedingung, Krankheiten unterscheiden und dann Wissen über sie produzieren zu können — aber ohne Wissen keine Unterscheidung von Zeichen! Diethard Sawicki hat die Denkrichtung auf den Punkt gebracht: „Wissen existiert nicht als Stoff im Reich der Ideen, um dann organisiert, geordnet, akkumuliert zu werden. Es ist vielmehr etwas Hybrides, das erst aus Diskursen, Praktiken und den Dispositionen dessen, der es beschreiben will, entsteht“ (S. 370). Wenn man also beim Lesen alle Aufsätze dieses Bandes vernetzt, so gewinnt man eine Ahnung davon, wie das Netzwerk aussieht, in dem sinnlose Bruchstücke, Vermischungen entzogen, zu Informationen gerinnen, mit Bedeutung geladen, in Kontexte gestellt, über Zeit gespeichert schließlich dogmatisiert zu Wissen mutieren — womit automatisch zugleich bereits überwundenes oder zu überwindendes Nicht-Wissen entsteht. Kein Nicht-Wissen ohne Wissen, und beide sind ein Ergebnis von immer neuen und unterschiedlichen Versuchen, die Welt zu ordnen, um handeln zu können. In genau diese Richtung zielt Achim Landwehrs lesenswerter Beitrag zu Beginn des Bandes: „Die Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, erscheint uns als real, weil sie sich aus Wissensbeständen speist, die sie mit Bedeutung erfüllen.

Wissen läßt sich daher als ein Ensemble von Ideen begreifen, das Objekte mit bestimmten Eigenschaften versieht und von einer sozialen Guppe als gültig und real anerkannt wird“ (S. 71). Von daher ist zu untersuchen: „Wo, wie und von wem wird welches Wissen produziert? Auf welche Weise wird dieses Wissen rezipiert? Und unter welchen Bedingungen hat Wissen die Chance, sich zu überlokal bekanntem beziehungsweise gültigem Wissen zu entwickeln?“ (S. 72). Seine Autoren haben Landwehr bei diesem anspruchsvollen Unternehmen leider etwas im Stich gelassen (und ungeklärt bleibt die Frage, wie man Wissen beschreiben kann, wenn man keinen vorgängigen Wissensbegriff hat).

Der von Claus Zittel herausgegebene Sammelband spürt der Frage nach, wie Wissen sozial konstruiert wird. Dabei sollen natur- und geisteswissenschaftliche Methoden und Verständnisse der sozialen Konstruktion verglichen sowie theoretische Probleme und Grenzen sozialkonstruktivistischer Ansätze beleuchtet werden. Zu Beginn skizziert Alexander Becker das neue Fundament, das die jüngere Wissenschaftstheorie dem „Wissen“ gebaut hat: Nicht mehr der Bezug auf eine wie auch immer geartete „Wahrheit“, sondern Begründungspraktiken machen die Gültigkeit von Wissen aus. „Damit unsere Überzeugungen als Wissen gelten, müssen sie auf die richtige Weise zustandegekommen sein. […] Unsere Überzeugungen mögen wahr sein; ob sie wahr sind, wissen wir jedoch keineswegs immer. Deshalb brauchen wir Begründungen, wenn wir Wissensansprüche erheben. Sie treten in unserer epistemischen Situation an die Stelle der Wahrheitsbedingungen“ (S. 15). Nur durch Begründungen kann auf Zweifel reagiert werden; als „Wissen gilt, woran im Moment keine Zweifel angebracht erscheinen, auch wenn Zweifel sinnvoll sind“ (S. 20).

Wer diese plausible Neubegründung von „Wissen“ akzeptiert, der wird keine grundsätzlichen Schwierigkeiten mit einem sozialkonstruktivistischen Wissensbegriff haben. Im Einzelnen gibt es diese Schwierigkeiten aber. Hajo Greif macht am Beispiel der Debatte zwischen Bruno Latour und David Bloor deutlich, dass es deutliche Differenzen im Lager konstruktivistischer Theoretiker gibt, die die Frage betreffen, wie Wissen konstruiert wird: Welche Rolle für die Wissensproduktion nimmt die physikalische Welt ein, dient sie ausschließlich dazu, menschliche Kontruktionsarbeit auszulösen? Oder kann sie sie determinieren, etwa indem „Apparate, wissenschaftliche Objekte und natürliche Gegenstände als Akteure auf[treten], die mit eigener Stimme ihre Teilhabe an den sozialen Aushandlungsprozessen in den Wissenschaften einfordern“ (S. 29)? Der Streit selbst ist schon ein Beispiel für die Konstruktion von Wissen, in diesem Fall einer Theorie über die Konstruktion von Wissen. Die unterschiedlichen Positionen gerinnen zu Glaubensbekenntnissen und werden damit zu Waffen in einem „wissenschaftliche[n] Bürgerkrieg“. Es „geht darum, wer sich im Feld der akademischen Institutionen behaupten wird und wer die Regeln für die Institutionen der Wissenschaftsforschung schreiben wird“ (S. 28).

Alfred Nordmann unterzieht die „sozialkonstruktivistische Entlarvung der gesellschaftlichen und wissenskulturellen Bedingtheit unserer Tatsachen“ (S. 63) einer kritischen Analyse, Wolfgang Detel tut dasselbe mit Biagiolis Studie über den Höfling Galilei sowie Shapin und Schaffers Rekonstruktion der Diskussion zwischen Hobbes und Boyle über den Status des Experiments. Nordmann will die Existenz von „Naturtatsachen“ verteidigen, Detel prangert das „höfisch-mafiöse Patronage-System“ (S. 73) der Frühen Neuzeit an; beide bauen sozialkonstruktivistische Pappkameraden auf, die sie dann bequem abschießen können. Claus Zittel schließlich plädiert angesichts gravierender Probleme dafür, „weg von Modellen der sozialen Konstruktion hin zu Modellen der kulturellen Konstitution von Wissen“ (S. 97) voranzuschreiten und den Sozialkonstruktivismus kulturalistisch zu dekonstruieren. Seiner Meinung nach ist es nicht die Qualität von Begründungen, die Überzeugungen zu Wissen werden lässt, „sondern ein diffuses Gemenge aus Interessen, Hintergrundannahmen und Konventionen, die zu einer Stabilisierung der Überzeugung führen: Wissen als fixation of belief“ (S. 101). Und: „Wissen ist konventionell fixierte Meinung; d.h. aus traditioneller Sicht: Wissen ist schlecht begründete Meinung“ (S. 104). Erfordert diese überzeugende Sichtweise aber gleich einen neuen, „kulturalistischen“ Ansatz mit neuer Terminologie, weil sie tatsächlich inkompatibel ist mit dem klassischen Sozialkonstruktivismus (oder Beckers Ansatz)? Oder ist dieses Plädoyer selbst ein wissenschaftsstrategischer Einsatz, um nunmehr Ludwik Fleck gegen Latour, Bloor und andere positionieren zu können? So ganz überzeugt mich der kritische Ton dieser Beiträge nicht, denn hier wird teilweise ein eher schmales Segment von „Konstruktivismus“ seziert. Doch geben sie in jedem Falle gute Hinweise, Stärken und Schwächen konstruktivistischer Ansätze genau zu prüfen.

Die Fallstudien des Bandes beleuchten dann unterschiedliche Weisen sozialer Konstruktionen. Für Trevor Pinch wird Sound und dessen Bedeutung sozial konstruiert; Uljana Feest untersucht psychologiehistorisch, wie nicht Tatsachenaussagen über ein Phänomen, sondern die Konzeptionalisierung des Phänomens selbst konstruiert wird; Peter Münte und Ulrich Oevermann stellen am Beispiel der Gründung der „Royal Society“ die Institutionalisierung der Erfahrungswissenschaften und die Entstehung eines neuen wissenschaftlichen Habitus vor (inhaltlich ist dieser Beitrag einer der spannendsten, wegen seines grässlichen Wissenschaftsjargons leider auch einer der am mühsamsten zu lesenden). Thomas Kailer führt vor, wie biologistische Sozialtheorien durch den Rekurs auf Naturwissenschaften in Tatsachenwissen verwandelt werden (sie müssen „die Sicherheit einer Wahrheit bieten, nicht aber mit dieser übereinstimmen“ [249]), während Katrin Koehl die wissenschaftliche Praxis als Teil gesellschaftlicher Sinnstiftungsprozesse in den Blick nimmt: Gemeinsam ist Geistes-, Sozial- wie Naturwissenschaftlern, dass sie unter dem Eindruck gesellschaftlicher Erfahrungen wie dem Kalten Krieg, denen sie sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht entziehen können, kulturelle Wissensbestände jeweils neu verknüpfen; die Art wie sie das machen, verweist seismographisch auf die Verfasstheit einer Gesellschaft und schafft „neue Wissensformen und Erfahrungsgehalte, die ihrerseits in die kulturelle Tradition eingehen“ (S. 259). Cora Bender, Andreas Niederberger und Gundula Grebner schließlich geht es um den Einsatz kulturellen Wissens zur Identitätskonstruktion bzw. der Herstellung sozialer Hierarchien.

Wissen wird nicht nur produziert, es muss auch verbreitet werden. Einer spezifischen Form der Wissensverbreitung, nämlich der Popularisierung von Wissen, nehmen sich die Autoren des von Carsten Kretschmann herausgegebenen Sammelbandes an. Die zeitliche Spanne reicht von der Antike bis ins 20. Jahrhundert; thematisch werden Philosophie, Religion, Kunstgeschichte, Geschichtsschreibung, Museen oder der Sport daraufhin untersucht, inwieweit sie ein Medium der Wissenspopularisierung darstellen. Das ältere hierarchische Diffusionsmodell sollte für den Band gerade nicht Pate stehen: Wissensproduktion und Transfer, so der Herausgeber, sollten nicht als getrennte Sphären betrachtet werden, der Transfer von Wissen nicht als eine vereinfachende Trivialisierung durch Eliten für ungebildete Schichten. Vielmehr stünden, der jüngeren Forschung zufolge, Produktion und Distribution in einem Kontinuum, in dem „Wissenschaftler, Popularisatoren und Öffentlichkeit nicht mehr als voneinander getrennte Pole eines linearen Prozesses, sondern als Akteure einer wechselseitigen Kommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten erscheinen“ (S. 9). Popularisatoren verbreiten nicht nur Wissen, sie schaffen durch diese Arbeit zugleich neue und eigenständige Wissensbereiche. Verbreitung, Transformation und Neukonstitution von Wissen gehen in der Popularisierung Hand in Hand. Da der Popularisierungsbegriff in der Forschung selbst nicht geklärt ist, ist den Autoren ein weitgefasstes Konzept auf den Weg gegeben worden, demzufolge sich Popularisierung durch mehrere Punkte auszeichnet: 1. zwischen Produzenten und Rezipienten besteht ein Wissensgefälle, 2. die Zahl der Rezipienten ist größer als die der Produzenten, 3. die Rezipienten bilden ein Massenpublikum, 4. Popularisierung geschieht im Regelfall intentional und bedient sich 5. zumindest potentiell breitenwirksamer Medien. Dass man dieses Modell „nicht wahllos durch die Epochen deklinieren“ dürfe (S. 15), merkt Kretschmann in der Einleitung an, und seine Mitstreiter haben sich an diese Mahnung gehalten.

Wie also wird Wissen popularisiert? Da waren beispielsweise antike Philosophen, die als Wanderlehrer ein ökonomisches Interesse an ein einer großen Zuhörerzahl hatten und zugleich eine lebenspraktische Gelehrsamkeit verbreiteten. Da waren religiöse Häresiographien, die Irrlehren durch Aufklärung vorbeugen und das göttlich legitimierte Wissen verbreiten sollten, gleichzeitig aber Gefahr liefen, auch die Gegenseite zu popularisieren. Je mehr Interpretationen der Heiligen Schrift es gab, desto notwendiger war ein Handbuch, das einen konzisen Überblick über die Vielfalt der Auslegungen bot. Petrus Comestors „Historia Scholastica“ war „im Kern ein Ergebnisprotokoll aller Kommentare zum wörtlichen Sinn der Schrift“ (S. 79); durch diesen Protokollstil verwandelte es die konkurrierenden Interpretationen zu EINEM autoritativen Text über die Bibel, der dann gleichsam an die Stelle der Bibel selbst treten konnte. In Kirchen wurden durch Wandmalereien, Statuen und Rituale der Grundbestand religiösen Wissens gelehrt, durch die „tägliche Betrachtung der immergleichen Figuren und die andächtige Teilnahme am Meßopfer“ (S. 110). Der Bürgerkönig Louis-Philippe ließ in Versailles eine Galerie eröffnen, um das Legitimationsdefizit der Julimonarchie abzufangen: Ein ausgeklügeltes Bildprogramm konstruierte und popularisierte als „Wahrheit höheren Ranges“ das Wissen um die französische Nation, die durch König und Volk gemeinsam geschaffen worden sei, und den historischen Auftrag des Hauses Orleans, deren Einheit zu wahren. Friedrich Christoph Schlossers „Weltgeschichte für das deutsche Volk“ transformierte den wissenschaftlichen Forschungsdiskurs mit all seinen offenen Fragen in eine kanonisierte Geschichtsschreibung, verwandelte also steten wissenschaftlichen Zweifel in autoritatives Wissen. Justus von Liebig publizierte seine „Chemischen Briefe“, um seinen Lesern durch diese spezielle dialogische Form einen kundigen Bericht aus einer unbekannten Welt zu bieten und gleichzeitig die Bedeutung der Chemie für den gesellschaftlichen Fortschritt darzulegen. Massenhaft gedruckte Bilder reichten nicht einfach nur Kulturgut nach unten durch, sondern stellten eine eigene Kommunikationsform dar, indem sie abbildeten, veranschaulichten, bewerteten und dadurch Orientierung schufen; sie mobilisierten ein Wissen des Betrachters, das weit über den Inhalt der einzelnen Bilder hinausging. Die Dresdner Hygieneausstellung präsentierte ihre medizinisch-biologischen Informationen je Zielgruppe (Laien bzw. Experten) differenziert aufbereitet, setzte sie mit der Lebenswelt der Menschen in Beziehung und wendete sie normativ in hygienische Verhaltensanweisungen: Den Experten wurden Wege gezeigt, den Bevölkerungskörper zu organisieren, den Laien, den eigenen Körper einer hygienischen Disziplin zu unterwerfen.

Soweit einige Beispiele. Die Qualität der Beiträge variiert. In der simpleren Fassung bedeutet Popularisierung schlicht die massenhafte Verbreitung von Wissen durch Experten an Laien. Doch in mehreren Aufsätzen wird die Komplexität von Wissensproduktion und Wissenspopularisierung eindrucksvoll anschaulich. Durch Schlossers „Weltgeschichte“ etwa wird der Prozess der Gelehrsamkeit, das ständige Fragen, Zweifeln und Neubewerten, gerade nicht popularisiert. Diese Gelehrsamkeit bleibt den Wissenschaftlern vorbehalten und muss in der populären Darstellung wegfallen, damit die Wissenschaft sich dem Publikum öffnen kann. Nur Ergebnisprotokolle können Popularität gewinnen, und der Laie hat sie zu akzeptieren. Justus von Liebigs Briefe wollen durch ihre altbewährte dialogische Form die Asymetrie zwischen Experten und Laien überwinden. Doch sie wenden sich nur an die gebildeten Laien, in Differenz zu ungebildeten Schichten, sie führen also eine soziale Hierarchie in die Popularisierung ein. Auch der Darwinismus blieb nicht ungeschoren, als er von Turnern und Sportlern genutzt wurde, um die eigene Position in der Gesellschaft zu stärken. In Vereinszeitschriften wurde er bis zur Unkenntlichkeit popularisiert. Und am „Fall Haarmann“ wird vorgeführt, wie ein Verbrechen als Katalysator dient, Wissen aus verschiedenen Kontexten in einen neuen Kontext zu überführen und dadurch zu transformieren. Es wurde nicht einfach durch Gericht, Wissenschaft und Medien gesichertes Wissen über Kriminalität und über den grausigen Stückmörder Haarmann abgerufen, verteilt und produziert, vielmehr wurde durch Volksstimmung, Medien und Wissenschaft jegliches verfügbares „Wissen vom Verbrecher“ mobilisiert und zu einer neuen Wissenswirklichkeit zusammengesetzt. Dabei verschmolzen Tatsachen, Mythen, Gerüchte und Kommentare zu einer „medialen Kriminalität“ und zu einer neuen akzeptablen „Wahrheit“ über Haarmann, die seine exeptionellen Taten überhaupt erst wieder in verhandelbare Sinnzusammenhänge einordnete.

Was „Wissen“ ist, erklärt keiner der drei Bände. Wie man aber dieses schwer fassbare Gebilde auf den Ebenen Produktion und Distribution in seinen zahlreichen Facetten einkreisen kann — und wo die Probleme liegen —, machen die Beiträge sehr gut deutlich, selbst dann, wenn sie manchmal das Thema verfehlen.

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