O. Werner: Ein Betrieb in zwei Diktaturen

Cover
Titel
Ein Betrieb in zwei Diktaturen. Von der Bleichert Transportanlagen GmbH zum VEB VTA Leipzig 1932 bis 1963


Autor(en)
Werner, Oliver
Reihe
Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 101
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
275 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Winfrid Halder, Dresden

Anders als der Titel nahe legt, wollte Oliver Werner „keine Unternehmensgeschichte im klassischen Sinne“ (S. 30) schreiben. Dem Autor war es vielmehr darum zu tun, den Leipziger Maschinenbaubetrieb exemplarisch zum Gegenstand einer Studie zu machen, deren grundlegende Intention darin besteht, einen Beitrag zum „sektoralen Diktaturvergleich“ zu leisten. Das zugrunde liegende Forschungskonzept beruht auf methodischen Überlegungen, die nicht zuletzt der Leipziger Zeithistoriker Günther Heydemann entwickelt hat 1, unter dessen Betreuung die Untersuchung als Dissertation entstanden ist. Werner ist davon überzeugt, dieser Ansatz sei geeignet, die „soziale Feinabstimmung von Herrschaftsansprüchen in den Wirtschaftssystemen und mithin auch die ‚Grenzen der Diktatur’“ zu beleuchten (S. 18). Eine wesentliche „Ausgangshypothese“ lautet: „Der Einfluss politischer und gesellschaftlicher Institutionen in Diktaturen auf die Handlungskriterien und Entscheidungsspielräume von Unternehmensleitungen ist ein komplexer Prozess, der nicht allein ökonomisch bestimmt ist, sondern wirksame soziale Komponenten umfasst.“ (S. 31) Das erscheint auf den ersten Blick nicht gerade als kühne Annahme. Es stellt sich die Frage, ob dies nicht so allgemein formuliert ist, dass der Satz auf jedwedes politische und ökonomische System anwendbar ist.

Die Untersuchung basiert in der Hauptsache auf den einigermaßen vollständig überlieferten Materialien des Unternehmensarchivs (jetzt im Staatsarchiv Leipzig) sowie solchen aus unterschiedlichen Abteilungen des Bundesarchivs. Ohne näher darauf einzugehen, teilt Werner mit, dass Unterlagen aus dem ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit der DDR nicht eingesehen werden konnten (S. 36). Konkrete Gründe nennt er nicht; sie wären gleichwohl von Interesse, zumal Jens Schöne gerade in seiner Berliner Dissertation, die einen ähnlichen zeitlichen Fokus aufweist, unter Beweis gestellt hat, dass die Einbeziehung von Stasi-Akten durchaus wichtige neue Facetten des DDR-Wirtschaftssystems beleuchten kann.2

Die Arbeit Werners liefert nach der Einleitung zunächst einen sehr knappen Überblick über die Betriebsgeschichte des 1874 als Transportanlagenfabrik Adolf Bleichert gegründeten Unternehmens (S. 37-68). Damit wird nur der Rahmen abgesteckt für die Untersuchung der „Politisierung von Personal- und Wirtschaftsentscheidungen“, welche den ersten Hauptteil bildet (S. 69-134). Hier wird endgültig deutlich, dass es sich eben nicht um eine Unternehmensgeschichte im landläufigen Sinne handelt. Denn Werner geht fortan in exemplarischer Form auf innerbetriebliche Problemlagen und Konflikte ein, die weder personell noch chronologisch unmittelbar miteinander verbunden sind. So werden zunächst die Vorgänge um einen zeitweiligen kaufmännischen Leiter des Unternehmens 1937/38 geschildert, der letztlich mit nur geringem Erfolg versuchte, seine NSDAP-Mitgliedschaft zur Mobilisierung von Unterstützung durch Parteiinstanzen zu nutzen, um in einer auf Kompetenzstreitigkeiten und persönlichen Misshelligkeiten beruhenden innerbetrieblichen Auseinandersetzung die Oberhand zu gewinnen. Danach springt die Darstellung in die unmittelbare Nachkriegszeit 1945/46, um das Verhalten eines anderen kaufmännischen Direktors zu beleuchten, der bestrebt war, durch innerbetriebliche Umbesetzungen der anlaufenden „obrigkeitlichen“ Entnazifizierung zuvorzukommen. Das nächste Beispiel stammt aus der Zeit zwischen 1953 und 1958 und befasst sich mit der schließlich auf Druck der SED-Betriebsparteileitung erfolgenden Absetzung des Betriebsdirektors. Am Rande sei bemerkt, dass hier als Beleg drei Mal (Anm. 24 u. 25, S. 106 u. Anm. 96, S. 133) auf ein Telefonat offenbar mit einem Zeitzeugen verwiesen wird, dass aber im Quellenverzeichnis nicht dokumentiert ist und auch nicht methodisch reflektiert wird. Dies erweckt den Eindruck, dass eine wohl mehr oder weniger zufällig eröffnete Quelle der „oral history“ singulär verwendet, während ansonsten aber auf Befragungen verzichtet wurde. Das ist methodisch nicht schlüssig.

Der zweite Hauptteil der Untersuchung ist der „Interessenartikulation“ des Unternehmens gegenüber unterschiedlichen Adressaten gewidmet (S. 137-240). Auch hier geht Werner wiederum exemplarisch vor. Die Adressaten sind zunächst das Rüstungsministerium des NS-Staates unter Albert Speer (1942-1945), dann das Amt für Reparationen der DDR (1952), „der Parteiapparat der SED“ (1958-1962), schließlich geht es um die Formulierung von Unternehmensinteressen „im Neuen Ökonomischen System“ (1963). Einerseits fällt hier auf, dass alle exemplarisch behandelten Fälle stets personalisiert werden, dass also die wichtigsten handelnden Personen knapp eingeordnet werden – dies unterbleibt jedoch im Abschnitt, der sich mit den Beziehungen zum Amt für Reparationen befasst. Hier sind überraschenderweise nur anonyme Akteure am Werk, unklar bleibt warum. Es stellt sich auch die Frage, ob die behandelten Beispiele wirklich miteinander vergleichbar sind, denn die genannten Adressaten der Interessenartikulation sind institutionell sehr verschieden beschaffen. Abgesehen davon, dass „der Parteiapparat der SED“ eine reichlich vage Bestimmung darstellt, wäre es doch nahe liegender gewesen, wenn einerseits die Beziehungen zum NS-Rüstungsministerium untersucht werden, dann andererseits auch die ministerielle Ebene in der DDR in den Blick zu nehmen. Die institutionellen Konstellationen (z. B. die Einbindung des Unternehmens in den Apparat der Vereinigungen Volkseigener Betriebe und deren Unterstellung unter die staatlichen Wirtschaftslenkungsorgane der DDR) hätten, zumal sie zwischen den einzelnen Beispielen sehr unterschiedlich organisiert waren, für den Leser besser nachvollziehbar dargestellt werden sollen – etwa mit relativ geringem Aufwand durch entsprechende Organigramme. Die Arbeit enthält aber nur eine einzige derartige grafische Orientierungshilfe (S. 142).

Der Erwartungshaltung, die der Titel weckt, vermag die Arbeit aufgrund ihrer konzeptionellen Anlage nicht gerecht zu werden. Zumindest ein entsprechender Untertitel wäre ratsam gewesen. Wohl verdeutlichen die in den Blick genommenen Abschnitte der Unternehmensgeschichte, dass die unmittelbare Einwirkung von Parteiinstanzen auf betriebliche Vorgänge im NS-Staat und der DDR unterschiedlich ausgeprägt war. Doch die gewählte Vorgehensweise der Untersuchung nicht direkt miteinander verbundener Beispiele bedingt, dass kein zusammenhängendes Bild entstehen konnte. Möglicherweise wäre es sinnvoller gewesen, wenn Werner sich auf nur zwei Abschnitte der Betriebsgeschichte konzentriert hätte – etwa die Einbindung des Betriebes in die NS-Kriegswirtschaft und seine unmittelbar anschließende Integration in das im Aufbau befindliche Wirtschaftssystem der SBZ/DDR. Schließlich stellt sich die grundsätzliche Frage, ob ein Fallbeispiel aus dem Bereich der Wirtschaft für die Zwecke des „sektoralen Diktaturvergleichs“ nicht a priori nur bedingt geeignet ist. Denn die Wirtschaft hatte für die hinter den verglichenen Diktaturen stehenden ideologischen Systeme stark unterschiedlichen Stellenwert. Verkürzt gesagt interessierte die Nationalsozialisten die Wirtschaft jenseits praxisferner Gemeinplätze nur insoweit, als sie der Aufrüstung zu dienen hatte. Bezeichnenderweise gab es bekanntlich weder je ein konsistentes „Wirtschaftsprogramm“ der NSDAP noch einen echten „Wirtschaftsexperten“ innerhalb der Parteispitze. Für die KPD/SED hingegen hatte aus ideologischen Gründen der Zugriff auf die Wirtschaft die schlechterdings entscheidende Bedeutung für die Erreichung ihrer politischen Ziele. Demnach liegt die unterschiedliche „Eindringtiefe“ der jeweiligen Diktaturen im ökonomischen Bereich eigentlich von vornherein auf der Hand. Hier wird sie exemplifiziert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Heydemann, Günther; Schmiechen-Ackermann, Detlef, Zur Theorie und Methologie vergleichender Diktaturforschung, in: Heydemann, Günther; Oberreuter, Heinrich (Hgg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 398), Bonn 2003, S. 9-54.
2 Schöne, Jens, Frühling auf dem Lande? Die Kollektivierung der DDR-Landwirtschaft, Berlin 2005.

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