J. Nordalm: Historismus und moderne Welt

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Titel
Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861 - 1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft


Autor(en)
Nordalm, Jens
Reihe
Historische Forschungen 76
Erschienen
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Frölich, Archiv des Liberalismus, Friedrich-Naumann-Stiftung Gummersbach

Erich Marcks gehört heute zwar nicht zu den völlig, so doch aber zu den weitgehend vergessenen Historikern des frühen 20. Jahrhunderts. Anders als etwa im Fall seines Zeitgenossen und Berliner Kollegen Friedrich Meinecke, der Marcks allerdings auch um gut anderthalb Jahrzehnte überlebte, sind seine Werke nach 1945 fast gar nicht mehr aufgelegt worden. 1 Dieser Umstand hat aber nicht verhindert, dass Marcks in historiografiegeschichtlichen Standardwerken als „Neorankeaner“ ein sehr schlechter Ruf umgibt: Marcks „gehörte zur Gruppe der Neurankeaner, die seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Rückkehr zur Objektivität und Universalität des Geschichtsdenkens Rankes anstrebte, tatsächlich jedoch in ihrer Perspektivität und Wertorientierung am Kaiserreich orientiert blieb und dessen Politik historiographisch legitimierte. [...] M.‘ Historiographie zeigt auf exemplarische Weise die Problematik einer unpolitischen, ästhetisierenden, auf das ‚heroische‘ Individuum konzentrierten Geschichtsschreibung.“ 2

Die Bonner Dissertation von Jens Nordalm zielt darauf, anhand von Marcks „eine grundsätzliche Verteidigung des Historismus gegen die Anwürfe seiner zahlreichen Verächter“ (S. 13) zu versuchen. Dass sie mit dieser revisionistischen Absicht gegen eine Reihe von renommierten Historikern antritt, versteht sich angesichts des angeführten Zitats aus der Neuauflage des „Historikerlexikons“ fast von selbst. Unter denen, die von Nordalm wegen ihrer Einschätzung von Marcks zum Teil heftig kritisiert werden, sind u.a. Bernd Faulenbach, Elisabeth Fehrenbach, Wolfgang Hardtwig, Hans Schleier und Karen Schönwälder, vor allem aber Hans-Heinz Krill, auf den Nordalm in erster Linie den schlechten Nachruhm von Marcks, nämlich dessen enge Anbindung an Max Lenz, zurückführt (S. 127f.). 3 Bei seinem Gegenentwurf stützt sich Nordalm nicht nur auf eine erneute Sichtung des wissenschaftlichen und publizistischen Œuvres von Marcks, sondern auch auf das Tagebuch des Studenten und jungen Habilitanden sowie auf seine umfangreiche Korrespondenz mit Fachkollegen und Freunden.

Den methodischen Zugriff muss man zumindest als originell ansehen. Denn Nordalm legt keineswegs eine traditionelle wissenschaftlich-politische Biografie vor, auf die auch der Buchtitel hinzuweisen scheint. Deutlicher wird der ursprüngliche Dissertationsuntertitel „Historie als Kunst, Wissenschaft und Politik“. Ausgehend von einem Verständnis von „Geschichtsschreibung als literarische Hervorbringung, als Teil eines wissenschaftlich-disziplinären Entwicklungszusammenhanges und als Ausdruck politischer Zeitgenossenschaft“ (S. 11) gliedert sich die Studie in drei fast gleich lange Teile: der Künstler, der Wissenschaftler, der Politiker. Auch wenn auf einen ausführlichen Lebensabriss verzichtet wird, heißt dies nicht, dass Nordalm biografischen Aspekten keine Beachtung schenkt: Wichtige Lebenserfahrungen wie die eher schwache Konstitution von Marcks (S. 20), seine politische Prägung als Jugendlicher durch den späten Bismarck (S. 17ff. u.ö.), seine intensiven Beziehungen zur Hamburger Kunstszene (S. 113f.) oder der Tod des ältesten Sohnes an der Westfront im Herbst 1914 (S. 241) werden durchaus in die Interpretation miteinbezogen, stehen aber nicht im Vordergrund.

Von den drei Perspektiven, von denen aus sich Nordalm Marcks und seinem Werk nähert, scheint die erste, die künstlerisch-ästhetische, die problematischste zu sein. Keineswegs soll hier geleugnet werden, dass gerade die Geschichtsschreibung bei ihrer Entstehung und Herstellung natürlich Berührungspunkte mit der fiktiven Prosa hat; daran mahnt nicht zuletzt die Tatsache, dass eine der frühesten internationalen Auszeichnungen für einen deutschen Historiker der Literaturnobelpreis war. 4 Man wird auch Nordalms intensive Bemühungen, theoretische Ansätze zur Narrativität, die von Nachbardisziplinen entwickelt wurden, für die Analyse der zentralen Werke von Marcks fruchtbar zu machen, durchaus mit Sympathie begegnen, aber bei dessen Einschätzung als „impressionistischer“ Historiker (vgl. S. 53ff., bes. S. 68) wird man doch ein kleines Fragezeichen machen müssen, zumal zur Erhärtung dieses Urteils keine Text- und Stilanalysen von anderen zeitgenössischen Historikern herangezogen werden. Leichter nachvollziehbar erscheinen dagegen die Herausarbeitung erstens der literarischen Vorbilder des jungen Marcks - sie lagen bei den „poetischen Realisten“ wie P. Heyse und C.F. Meyer, bei Letzterem übrigens auch thematisch, - sowie zweitens seines Bemühens, seine Darstellungen in klarer Absetzung zu Treitschke und anderen Vertretern der „borussischen“ Schule, von „Wohlwollen“ und „Menschenerfassung“ (S. 79) durchziehen zu lassen. Dies kann man noch an seinem Alterswerk erkennen, das in großen Teilen, etwa dem durchaus „wohlwollenden“ Urteil über die Rolle des national-liberalen Bürgertums dort, gar nicht dem Zeitgeist entsprach. 5

Bei der zweiten und dritten Perspektive auf Marcks befindet sich Nordalm auf gesicherterem Boden. Überzeugend ist sein Nachweis, dass Marcks zwar insofern „rankesch“ war, als er anders als die „borussische“ Schule den Blick über die nationale Perspektive hinaus zu weiten suchte und etliche Werke zur Gegenreformation in Westeuropa vorlegte (S. 126). Darüber hinaus interessierte ihn aber auch die psychologisch-persönliche Entwicklungen der handelnden Akteure, insbesondere von Bismarck, und der Einfluss von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf deren Handlungen. Dass Marcks, der mit Gustav Schmoller und Max Weber in Kontakt stand und 1913 ein Jahr in den USA lehrte, um 1900 zu den innovativsten Historikern in Deutschland gehörte, kann nun eigentlich nicht mehr zweifelhaft sein. Sein Problem bestand darin, dass er wissenschaftlich eigentlich immer irgendwie zwischen den Stühlen stand, erst mit Lamprecht ging, dann sich gegen ihn wendete, er sich wissenschaftlich von Max Lenz und anderen dezidiert konservativen Historikern abgrenzte, zugleich aber auch immer mehr zu Friedrich Meinecke auf Distanz ging, er zeitweise sowohl V. Valentin, G. Mayer und Hedwig Hintze zu seinen Schülern zählte als auch K. A. von Müller, den HZ-Herausgeber nach 1935, und er schließlich noch eine Ehrenposition an Walter Franks „Reichsinstitut“ übernahm. Problematisch war sicher auch, dass er Bismarcks antiliberale Wende von 1878/79 als moderne Neuauflage des altpreußischen Merkantilismus interpretiert, dem die Zukunft gehöre (S. 159, 171). Dies wiederum hinderte ihn aber nicht, „Trauer“ über den politischen und sozialen „Bedeutungsverlust des Bürgertums“ zu empfinden (S. 215).

Wenig überraschend entsprach dieser wissenschaftlichen Sicht eine politische Haltung, die nach Marcks‘ eigenen Worten „meist rechts-nationalliberal/volksparteilich“ gewesen ist (S. 242, Anm. 4). Auch hier ist die Festlegung typisch ambivalent. Aufgrund seiner bürgerlich-protestantischen Herkunft und seiner jugendlichen Verehrung für Bismarck stand von vornherein fest, dass Marcks keineswegs zu den „systemverändernden“ Kräften im Kaiserreich gehörte, aber eben auch nicht zu glühenden Verehrern Wilhelms II. und der Weltpolitik. Gerade die Beschäftigung mit Bismarck ließ ihn eine immer kritischere Haltung zum letzten Kaiser einnehmen; außerdem plädierte er wiederholt auch öffentlich für einen deutsch-englischen Ausgleich. Er war schon vom Naturell her sicherlich, wie Nordalm zu Recht herausstellt, „kein forscher Reaktionär und kein agierender Flottenprofessor“ (S. 278). Obwohl Marcks andererseits auch kein Pazifist war, schien er bei Kriegsausbruch 1914 zunächst eine eher gemäßigte Position einzunehmen (S. 299ff.), hielt allerdings die Kriegszieldiskussion vor allem aus psychologischen Gründen für sinnvoll. Sein permanentes Pendeln zwischen dem radikal-alldeutschen und dem gemäßigt-verständigungsbereiten Lager, das, wie Nordalm zu Recht meint, keineswegs nur er an den Tag legte (vgl. S. 305) schien sich unmittelbar nach der Novemberrevolution zu entscheiden. Ausschlaggebend für eine zunehmende – politische – Rechtstendenz war nicht so sehr die Niederlage an sich, die Marcks recht nüchtern erfasste (S. 318), wohl aber die modische „Verleugnung des Alten“, sprich der Monarchie (an Fr. Meinecke, 17.11.1918, S. 323) sowie der Versailler Friedensvertrag, der „geistige Gebrochenheit und Verstörtheit“ bei ihm nach sich zog. (S. 338). Nordalm will dabei eine interessante Trennlinie zwischen dem wissenschaftlichen Werk und den politischen Kommentaren von Marcks ausfindig gemacht haben: „Es ist überall die gleiche Tendenz: Von einer berufsmäßig-historischen Warte aus kann und will Marcks der Entwicklung ‚Notwendigkeit’, Verstehbarkeit, nicht absprechen. Der politische Mensch und Historiker,‚mit dem Tone auf Bismarck, immerhin ein Endfünfziger, kann und mag nicht folgen“ (S. 329f.). Ob sich eine solche scharfe Trennung zwischen beruflicher und politischer Einstellung aufrechterhalten lässt, erscheint zwar diskutabel, aber sie würde einen Schlüssel zum Verständnis der letzten Lebensjahre des Historikers Erich Marcks liefern, etwa dafür, warum sein Alterswerk diesen durchaus wohlwollenden Zug für die Gegner und Kontrahenten der Bismarckschen Reichsgründung, gerade auch für das liberale Bürgertum aufweist, so dass der Autor selbst Schererein mit der Zensur befürchtete (S. 370f.), dass er andererseits aber dort auch die Jahre 1878/79 „zur ersten großen Wendung auf das Heute zu“ erklärte 6 und sich schließlich Walter Frank als Galionsfigur zur Verfügung stellte.

Marcks war hin- und her gerissen zwischen der durch die Nationalsozialisten bewirkten nationalen Aufbruchsstimmung und ihrer Antibürgerlichkeit und ihrem Antiindividualismus. Nordalm umschreibt seine Haltung nach 1933 als „etwas Verqueres zwischen Bedrohtheitsgefühl und Mitgehen“ (S. 371). Wie das übrige nationale Bürgertum hatte Marcks prinzipielle Aversionen gegen das Judentum und war doch durch die Diskriminierungen von jüdischen Bekannten und Kollegen tief getroffen, ohne dass er offiziell dagegen protestiert hätte.

Alles in allem kann man konstatieren, dass die von Nordalm angestrebte „Ehrenrettung“, d.h. die „Befreiung Marcks‘ von Ranke“ (S. 242) zumindest im Fall des Wissenschaftlers Marcks überzeugend gelingt; der Terminus „Neurankeaner“ sollte in Verbindung mit ihm zukünftig eigentlich nicht mehr verwendet werden. Bei der „politischen“ Ehrenrettung bleiben Zweifel, zumindest in Bezug auf den Erich Marcks seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, aber diese Zweifel gelten gleichermaßen für große Teile seiner Zeitgenossen, nicht nur im bürgerlich-protestantischen Lager. Ob der „Künstler“ Erich Marcks einer Rehabilitation bedarf, ist wohl eine müßige Frage, die am besten jeder für sich selbst entscheidet, indem er sich gelegentlich mal wieder in seine Werke vertieft. Jens Nordalm hat jedenfalls in fairer Weise einen recht überzeugenden Schlüssel zum Verständnis des Marcksschen Œuvre geliefert, das vielleicht in der einen oder anderen Hinsicht durchaus noch Relevanz für die Gegenwart hat, nicht nur als abschreckendes Beispiel.

Anmerkungen:
1 Zu den Ausnahmen gehört Marcks, Erich, Hindenburg. Feldmarschall und Reichspräsident, Göttingen 1963, zuerst als Aufsatz 1932.
2 Faulenbach, Bernd, „Marcks, Erich“, in: vom Bruch, Rüdiger; Müller, Rainer A. (Hgg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003, S. 208f.; vgl. Iggers, Georg G., Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1976, S. 295f.; Fuchs, Peter, „Marcks, Erich (1)“, in: NDB 16, Berlin 1990, S. 124.
3 Vgl. Krill, Hans-Heinz, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Marcks, Berlin 1962.
4 Vgl. auch die knappen, aber luziden Ausführungen bei Süßmann, Johannes, „Erzählung“, in: Jordan, Stefan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. 100 Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 85ff.
5 Marcks, Erich, Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte 1807-1871/78, 2 Bde., Stuttgart 1936.
6 Ebd. Bd. I, S. XII.

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