K. Fischer-Hupe: Victor Klemperers "LTI. Notizbuch eines Philologen"

Cover
Titel
Victor Klemperers "LTI. Notizbuch eines Philologen". Ein Kommentar


Autor(en)
Fischer-Hupe, Kristine
Reihe
Germanistische Linguistik Monographien 7
Anzahl Seiten
X+562 S., 20 Abb.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Waltraud Sennebogen, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Spätestens seit der auf seinen Tagebüchern der Jahre 1933-1945 basierenden Verfilmung des Lebens Victor Klemperers ist der Dresdner Romanist und Vetter des Dirigenten Otto Klemperer auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. 1 Doch bereits im Sommer 1947 hatte der Philologe ein Werk zur Sprache im ‚Dritten Reich‘ vorgelegt, das auf seinen Tagebuchnotizen beruhte und das bis heute nicht nur für die sprachwissenschaftliche Diskussion prägend ist: „LTI. Notizbuch eines Philologen“. 2 Es war die erste Veröffentlichung zur „Lingua Tertii Imperii“ – der „Sprache des Dritten Reiches“ – nach 1945. Sie blieb in der ihr eigenen Verbindung von Authentizität und Wissenschaftlichkeit – in ihrer bemerkenswerten Mischung von Unmittelbarkeit des Erlebens wie des Erlebten mit mühevoll aufrecht erhaltener philologischer Distanz – bis heute unübertroffen.

In ihrer bei Alfred Schönfeldt am Germanistischen Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel entstandenen Dissertation setzt sich Kristine Fischer-Hupe intensiv mit dieser Publikation auseinander. Hinter dem spartanischen Untertitel „Ein Kommentar“ verbirgt sich eine Arbeit, die inhaltlich weit über den dadurch vorgegebenen Rahmen hinaus geht.

In einer instruktiven Einleitung gibt Fischer-Hupe die wichtigsten Informationen zu Autor und Quellen und erläutert ihr methodisches Vorgehen (S. 1-11). Danach beschreibt sie im ersten Kapitel die Entstehungsgeschichte des ‚LTI‘ (S. 13-76). Sie setzt sich dabei differenziert mit Klemperers ‚Vorarbeiten‘ der Jahre 1933-1945 und der eigentlichen Ausarbeitung der Jahre 1945-1946 auseinander. Fischer-Hupe analysiert seine Arbeitsweise und macht sie nachvollziehbar; sie vergleicht auch ganz konkret ‚LTI‘ und Tagebuch.

Anschließend wird im umfangreichen zweiten Kapitel die Editions- und Rezeptionsgeschichte des ‚LTI‘ behandelt (S. 77-265). Fischer-Hupe nennt nicht nur die einzelnen Ausgaben; sie berücksichtigt vielmehr die deutsch-deutsche Problematik, die sich insbesondere auch im „Ringen um den Titel“ der westdeutschen Ausgaben des zuerst in der sowjetischen Zone erschienenen Buches spiegelt (S. 90-96). Die Rezeptionsgeschichte selbst betrachtet Fischer-Hupe sodann ausgesprochen detailliert und differenziert. Der umfangreiche Abschnitt über die Rezeption in der Öffentlichkeit (S. 97-190) orientiert sich an den spezifischen Gegebenheiten der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg: Zunächst liegt der Fokus auf der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte, insbesondere auf Rezensionen und Leserbriefen. Entsprechend der historischen Entwicklung beleuchten die folgenden Unterkapitel überblicksartig die Rezeption des Buches in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Abschnitt über die Rezeption im ‚wiedervereinigten‘ Deutschland, der auf den spezifischen Kontext der Tagebuchveröffentlichung rekurriert, steht am Ende dieses Teilkapitels.

Der Aufnahme des ‚LTI‘ in der Sprachwissenschaft ist ein eigenes Teilkapitel gewidmet (S. 191-244). Vor dem kurz skizzierten Hintergrund der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 im Allgemeinen setzt sich Fischer-Hupe mit dem ‚LTI‘ innerhalb der Sprachwissenschaft auseinander. Unter anderem thematisiert sie dabei die Rolle des ‚LTI‘ im „kalten Sprachkrieg“. Am Ende des Teilkapitels steht schließlich der vergleichende Blick auf die Rezeption des ‚LTI‘ in der Sprachgeschichtsschreibung von DDR und Bundesrepublik. Zwei weiterführende Passagen, die sich mit der Rezeption des ‚LTI‘ in anderen wissenschaftlichen Disziplinen und im Ausland befassen, runden dieses Großkapitel ab (S. 245-262).

Im dritten Teil der Arbeit thematisiert Fischer-Hupe anhand von acht Kommentaren zu spezifischen Problemen wichtige inhaltliche Aspekte des ‚LTI‘ (S. 267-326). Sie berücksichtigt in diesem Kapitel die in der Forschung besonders häufig und kontrovers diskutierten Fragen: Das Spektrum ihrer umfassenden Analyse reicht vom Titel des Buches über Klemperers Sprachauffassung und Sprachgebrauch bis hin zur kritischen Untersuchung einzelner Charakteristika der ‚Lingua Tertii Imperii‘ – wie etwa dem umstrittenen Kapitel Klemperers zu ‚LTI‘ und ‚LQI‘. 3

Auf diese inhaltlichen Erläuterungen folgt mit dem vierten Kapitel der eigentliche, sehr umfangreiche und äußerst detaillierte Stellenkommentar zum ‚LTI‘ (S. 327-400). Mehr als nur eine Ergänzung dieser enormen Arbeitsleistung ist das sorgfältige Register des fünften Kapitels, das sich in Wort- und Sachregister, Personenregister und Register der Orts- und geografischen Namen gliedert (S. 401-435). Das als Exkurs gekennzeichnete sechste Kapitel zu Klemperers Auffassungen über ‚Reinheit‘ und ‚Einheit‘ der Sprache nach 1945 (S. 437-443), sowie eine knappe, jedoch sehr pointierte Zusammenfassung (S. 445-451) beschließen den Textteil der Untersuchung. Ein umfangreicher Anhang ergänzt, vertieft und illustriert anhand von zwölf Einzelaspekten die Argumentationsführung der Arbeit (S. 453-518), bevor ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 519-561) noch einmal verdeutlicht, wie intensiv sich Fischer-Hupe mit ihrem Thema auseinander gesetzt hat. Denn Fischer-Hupe beschäftigt sich nicht nur auf breitester Basis mit dem vorhandenen Quellenmaterial, sondern sie versteht es, sowohl den historischen als auch den sprachwissenschaftlichen Kontext herzustellen. Ihr systematischer und kritischer Umgang mit den Quellen ist dabei auch für den Historiker vorbildlich.

Zugleich eröffnet sie der Forschung dadurch neue Perspektiven.4 Die fundierte Kenntnis der sprachwissenschaftlichen Literatur verbindet sich bei Fischer-Hupe mit einer besonderen Sensibilität für die deutsch-deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Im Westen wurde das Buch erst 1966 publiziert, nachdem sich selbst der Verleger Joseph Melzer zunächst noch dagegen gewehrt hatte, „das Werk eines ‚Stalinisten‘ zu protegieren“ und davon nur mühevoll von seinem „quasi Verlagsleiter“ Jörg Schröder hatte überzeugt werden können (S. 91). Der Verkauf verlief dann anfangs auch ausgesprochen schleppend (S. 94f.). Nichtsdestotrotz war das ‚LTI‘ bereits vor seinem Erscheinen im Westen von den dortigen – journalistischen wie wissenschaftlichen – Sprachkritikern rezipiert und im „kalten Sprachkrieg“ vor dem Hintergrund der Totalitarismus-Debatte unter der Formel „Rot = Braun“ instrumentalisiert worden (S. 211-214). Dass Fischer-Hupe der deutsch-deutschen Editions- wie Rezeptionsgeschichte des ‚LTI‘ breiten Raum einräumt und dem Werk Klemperers bzw. der Debatte darüber so letztlich auch als Zeugnis einer doppelten deutschen Sprachgeschichte eine zentrale Bedeutung zuweist, ist ein innovativer Ansatz, der wegweisend sein dürfte. Ihre acht Kommentare zum ‚LTI‘ sind nicht nur ein hervorragender Forschungsüberblick, sondern zugleich auch die erste vollständige und tiefgreifende Analyse des Buches im sprachwissenschaftlichen wie historischen Gesamtzusammenhang.

Der eigentliche Kommentar zu den Einzelstellen und das Register schließlich sind von einer Sorgfalt und Genauigkeit, die auch den Maßstäben einer historisch-kritischen Edition genügt. Kommentar wie Register sind zudem durch eine ansprechende Gliederung, ein hohes Maß an Übersichtlichkeit und angemessene Hinweise gut zu handhaben. Die Stellenkommentare erschließen nicht nur den historischen Hintergrund und erleichtern das Verständnis einiger heute eben nicht mehr „selbstverständlicher“ Textpassagen, sondern gehen darüber hinaus: Ermöglichen sie doch eine Relektüre von Klemperers ‚LTI‘ auf einer bisher unerschlossenen, verstreuten und mitunter schwer zugänglichen Informations- wie Materialbasis.

Methodische Genauigkeit und Sicherheit verbinden sich in dieser Dissertation mit der Fähigkeit zu stilistischer und argumentativer Klarheit der Darstellung. Der souveräne Umgang Fischer-Hupes mit ihrem Forschungsgegenstand und auch mit der Sprache selbst macht darüber hinaus die Lektüre des Buches zu einem – ansonsten in der Wissenschaft leider viel zu seltenen – Vergnügen, ohne dass dabei auch nur im Geringsten der wissenschaftlich hohe Standard vernachlässigt würde. Insgesamt ist Kristine Fischer-Hupes „Kommentar“ zum ‚LTI‘ eine Forschungsleistung, die Geschichtswissenschaftler ebenso wenig ignorieren sollten, wie künftige Klemperer-Philologen.

Anmerkungen:
1 Die Tagebücher erschienen erstmals 1995. Vgl. Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, 2 Bde., Berlin 111999. Die Verfilmung wurde im Herbst 1999 in der ARD ausgestrahlt. Vgl.: http://www.daserste.de/klemperer/ (Zugriff am 28.07.2002).
2 Mittlerweile liegt das Buch in 19. Auflage vor. Vgl.: Klemperer, Victor, LTI. Notizbuch eines Philologen, Lepizig 192001.
3 Um mögliche Ähnlichkeiten von faschistischem und kommunistischem Sprachgebrauch, ebenso wie um die generelle Problematik einer „Schuld“ von Sprache selbst, drehte sich die wissenschaftlichen Diskussion häufig. Vgl. hierzu kritisch: Ehlich, Konrad, „..., LTI, LQI, ...“ – Von der Unschuld der Sprache und der Schuld der Sprechenden, in: Kämper, Heidrun; Schmidt, Hartmut (Hgg.), Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte – Zeitgeschichte, Berlin 1998, S. 275-303.
4 Zum Forschungsstand im Bereich Sprache im Nationalsozialismus Mitte der 90er Jahre vgl.: Kinne, Michael; Schwitalla, Johannes, Sprache im Nationalsozialismus, Heidelberg 1994 (Studienbibliographien Sprachwissenschaft 9). Die Situation hat sich seither kaum verändert.

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