B. Schilmar: Der Europadiskurs im deutschen Exil

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Titel
Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933-1945.


Autor(en)
Schilmar, Boris
Reihe
Pariser Historische Studien 67
Erschienen
München 2004: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
406 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Die politische EU stößt heute an die Grenzen des alten geografischen und kulturellen Europa. Eine Gleichsetzung Europas mit dem politischen Projekt der EU war nur zwischenzeitlich einigermaßen plausibel. In den ersten Jahren der EU, damals der EWG, konkurrierten noch alternative Europakonzeptionen und -verhältnisse. Der Europadiskurs des 20. Jahrhunderts zeigt manche Brüche und Verwerfungen. Schilmar konzentriert seine Studie, eine von Horst Lademacher in Münster betreute Dissertation, auf den Europadiskurs im deutschsprachigen Exil.

Er sondiert ihn analytisch nach bestimmten Gruppenzugehörigkeiten und markiert dabei 1938 als Zäsur. Seine zentrale These ist es, dass erst die Schlüsselerfahrungen von 1938, die Annexion Österreichs und das Münchner Abkommen, den Exilsdiskurs aus einer Phase diffusen Widerstandes in eine Zeit der „Konzeptualisierung“ alternativer Europaideen eintreten ließen. Diese Konzeptualisierung profilierte sich dabei gegen den nationalsozialistischen Europadiskurs, der sich parallel zur Expansionspolitik entwickelte. Deshalb beginnt Schilmar seine Darstellung der „Konzeptualisierung“ auch mit einem Abriss des nationalsozialistischen Diskurses. Analog beschreibt er den Diskurs vor 1938 als Antwort auf die „historische Zäsur“ des Ersten Weltkriegs, der Probleme der Versailler Friedensordnung und des Genfer Völkerbundes. Der Europadiskurs des Exils brauchte klare europapolitische Herausforderungen und Vorgaben, gegen die er sich profilieren konnte, meint Schilmar. Es war ein Oppositionsdiskurs. Seine Schwächen vor 1938 spiegelten nicht zuletzt die Ordnungsprobleme der Zwischenkriegszeit. Erst durch die Radikalisierung des Gegners gewann er ein moralisch-politisch eindeutiges alternatives Profil. Vor 1938 war sich das Exil nicht einig. Nach 1938 aber, auch nach den Moskauer Prozessen, gab es einen größeren Konsens.

Schilmar legt seine Studie sorgfältig und klar an. Nach einer Einleitung zum Forschungsgegenstand und -stand schildert er zunächst die Ausgangslage der „Sensibilisierung“ des deutschen Europadiskurses nach Versailles und Genf, wobei er mehr die realhistorischen Eckdaten als deren diskursive Verarbeitung vor 1933 erörtert. Es wäre wohl sinnvoll gewesen, diese Diskursgeschichte vor 1933 eingehender zu beleuchten. Schilmar schreibt von der Zäsur 1938 her. Seine analytische Darstellung der diversen „Europakonzepte der Emigration 1933-1937“ hat enzyklopädische Qualitäten, macht aber die Diskursdynamik nicht recht deutlich. Die Auswahl und die Klassifikation sind etwas strittig. Ausgehend von den Kommunisten konzentriert sich Schilmar auf die Linke und erörtert den liberalen und den konservativen Diskurs nur knapp. Die analytische Übersicht gewinnt ihre Aussagekraft erst durch die „tiefe Zäsur des Jahres 1938“ (S. 115). Prägnant exponiert Schilmar die Antwort des Exils als Oppositionsdiskurs zur NS-Politik. Die „Grundkonstanten“ der NS-Ideologie entwickelt er dabei vom Rassismus ausgehend, wobei er den Antisemitismus als „letzte Konsequenz des nationalsozialistischen Rassismus“ (S. 128) betrachtet – und nicht umgekehrt, wie es für Hitlers „Weltanschauung“ wohl richtiger wäre. Carl Schmitt vertrat nicht Rosenbergs Lebensraumtheorie (S. 133). Rauschning, der Kritiker der „Revolution des Nihilismus“, begrüßte schwerlich die „Ziele und Pläne des Nationalsozialismus“ (S. 158).

Schilmar macht aber deutlich, wie die Konzeptualisierungen des Exils von den Ereignissen gebeutelt wurden. Das oft blauäugige Verhältnis zum Stalinismus, nicht nur bei den Kommunisten, wäre dabei anhand der Reaktionen auf die Moskauer Prozesse noch eingehender zu schildern. Die „antikommunistische Diskurswende“ (S. 184ff.) nach dem Hitler-Stalin-Pakt konnte doch nur deshalb so traumatisch sein, weil das Exil sich verzweifelt an Illusionen über die Sowjetunion klammerte. Schilmar arbeitet aber eindrücklich das Dilemma heraus, einen Europadiskurs in den Kriegswirren zwischen Ost und West zu etablieren. Dessen Existenzvoraussetzung war eine eigenständige und freie Mitte in Europa, die es aber politisch nicht gab. Schilmar belegt, dass es dennoch zu respektablen verfassungspolitischen Bemühungen, „Konkretisierungen“, kam, die zwar nach den Teilungsplänen der Alliierten dann „wirkungslos blieben“ (S. 345, vgl. 293ff.), die späteren Entwicklungen aber doch in vielen Zügen erahnten und heute auch für die Ausbildung einer europäischen Identität lehrreich sind. Abschließend vergleicht Schilmar den Europadiskurs des Exils mit den „Europagedanken im innerdeutschen Widerstand“ und analysiert interessant vier Funktionen (S. 350f.), die die zentrale Bedeutung des Diskurses für die politische Identität des Exils herausstellen.

Schilmar hat ein kluges, klares, anregendes Buch geschrieben. Einige Kritikpunkte seien dennoch angemerkt: Der Europadiskurs vor 1933 wäre eingehender zu thematisieren. Schilmar identifiziert den Autorenkreis nach politischer Gruppenzugehörigkeit, ohne die Organisationsgeschichte dieser Gruppen auszuführen. Er geht nicht streng diskursanalytisch vor und analysiert den Diskurs nicht als Kommunikationszusammenhang in seinen spezifischen Voraussetzungen, wie der Exilspresse, und seiner Dynamik. Hinter der Opposition zum Nationalsozialismus taucht das Verhältnis zur Sowjetunion als zweites Abgrenzungsprofil auf, ohne dass der Stalinismus in gleicher Weise beleuchtet würde. Die psychobiografische Situation im Exil schließlich ließe sich eingehender erzählen. Die Tragik des Emigrationsdiskurses zwischen aktueller Machtlosigkeit und hypothetischer Zukunft aber wird insgesamt deutlich sichtbar.

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