Cover
Titel
Lord Cromer. Victorian Imperialist, Edwardian Proconsul


Autor(en)
Owen, Roger
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
£25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Stuchtey, Deutsches Historisches Institut, London

Kaum ließe sich behaupten, Lord Cromer (1841-1917) sei ein Mann gewesen, der die Mitarbeit in Vereinen gescheut habe. Ganz im Gegenteil, denn ungeachtet seiner vielen politischen und öffentlichen Ämter zog es ihn in die organisatorische Verantwortung, so etwa mit aller Kraft gegen das Frauenwahlrecht und für einen besseren Schutz bedrohter Tiere. Auch muss er zu den Gründervätern der Londoner School of Oriental Studies gerechnet werden. Gleichwohl hätte es Cromer wahrscheinlich eher gefallen, als ein Man of Letters gesehen zu werden, tauschte er doch allzu gern das Rednerpult gegen den Leseplatz in der British Library und schrieb nahezu täglich Notizen über allerlei philosophische Probleme in seine 'commonplace books'. Er ist der Verfasser einiger kluger Schriften, die auch heute noch von Interesse sein können wie zum Beispiel seine politisch-literarischen Essays, sein zweibändiges Werk 'Modern Egypt' (1908) und der Vergleich des römischen mit dem modernen Imperialismus (1910). Aber ein Man of Letters? Das hätte schon William Gladstone anders gesehen, und da sich beide, der Premierminister und der Kolonialverwalter, nur in Maßen schätzten, wäre das Urteil seinerzeit vermutlich ähnlich ausgefallen wie das in Roger Owens unlängst erschienenem Buch: Cromer, das war der loyale Diener der Krone und des Empire, in der viktorianischen Lebenswelt verwurzelt, dem Neuen der Edwardianischen Epoche nur mühsam geöffnet, mit einem Wort: ein Mann, den man als überzeugten Whig bezeichnen könnte - politisch, gesellschaftlich, kulturell. Das Dictionary of National Biography fasst sich kurz: "[W]hile not a genius, [he] possessed powerful and versatile talents, whose full exercise was ensured by a strong character and vigorous constitution". Warum aber soll es sich lohnen, eine Biografie zu schreiben über Evelyn Baring, vielfach geehrten first earl of Cromer?

Roger Owen, Professor in Harvard und kenntnisreicher Autor zahlreicher Arbeiten über den britischen Imperialismus im arabischen Raum, interessiert die Biografie Cromers, weil sich mit ihr zwei Brennpunkte der britischen Weltherrschaft bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vortrefflich illustrieren lassen: Kairo und Kalkutta. In beiden Städten war Lord Cromer abwechselnd viele Jahre stationiert. 1872 wurde er Privatsekretär von Lord Northbrook in Indien, fungierte 1879 als 'British controller' in Ägypten, um daraufhin die nächsten vier Jahre finanzieller Berater des Vizekönigs in Indien zu werden und 1883 als Generalkonsul wieder nach Ägypten zurückzukehren. Zwei Personen, die mit Cromers Zeit in Ägypten untrennbar assoziiert werden, sind General Gordon mit seiner Mission im Sudan 1884, sowie Lord Kitchener, der den Sudan 1896-98 zurückeroberte. Erst 1907 sollte sich Cromer aus der kolonialen Peripherie verabschieden und fortan die Geschicke des Empires von der Metropole, genauer: vom Oberhaus aus lenken. Dabei hätte ihm bei seinem familiären Hintergrund mit einem der einflussreichsten Bankhäuser der Londoner City, den Baring Brothers, durchaus eine Karriere offen gestanden, die weniger dramatisch verlaufen wäre. Denn Macht und Ansehen des britischen Empire in jenen Zeiten zu vertreten und zu verteidigen, in denen nicht nur in Westminster und Whitehall über den Nutzen und Nachteil desselben viel debattiert wurde, bedeutete im politischen Leben eines Kolonialverwalters, den unvermeidbaren Krisen offen ausgesetzt zu sein. Und Kolonialkrisen besaßen insofern eine innere Dramatik, als dass Cromer wie kein anderer wusste, dass das überleben des Empire vom Kronjuwel Indien ebenso abhing wie vom Suezkanal.

Beiden Stationen war entsprechend gemein, dass Cromer Methoden der kolonialen Herrschaft transferierte und seine Fähigkeiten in Verwaltung, Finanzwesen und Diplomatie so zu perfektionieren verstand, dass er die Londoner Regierung davon überzeugte, nur er allein könne über das komplexe Geflecht internationaler Interessen zunächst in Indien, dann in Ägypten den Überblick behalten. Alfred Lyall, Beamter im Indian Civil Service und Autor des einflussreichen Buchs 'Rise of British Dominion in India' (1893), sah das freilich skeptischer, als er im Mai 1883 über Cromer notierte: "I think Egypt suits him better than India - he can grasp the whole situation there, and he has not the uncontrolled power enjoyed by men high in Indian office. This sense of great power, and the shortness of power in office, makes Baring rush at his work out here." Wahrscheinlich sollte Lyall vor der Geschichte Recht behalten. Roger Owens umfangreiche und detailgenaue Biografie kommt zu dem gleichen Schluss, nämlich dass Ägypten und sein spezifisches koloniales Gefüge einer besonderen Beziehung vis-à-vis Großbritannien sowie einer besonderen Stellung innerhalb des Empires bedurften und Cromer dieser Aufgabe ideal entsprach: "[S]omewhere between a long-serving viceroy, a provincial governor, an international banker, and an ambassador, and yet with a different relationship to the people he governed than any of these." (S. 394) Aber Cromer war, zumindest aus britischer Perspektive, in Ägypten nur so lange erfolgreich, wie er sich gegen die wachsende Kritik an der Kolonialpolitik zur Wehr setzen konnte. Die ägyptische Bevölkerung ihrerseits lehnte die britische Herrschaft in dem Maße zunehmend ab, wie Cromers imperialer Gestus im frühen 20. Jahrhundert einen Anachronismus darstellte. Und mit diesem wurde er nicht nur in seiner Zeit, insbesondere seitens der nationalen Unabhängigkeitsbewegung, in Verbindung gebracht, sondern bis in die Gegenwart. Die Vorwürfe richteten sich zum Beispiel gegen seine wachsende Distanz zum ägyptischen Volk, seine Blindheit gegenüber der großen Bedeutung, die vor allem die städtische Bevölkerung der Erziehung beimaß, und sein Unvermögen, die gesellschaftliche Elite Ägyptens für Schlüsselpositionen der Verwaltung zu rekrutieren.

In dieser Hinsicht ist Owens Buch besonders lesenswert. Denn es illustriert, auch dank der ausgezeichneten Quellenkenntnis und der Auswertung der reichhaltigen Korrespondenz Cromers durch Owen, die vielen Ambivalenzen, die diesen Repräsentanten des britischen Empire und insofern das imperiale System als solches kennzeichneten. Die Studie hätte aber gewinnen können, wenn Owen den Schriften Cromers mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Nicht dass diese, wie gesagt, die Gedanken eines Man of Letters beinhalten würden, macht sie interessant. Es ist vielmehr der spezifische Zeitgeist, der aus ihnen spricht und der entschlüsselt werden will und durch den Cromer sich als Angehöriger einer Generation begreifen konnte, für die die Ereignisse in Europa eine derartige Geschwindigkeit und Eigendynamik annahmen, dass sie in der kolonialen Peripherie kaum mehr verständlich waren. Cromer, so sagt Owen, sei zu lange von seiner britischen Heimat getrennt, zu lange in Diensten des Empire tätig gewesen. Das schuf eine emotional verklärte Bindung, die in keinem Einklang mit den neuen Entwicklungen seiner Zeit stand. Selbst Lord Curzon und Alfred Milner gelang es besser, Schritt zu halten. Wie diese bemerkenswerte Biografie zeigt, war Lord Cromer jedoch ein Mann, der in anderen zeitlichen und räumlichen Dimensionen dachte, für den also der Verlust britischer Weltherrschaft, wie er sich in Irland, Indien und eben auch in Ägypten zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich ankündigte, gar nicht denkbar war.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension