Schorn-Schütte, Luise (Hrsg.): Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt. Heidelberg 2005 : Gütersloher Verlagshaus, ISBN 3-579-01762-4 523 S. € 49,95

: Das Leben des Alexander Alesius (1500-1565). . Aachen 2005 : Shaker Verlag, ISBN 3-8322-4434-4 468 S. € 39,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lothar Vogel, Augustana-Hochschule Neuendettelsau

Im Jahre 2001 fand in Wittenberg ein Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte statt, das sich das Ziel gesetzt hatte, die für die konfessionelle Spaltung wesentliche Phase des Interims (1548-52) aus einer europäisch-vergleichenden Perspektive in den Blick zu nehmen. Der wissenschaftliche Ertrag dieser Veranstaltung ist nun in einem überaus lesenswerten, von Luise Schorn-Schütte herausgegebenen Sammelband zugänglich gemacht worden. Nach seinem militärischen Sieg über die Häupter des Schmalkaldischen Bundes hatte Kaiser Karl V. im Jahre 1548 auf dem Augsburger Reichstag eine Religionsgesetzgebung erlassen, die freilich am Widerstand der Reichsstände scheiterte. Aus diesem Grunde ist es – wie es in diesem Band mehrfach geschieht – angemessen, von einer „Interimskrise“ zu sprechen, durch welche die Herrschaft des Kaisers im Kern erschüttert und die Position der Reichsstände gerade auch in religionspolitischer Hinsicht gestärkt wurde.

Die von 23 Autor/innen verfassten Beiträge bieten ein eindrucksvolles Gesamtbild, auch weil sich – implizit oder explizit – die Frage nach dem Widerstandsrecht gegen den Kaiser wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Die klassische, von Max Weber und Ernst Troeltsch formulierte Unterscheidung zwischen einem obrigkeitshörigen und darin letztlich noch mittelalterlichen Luthertum und einem neuzeitlichen Calvinismus, in dem ein Widerstandsrecht gegen eine ihre Kompetenzen überschreitende Obrigkeit fest verankert gewesen sei, wird dabei durchgängig überwunden durch Interpretationen, die den Bezug zwischen der jeweiligen (religions-)politischen Lage und der Erörterung der Widerstandsfrage hervorheben und sich einer konfessionsspezifischen Zuordnung entziehen. Analog zur Aufgabe der Vorstellung eines „Sonderwegs“ der Staatlichkeit Deutschlands gegenüber einem „Normalweg“ der anderen europäischen Staaten befreit auch hier eine fundierte europäische Perspektive der Geschichtsschreibung von bisherigen Engführungen – wobei nicht zu vergessen ist, dass die europäische Perspektive heute ebenso der aktuellen politischen Wahrnehmung entspricht wie die nationale Perspektive im 19. und früheren 20. Jahrhundert.

Eingeleitet wird der Band durch eine forschungsgeschichtliche Einführung von Luise Schorn-Schütte. Sie macht in exemplarischer Weise deutlich, dass die Beschäftigung mit der Forschungsgeschichte zur Klärung und Kritik der vorhandenen Verstehenskategorien für die historische Arbeit unverzichtbar ist. Es folgt ein erster Hauptabschnitt, der „Europäische Aspekte der Interimskrise“ thematisiert und damit den hier intendierten Verstehenshorizont umreißt. Die Beiträge behandeln England (Ronald G. Asch), Frankreich (Gérald Chaix), die Schweiz – wo das Interim den Schulterschluss zwischen Zürich und Genf im Consensus Tigurinus auslöste (Thomas Maissen) – die Niederlande (Martin van Gelderen) und Polen (Janusz Mallek). Sie beschränken sich in der Regel nicht darauf, unmittelbare Folgen des Interims, das als solches ja ein Geschehen der Reichspolitik war, zu beschreiben, sondern gehen der Frage nach, inwieweit in diesen Gebieten die Auseinandersetzung über die Reformation zu vergleichbaren Erschütterungen und Neufundamentierungen der politischen Verhältnisse geführt hat.

Der zweite Abschnitt des Bandes befasst sich mit den Konsequenzen des Interims innerhalb des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Horst Rabe betont in seinem Aufsatz über die Interimspolitik Karls V. die Kontinuitäten im religionspolitischen Vorgehen des Kaisers, wobei er vor allem enge Bezüge zwischen der Politik der Reichsreligionsgespräche (1539-41) und seinem Handeln im Anschluss an den Schmalkaldischen Krieg sieht. Ein wesentlicher Unterschied bestand freilich darin, dass Karl V. nun den Papst nicht direkt an den Verhandlungen beteiligte, von ihm aber erwartete, dass er durch die Erteilung von Dispensen die den Protestanten vorläufig gewährten Zugeständnisse, vor allem Priesterehe und Laienkelch, kirchenrechtlich absegne und sich damit seinerseits der Wiederherstellung der kirchlichen Einheit auf der vom Kaiser dekretierten Basis nicht widersetze. Was die Bedeutung des Interims für den reichsunmittelbaren Adel betraf, so stellt Horst Carl heraus, dass nicht der Widerstand gegen das Interim, sondern bereits die Beteiligung am Schmalkaldischen Krieg dafür entscheidend war, dass der Kaiser sich protestantischen Adligen gegenüber ungnädig zeigte. Der Topos der „deutschen Libertät“ in Flugschriften des Schmalkaldischen Kriegs und der Interims-Zeit ist Gegenstand des Beitrags von Georg Schmidt, der in diesem Zusammenhang auch seine These vom „komplementären Reichs-Staat“ als spezifischer Form von Staatlichkeit des Reichs verteidigt.

Rainer Postel und Heinz Schilling behandeln die Entwicklung in den nord(west)deutschen Städten, die sich – anders als die Häupter des Schmalkaldischen Bundes – im Frühjahr 1547 gegen den Kaiser militärisch zu behaupten wussten. Hier erwies sich das Interim als Schlüsselsituation für die politische und religiöse Selbstbehauptung. Ein Beitrag von Günther Wartenberg geht den Auswirkungen des Interims auf kleinere mitteldeutsche Territorien nach (Grafschaft Mansfeld, Nordhausen, Mühlhausen). Ein bemerkenswertes Quellenstück ist hier besonders die Umfrage über das Interim, die der Nordhausener Rat unter den Zünften veranstaltete und die die feste Einwurzelung der Reformation in der Stadt dokumentiert. Bodo Nischan schließlich beschreibt die Interimskrise in Brandenburg, wo der interimsfreundliche Kurfürst Joachim II. und sein Hofprediger Johannes Agricola einer ablehnenden Pfarrerschaft und Bevölkerung gegenüberstanden.

Der dritte Hauptabschnitt des Sammelbands behandelt kirchen- und theologiegeschichtliche Auswirkungen des Interims. Joachim Bauer beschreibt die Gründung der Hohen Schule in Jena als neuer sächsisch-ernestinischer Landesuniversität; die politische Abgrenzung vom albertinischen Kurfürsten Moritz und die theologische Abgrenzung von dem unter seiner Herrschaft weiterhin in Wittenberg lehrenden Melanchthon gingen dabei Hand in Hand. Ergänzend beschreibt Ernst Koch die entschiedene Ablehnung des Interim durch die ernestinischen Landstände im Jahre 1549. Irene Dingels Beitrag über theologische Reaktionen auf das Interim auf protestantischer Seite stellt heraus, dass das kaiserliche Religionsgesetz dort als tiefer Einschnitt wahrgenommen wurde. Man sah sich nun in einen Kampf zwischen Gott und Teufel involviert und somit vor eine Bekenntnissituation gestellt – eine Deutungskategorie, die besonders bei Martin Luther selbst schon früher evoziert worden war, nun aber Gemeingut wurde. War aus Sicht des Kaisers also über den Schmalkaldischen Krieg hinaus der Aspekt der religionspolitischen Kontinuität leitend, so bedeuteten der Krieg und der anschließende Reichstag aus protestantischer Perspektive eine scharfe und herausfordende Zäsur.

Die für die reformatorische Kirchlichkeit stabilisierenden Effekte des Widerstands, die einige der genannten Beiträge bereits für verschiedene nord- und mitteldeutschen Territorien deutlich machten, werden von Inge Mager für das welfische Fürstentum Calenberg-Göttingen nachgezeichnet, wo in diesen Jahren der junge, religiös und politisch auf der Seite des Kaisers stehende Landesherr Erich II. das Interim nicht gegen den Widerstand seiner Mutter, gegen Geistlichkeit und Landstände durchsetzen konnte. Mit den altgläubigen Reichsständen befassen sich schließlich die Beiträge von Eike Wolgast und Rolf Decot. Ersterer behandelt die „formula reformationis“, mit der Kaiser Karl V. 1548 die geistlichen Reichsstände zu einer Kirchenreform zu bewegen suchte, letzterer die Haltung der geistlichen Reichsstände zum Interim selbst. Hauptproblem war hier, dass der Kaiser religionspolitische Kompetenzen beanspruchte, ohne dazu die Kooperation mit dem Papst zu suchen. Im Ganzen ist auf altgläubiger Seite ein ähnlich hinhaltender Widerstand gegen das Vorgehen des Kaisers zu beobachten wie bei den Protestanten – was den grundsätzlichen Charakter einer Interimskrise nochmals unterstreicht.

Der vierte und letzte Abschnitt des Sammelbands umfasst mehrere Beiträge, die sich – im Sinne der New History of Ideas – direkt mit der Debatte über das Widerstandsrecht in den behandelten Jahren befassen. Robert von Friedeburg nimmt eine geistes- und theologiegeschichtliche Einordnung der Verlautbarungen der Magdeburger Magistrate während der Belagerung in den Jahren 1550/51 vor und wendet sich dabei ausdrücklich gegen den Versuch, modellhaft zwischen lutherischen und reformierten Grundmodellen des Widerstandsrechts zu unterscheiden. Angela de Benedictis bietet kontrastierend dazu Einblicke in die Erörterung des Widerstandsrechts in Venedig und Bologna, Merio Scattola veranschaulicht die Rolle der Vorstellung vom Naturrecht bei Philipp Melanchthon und seinen Schülern. Schließlich beleuchtet Gabriele Haug-Moritz die Widerstandsdebatte während des Schmalkaldischen Kriegs. Einen Unterschied zwischen dieser Phase und dem anschließenden Interim erkennt sie darin, dass während des Kriegs sowohl eine religiöse Begründung – im Sinne von Apostelgeschichte 5,29 – als auch eine juristisch-politische Begründung auftauchte, die den Kaiser als Zerstörer einer auf Konsens beruhenden Ordnung darstellte. Anschließend hingegen – da die Autorität des Kaisers nicht mehr in Zweifel gezogen werden konnte – begegne nur noch das religiöse Argumentationsschema. Im Hintergrund der Artikel von Friedeburg und Haug-Moritz steht die Differenzierung und zeitweise Verschmelzung von Gegenwehr (als Maßnahme einer Obrigkeit) und Notwehr (als privatrechtlicher Kategorie). Ein Konsens über diese Problematik ist jedoch, wie aus den Beiträgen hervorgeht, noch nicht erreicht.

Neben diesem Sammelband ist an dieser Stelle eine weitere Neuerscheinung des letzten Jahres zu besprechen, welche ebenfalls die Zeit des Interims beleuchtet und zugleich einen europäischen Horizont eröffnet. Es handelt sich um die von Ernst Siegmund-Schultze verfasste Biografie des Schotten Alexander Alesius (1500-1565), der von 1542 bis zu seinem Tode als Theologe an der Leipziger Universität lehrte. Diese Arbeit – eine kirchengeschichtliche Dissertation – stellt die Frucht einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Materie dar. In konsequent chronologischem Aufbau bietet Siegmund-Schultze eine Darstellung der verschiedenen Lebensstationen und Schriften Alesius‘. Hervorzuheben ist, dass er dazu auch zahlreiche ungedruckte Quellen aus deutschen und britischen Archiven herangezogen und in einem Anhang zusammengestellt hat. Alesius, der bis dahin an der Universität von St. Andrews gewirkt hatte, verließ Schottland um 1529, als der schottische Episkopat nach dem Ketzertod von Peter Hamilton immer konsequenter gegen lutherisch-reformatorische Tendenzen vorging. Über einige Zwischenstationen gelangte Alesius um 1532/33 nach Wittenberg. Die Beziehung zu Philipp Melanchthon – die Phasen großer Nähe, aber auch Zeiten stärkerer Distanz erlebte – bildete fortan ein wesentliches Kontinuum in seinem Lebensweg und wird von Siegmund-Schultze präzise verfolgt. Im Jahre 1535 begab sich Alesius – im Zuge der damaligen Annäherung zwischen Heinrich VIII. und dem Schmalkaldischen Bund – als kursächsischer Gesandter nach England, wo er sich bis zum Einsetzen der altgläubigen Reaktion im Jahre 1539 („six articles“) aufhielt. Ein anschließender Versuch, sich an der Universität im brandenburgischen Frankfurt zu etablieren (1540/42), blieb Episode; kurz darauf fand Alesius an der Landesuniversität des albertinischen Sachsen seine Lebensstellung, wo er zwischen 1547 und 1551 unweigerlich auch mit dem Interim in Berührung kam.

Die Arbeit von Siegmund-Schultze enthält zahlreiche anregende Thesen, von denen hier nur diejenigen, die Alesius‘ Rolle für das Interim betreffen, angesprochen werden sollen. Im Zentrum steht dabei eine in der Universitätsbibliothek Göttingen erhaltene Schrift, die eine dezidierte Ablehnung der kaiserlichen Religionsgesetzgebung durch den Leipziger Theologen dokumentiert (S. 235ff.). Siegmund-Schultze folgert daraus, dass in dieser Phase zwischen Alesius und seinem Landesherrn, den zum Kurfürsten aufgestiegenen Albertiner Moritz, ein erheblicher Dissens bestand. Dies wiederum hat Konsequenzen für die Deutung eines Vorgangs im Jahre 1551, als nämlich die für das Trienter Konzil bestimmte Confessio Saxonica durch Alesius an den hessischen Landgrafenhof gelangte. Während Günther Wartenberg dies als ein vom kurfürstlichen Hofe veranlasstes Vorgehen gedeutet hat, sieht Siegmund-Schultze darin ein eigenmächtiges und im Widerspruch zu den kurfürstlichen Plänen stehendes Vorgehen des Alesius, das darauf gezielt habe, im Reich gemeinsam mit England eine Opposition gegen das kaiserliche Vorgehen zu schmieden (S. 244f.). Entsprechend deutet er die Wendung des Kurfürsten gegen den Kaiser 1551/52 – nun allerdings im Bündnis mit Frankreich und nicht mit England – als maßgeblich von Alesius inspiriert (S. 285).

Ob Ernst Siegmund-Schultzes These von einem umfassenden und vom kurfürstlichen Hof unabhängigen Plan des Alesius sich anhand weiterer Quellen verifizieren lässt, wird noch zu prüfen sein. Auf jeden Fall aber zeichnet die vorliegende Dissertation mit großem Engagement und in einer die Forschung weiterführenden Weise den Lebenslauf eines Theologen des 16. Jahrhunderts mit europäischen Dimensionen.

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