D. Hochstetter: Motorisierung und 'Volksgemeinschaft'

Cover
Titel
Motorisierung und 'Volksgemeinschaft'. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931-1945


Autor(en)
Hochstetter, Dorothee
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 68
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Ruppmann, Historisches Seminar, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Sechzig Jahre nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ scheint die Deutungshoheit über seine Geschichte ganz bei der internationalen ‚Bilderindustrie’ (Film und Fernsehen) zu liegen. Die „Gesichter des Dritten Reiches“ (Joachim Fest) und ihre Taten sind offenbar der nunmehr beliebig verwertbare Fundus für publikumswirksame Exegese- und Interpretationsbemühungen effekthaschender Medien. Wie mit Hilfe provokanter Thesen und zugespitzter Formulierungen aber auch ein Buch den Boulevard erreichen kann, hat jüngst Götz Aly in seiner neuesten Studie bewiesen.1 Seine historisch-politische Auswertung bestimmter Aktenbeständen des Bundesarchivs unter veränderter Fragestellung hat dennoch zu durchaus bemerkenswerten, wenn auch teilweise nicht gerade neuen Erkenntnissen geführt.2

Von der breiten Öffentlichkeit nur punktuell oder gar nicht zur Kenntnis genommen, wurden seit den 1950er-Jahren von Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Disziplinen über 40.000 generalisierende oder ins Detail gehende Untersuchungen publiziert, die sich intensiv mit den Facetten des „Tausendjährigen Reiches“ beschäftigten. Trotz des inzwischen großen Abstandes zu den Ereignissen und den aussterbenden Zeitzeugen gibt es aber allein in den deutschen Archiven nach wie vor bedeutende, bisher nicht oder nur unvollkommen erschlossene Aktenbestände, mit deren Hilfe unter Anwendung historisch-wissenschaftlicher Methoden weiterhin versucht wird, die Phänomene der nationalsozialistischen Zeit zu verstehen und zu beschreiben.

In die Kategorie dieser Forschungsdesiderata fällt die Anfang 2005 im Oldenbourg Verlag München erschienene Monografie von Dorothee Hochstetter „Motorisierung und ‚Volksgemeinschaft’. Das nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931-1945“. Sie wird sicherlich nicht zum Kassenschlager avancieren, weil auf reißerische Überschriften und publikumsorientierte Zuspitzungen verzichtet wurde. Vielmehr hat Hochstetter eine quellen-, fakten- und literaturgesättigte Studie vorgelegt, die sich durch einen nüchternen, erfreulich gut lesbaren Sprachduktus auszeichnet, was heutzutage bei Qualifikationsschriften eher die Ausnahme ist. Beim ersten Durchblättern des Buches, das aus der überarbeiteten Fassung der von Hochstetter im Oktober 2002 bei der TU Berlin eingereichten Dissertation entstand, wird der Leser sofort auf dreierlei aufmerksam: die akribischen Recherchen zur Materialaufbereitung, die solide Handwerklichkeit in der Stoffgliederung und der enorme Zitierfleiß beim Schreiben (immerhin sind im Quellen- und Literaturverzeichnis 52 Archive, 95 ausgewertete Zeitungen und Zeitschriften sowie annähernd 28 Seiten Sekundär-Literatur angegeben, abgesehen von den drei persönlichen Interviews mit Zeitzeugen und den Hinweisen auf Fernsehsendungen und Online-Angebote).

Mit ihrer Arbeit will Hochstetter „ein differenziertes Bild der inneren Strukturen, der Aktivitäten des NSSK und der wichtigsten Funktionsträger“ geben, den Beitrag dieser NS-Organisation „zur nationalsozialistischen Motorisierungspolitik“ herausarbeiten und die Modernisierungsfrage „innerhalb eines komplexen Wirkungsgefüges aus ideologischen Grundlagen, politischen Zielen, praktischen Maßnahmen und gewollten bzw. ungewollten Ergebnissen“ untersuchen (S. 5f.). Dazu dient ein in elf Kapitel gegliederter Ansatz, mit dem das Grundthema der „multifunktionalen Organisation“ NSSK in ihrer politisch-ideologischen Verschränkung mit den „Facetten der NS-Motorisierungspolitik“ und im Kontext der lebensweltlichen gesellschaftlichen Bezüge analysiert wird (S. 13).

Um es vorweg zu nehmen: Die Untersuchung wird ihrem Anspruch Seite für Seite gerecht. Sie räumt vor allem mit dem bis heute existenten und von ehemaligen Mitgliedern hartnäckig apostrophierten Ruf des NSKK auf, in der NS-Zeit eine weitgehend unpolitische Vereinigung gewesen zu sein, die lediglich Interessen der Kraftfahrer in einem Art ‚Automobilclub’ bündelte, Transport- und Ordnungsdienste für die NSDAP verrichtete, Motorsportereignisse organisierte und eine Scharnierfunktion zwischen der Partei und der Automobilindustrie inne hatte. Vielmehr zeigt Hochstetter anhand der Ursprünge des NSKK 1931-1933 (Kapitel I) und des organisatorischen Aufbaus 1933-1945 (Kapitel II), wie sich die zunächst innerhalb der NSDAP machtpolitisch untergeordnete Formation nach der Fusion mit der Motor-SA unter der Regie ihres Korpsführers Adolf Hühnlein systematisch einen Platz im NS-Herrschaftssystem erkämpfte und die Mitgliederzahl von rund 70.000 im Jahr 1933 auf etwa 500.000 Personen im Jahr 1940 steigerte. Das politische Selbstverständnis des NSKK hat der Ex-Reichswehrmajor Hühnlein so formuliert: „Wir sind unserer inneren Struktur und unserer geschichtlichen Entwicklung nach die motorisierte SA.“ (S.479). Zur Illustration der geografischen Gliederung sowie der Aufbauorganisation des NSKK im Vergleich mit der Motor-SA bzw. der Motor-SS - diese grenzte sich gegenüber den beiden anderen Organisationen ab und wurde nur für die eigene Führung tätig -, wäre Hochstetter allerdings gut beraten gewesen, mehr Organigramme und einige Landkarten in den Text einzufügen. Ebenso hätten sich Tabellen und Grafiken zur Erläuterung von Zahl und Zusammensetzung der Mitglieder als nützlich erwiesen. Die rein deskriptive Darstellung dieser Sachverhalte ist nämlich tendenziell unübersichtlich und insofern nicht leicht zu erfassen.

Auch die Darstellung des höheren Führungskorps des NSKK (S. 122ff.) hätte man sich - eine entsprechende prosopografische Quellenlage vorausgesetzt - ausführlicher gewünscht. Da ein wesentlicher Teil des NSKK-Führungspersonals zwischen 1880 und 1895 geboren wurde, wäre eine vertiefende generationsspezifische Analyse denkbar gewesen, um einer zu vermutenden relativen Homogenität der Alterskohorten durch gleichgelagerte Sozialisation in der Wilhelminischen Zeit und im Ersten Weltkrieg auf die Spur zu kommen.3

Der Abschnitt über Ideologie und Praxis der NS-Motorisierungspolitik (Kapitel III) beschreibt kompakt und anschaulich die treibenden Kräfte für das NS-Motorisierungsprogramm und seine Stilisierung als kultureller Fortschritt. Erstaunlich ist, dass das NSKK trotz seiner Rolle als „Banner- und Willensträger der Motorisierung“ der NS-Zeit (S. 177ff.) dennoch nicht in die erste Riege der NSDAP-Gliederungen aufsteigen konnte, was jedoch den polykratischen Strukturen im Kraftverkehrswesen des „Dritten Reiches“ geschuldet war. Anhand des seinerzeit noch nicht geordneten ADAC-Archivmaterials gewinnt Hochstetter im Kapitel IV bemerkenswerte Einsichten über die „Gleichschaltung“ der Automobilclubs; hier wird das rasche Vorgehen der NS-Machthaber zur Formierung bürgerlicher Vereine in Einheitsclubs im Sinne der propagierten Weltanschauung überzeugend herausgearbeitet.

Um neben der Partei, SA und SS als gleichberechtigte nationalsozialistische Kampfgliederung anerkannt zu werden, bildete das NSKK aktive Mitglieder und Wehrpflichtige in entsprechend ausgestatteten Motorsportschulen aus, zunächst verdeckt als Freizeitlager für motorsportlich Interessierte, nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1935 im Sinne motorisierter Wehrsportgruppen und Nachwuchsfahrer für die motorisierten Truppenteile des Heeres (Kapitel V). Die Ausstrahlungskraft der Technik und „der Hauch von Freiheit und Abenteuer der dreißiger Jahre“ (S. 233) zog vor allem technikbegeisterte Freiwillige und HJ-Angehörige an. „Die Teilnehmer reizten vor allem die kostenlose Führerscheinausbildung und der Wunsch, ihre Wehrpflicht bei einem motorisierten Truppenteil zu absolvieren.“ (S. 273) Ein wesentlicher Anteil an der Popularisierung der motorisierten Fortbewegung hatte der Motorsport, dessen gemeinschaftsbildende Faszination und symbolischer Gehalt für ‚Heldenepen’ von der politischen Führung im „Dritten Reich“ und von der NSKK-Führung weidlich genutzt wurde (Kapitel VI). Korpsführer Hühnlein ernannte sich selbst zum Führer der im September 1933 gegründeten ‚Obersten Nationalen Sportbehörde für die deutsche Kraftfahrt’ (S. 278). Die Intentionen des NS-Regimes kamen in den weltanschaulich-militärischen Inszenierungen der großen deutschen Motorsportereignisse und in der martialischen Sprache beredt zum Ausdruck (S. 318ff.).

Das Kapitel VII, in dem die Beziehungen zwischen der Automobilindustrie und NSKK geschildert werden, ist relativ kurz gehalten, da diese Verflechtungen bereits an vielen anderen Stellen der Studie Gegenstand der Betrachtung waren. Weitaus gehaltvoller sind die Untersuchungen über die Einflussnahme des NSKK auf Kraftfahrzeugsachverständige und Fahrlehrer (Kapitel VIII) und seine bedeutende Rolle für Verkehrserziehung und Verkehrssicherheit. Mit dem diffusen Leitbild einer „nationalsozialistischen Verkehrsgemeinschaft“ als integraler Bestandteile der überwölbenden „Volksgemeinschaft“ wurde an die politischen Führer und die NSDAP-Mitglieder appelliert, Vorbilder im Straßenverkehr zu sein. Flankierend wurde durch das NSKK als dem „lebendigen Gewissen der Verkehrsteilnehmer“ (S. 387) ab Herbst 1936 ein ehrenamtlicher Verkehrserziehungsdienst (VED) aufgestellt, der mit amtlicher Vollmacht Verfehlungen im Straßenverkehr überwachte und weltanschaulich grundierte Verkehrsschulungen durchführte.

Die beiden abschließenden Kapitel sind den Diskriminierungs- und Gewaltmaßnahmen gegen Juden (Kapitel X) und den Aufgaben des NSKK im Zweiten Weltkrieg (Kapitel XI) gewidmet. Sie befassen sich in aufschlußreicher Weise mit den dunklen Seiten des NSKK bei der Verdrängung jüdischer Mitbürger aus Automobil-Clubs und Organisationen sowie der Judenverfolgung und der unterstützenden Teilnahme an Kriegsverbrechen bei den Ostfeldzügen, die in den Erinnerungen der Beteiligten erstaunlicherweise so gut wie nicht vorkommen. Es ist ein besonderes Verdienst der vorliegenden Studie, hier anhand aufklärender Fakten einen lang beschworenen Mythos beseitigt zu haben.

Mit ihrer ausgewogen urteilenden Darstellung über die bislang weitgehend unbekannte NSDAP-Organisation NSKK ohne moralisierend-volkspädagogische Bewertungen hat Hochstetter nicht nur einen sorgfältig gearbeiteten Beitrag zur allgemeinen NS-Forschung geleistet, sondern auch anhand einer Vielzahl mentalitätsgeschichtlichen Zitate aus der Zeit aufgezeigt, welche ambivalenten Wirkzusammenhänge aus Kampfzeit, Freizeitbeschäftigung, Wunsch nach Motorisierung und Servicebereitschaft für die SA/NSDAP während der NS-Herrschaft Bevölkerung, Industrie und politischen Institutionen aneinander banden. Die Verschränkung der verkündeten Modernisierungsbestrebungen mit „law and order“ sowie die letztendlich rückwärtsgewandte Verankerung der Organisation im Völkischen, machte es der Korpsführung offenbar leicht, die NSKK-Mitglieder gleitend in den Kampf gegen die jüdische Bevölkerung und in die Verbrechen in Polen und der Sowjetunion während des Krieges hineinzuziehen.

Das rund um Motoren und Fahrzeuge Erlernte, oder anders gewendet: der hohe Identifikationsgrad der motorisierten Einheiten mit der Mobilität hat mit großer Wahrscheinlichkeit - unter Verdrängung von NS-Ideologie und Kriegsgeschehen - die rasante Motorisierungsphase der Bundesrepublik Deutschland bis in die 1960er-Jahre begleitet und teilweise geprägt; das wäre aber ein neues Forschungsprojekt.

Anmerkungen:
1 Aly, Götz, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am Main 2005.
2 Siehe dazu beispielsweise die ausführlichen Rezensionen von Wolfram Meyer zu Uptrup in <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-142> sowie von Mark Spoerer in <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-143>.
3 Das Vorbild dazu ist immer noch die grundlegende Arbeit von Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996; ähnlich Wildt, Michael, „Die Generation der Unbedingten“. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

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