K. Härter: Policey und Strafjustiz

Cover
Titel
Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat


Autor(en)
Härter, Karl
Reihe
Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 190
Erschienen
Frankfurt a.M. 2005: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
2 Bde., 1248 S.
Preis
€ 139,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Sälter, Berlin

Mit dem Buch von Karl Härter, gleichzeitig seine Darmstädter Habilitationsschrift, liegt eine profunde und pointierte Arbeit zur Normentstehung und Normdurchsetzung im Kontext sich ausdifferenzierender Staatlichkeit in der frühen Neuzeit vor. Es beginnt mit der Darstellung des Territoriums Kurmainz und seiner Herrschaftsstruktur bis herunter zur Gemeindeverwaltung. Härter hebt die zunehmende Abhängigkeit der nachgeordneten Gewalten und genossenschaftlich verfassten Institutionen von der landesherrlichen Verwaltung hervor, die in einem Prozess der (bei Härter als Integration gefassten) Zentralisierung von Herrschaftskompetenzen bereits seit dem 15. Jahrhundert entstand. Dem folgt – in enger Korrespondenz mit dem Editionsprojekt des Max-Plack-Institut für Europäische Rechtsgeschichte – eine Beschreibung der Gesetzgebung, deren inhaltlicher Schwerpunkt bis ins 17. Jahrhundert hinein eine erfolgreiche Durchsetzung des landesherrlichen Normsetzungsmonopols war, die vor allem mittels umfassend regulierender Policeyordnungen betrieben wurde.

Seit Mitte des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts gewannen hier die Bereiche Wirtschaft und Innere Sicherheit an Relevanz, die zunehmend durch Einzelgesetze geordnet wurden. Durch den Legislationsprozess, der Gestalt und Gehalt des Strafrechts veränderte, nahmen Landesherr und zentrale Verwaltung wachsenden Einfluss auf die Ordnung der Gesellschaft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeigte sich dann im Zuge der Aufklärung eine Tendenz, einige gesellschaftliche Bereiche weitgehend neu ordnen zu wollen. Härter untersucht die Kommunikationsprozesse im Zusammenhang mit der Gesetzgebung, wobei er die Informationsgewinnung, Abstimmung und Publikation beschreibt. Die Einflussnahme von unten wird vor allem anhand von Suppliken dargestellt, die auf bestehende Gesetzesvorhaben reagierten; Norminitiativen aus der Gesellschaft bleiben hingegen etwas unterbelichtet. Die in der Literatur häufig als Indiz für Durchsetzungsdefizite interpretierte Mehrfachpublikation von Normen resultierten Härter zufolge teils aus pragmatischen Gründen, teils aus der Bedingung, Normen in einer „oral-symbolischen Kommunikationskultur“ Geltung zu verschaffen (S. 238). Der erste Band schließt mit einem Kapitel zum Justizsystem einschließlich des Exekutivpersonals und der Prozessformalitäten in Strafverfahren.

Der zweite Band untersucht die Praxis der Normdurchsetzung anhand von Strafverfahren und (modern ausgedrückt) Ordnungsstrafverfahren, wobei über 3.500 Kriminalakten berücksichtigt werden, deren Masse überlieferungsbedingt aus dem 18. Jahrhundert stammt. Zunächst erfolgt ein quantitativer Überblick der Verfahren nach Tätertyp, Begehungsart (allein oder zu mehreren), Delikt und Strafe, sowie deren statistische Veränderung im Untersuchungszeitraum. Die festgestellte Veränderung der Sanktionspraxis, vornehmlich ein Wandel der Strafzwecke und eine Verschiebung von Leib- und Lebensstrafen zu Geldstrafen, Freiheitsentzug und Arbeitsstrafen, interpretiert Härter als Flexibilisierung des Strafsystems. Inwiefern eine tiefer in die Gesellschaft durchgreifende Strafgerichtsbarkeit, die ein auf außergerichtlicher Einigung und sozialer Kontrolle basierendes informelles Sanktionssystem partiell verdrängte, diese Modifikation erforderlich machte, wird nicht thematisiert.

Ein Kapitel beschreibt die Regulierung der Festkultur und des Freizeitverhaltens. Die intensive Reglementierung von Aufwand und Ausgaben und die Durchsetzung von sichtbar ordnungsgemäßem Verhalten gingen um die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück. Der Fokus der Normen verschob sich von einer Kontrolle gemeinschaftsbezogener Festlichkeit und vor allem juveniler Sexualität zur Arbeitsdisziplinierung. Ein weiterer Abschnitt thematisiert die partielle Verdrängung der Kirche als Ehe und Sexualität normierende und kontrollierende Instanz, den Wandel der darauf bezogenen Normsetzung der Obrigkeit und ihrer Kontroll- und Strafpraxis. Die zunächst ausgeprägte Verfolgung von Unzucht (vornehmlich als voreheliche Sexualität definiert) zur normativen Festschreibung der Ehe als einziger Form legitimer Sexualität wurde langfristig überlagert von bevölkerungspolitischen Zielsetzungen und der Bewahrung einer disponiblen unterbäuerlichen Arbeitsbevölkerung (S. 836). Das letzte Kapitel beschreibt die rechtliche und soziale Stellung mobiler Randgruppen, deren diskursive Konstruktion und Produktion in Gesetzestexten, in Verhören (auch unter Einsatz von Folter) und in der Strafpraxis.

Das Buch liefert eine detailreiche, stringente und schlüssige Darstellung vormoderner Normentstehung und Normdurchsetzung im Kontext institutionalisierter Staatlichkeit und ihrer Entstehung in der frühen Neuzeit, die über Kurmainz deutlich hinausweist und die weitere Forschung prägen wird. Seine über das untersuchte Territorium hinausgehende Bedeutung liegt unter anderem darin begründet, dass Härter Diskussionsstränge der Strafrechts-, Kriminalitäts- und Policeyforschung mit soziologischen und kulturalistischen Diskursen bündelt. Vor allem ist der durchgehaltene Ansatz beispielhaft, Kriminalität als Ergebnis von Diskursen aufzufassen, an denen Untertanen zwar teilhatten, die aber von der Obrigkeit dominiert waren und die deshalb im wesentlichen als Produkt obrigkeitlicher Institutionen, Normen und Prozesse zu analysieren sind. Dem ist hinzuzufügen, dass das Buch gut lesbar ist, präzise formuliert und souverän argumentiert. Die Forschungsliteratur wird breit rezipiert, wobei Härter erfreulicherweise vor gelegentlichen Traditionsbrüchen nicht zurückschreckt. Als Grundlage dient ein breites Quellensample aus Akten der zentralen wie lokalen Verwaltungsebene und der Hoch- wie Niedergerichtsbarkeit. Demgegenüber fallen argumentative Leerstellen wenig ins Gewicht. So ist das Verhältnis obrigkeitlicher Normdurchsetzung zu außergerichtlicher Konfliktlösung, zu horizontaler wie vertikaler sozialer Kontrolle und zu informeller Produktion und Reproduktion von Normen kaum reflektiert. Ein vergleichender Blick über die Grenzen des Alten Reichs hinaus hätte zudem die Argumentation an einigen Punkten weiter schärfen können. Letztlich sollte auch erwähnt werden, dass das Buch mit mehr als 1.100 Seiten für eine entspannte Lektüre etwas zu lang ist. Jedoch definiert es gemeinsam mit wenigen anderen Neuerscheinungen der letzten Jahre, worunter jene von André Holenstein1 hervorzuheben ist, einen neuen Diskussionsstand für vormoderne Herrschaftspraxis im allgemeinen und für Gesetzgebung, obrigkeitliche Normdurchsetzung und soziale Kontrolle durch Gerichte im Besonderen.

Anmerkung:
1 André Holenstein, Gute Policey und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel Baden(-Durlach), 2 Bde., Tübingen 2003.