Titel
Volkskunde im sechsten Kondratieff. Versuch einer Positionsbestimmung der Europäischen Ethnologie in der Wissensgesellschaft


Autor(en)
Hoerz, Peter F.N.
Reihe
Bamberger Beiträge zur Volkskunde 1
Erschienen
Anzahl Seiten
65 S.
Preis
€ 5,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Dagmar Hänel, Institut für Volkskunde, Universität Bonn

Der Titel dieses Bandes verwirrt zunächst ein wenig: Was ist Kondratieff, wieso steckt die Volkskunde im sechsten, und warum habe ich von den vorhergehenden fünf noch nie etwas gehört? Die Verwirrung löst der Autor schnell: Schon im Prolog (S. 7-10) macht er die Problemstellung klar, um die es auf den folgenden Seiten gehen wird. Und er führt argumentativ stringent von Überlegungen zum letzten und vorletzten Jahrtausendwechsel zu seinem Thema, der Verbindung des Faches Volkskunde mit der Ökonomie und den Potentialen, die diese Verbindung für die Zukunft unseres Faches bergen kann. Denn das Begriffspaar Volkskunde und Ökonomie steht in vielschichtigen Bezügen: Einerseits ist das Forschungsfeld der Volkskunde, die Alltagskultur, mannigfaltig determiniert von wirtschaftlichen Prozessen, ist Ökonomie ein konstitutives Element jeder Gesellschaft. Mit der Bewusstmachung dieses Faktums wird klar, dass volkskundliche Forschung ökonomische Prozesse und Institutionen explizit in den Blick nehmen muss, um Gesellschaft adäquat zu beschreiben. „Andererseits steht auch die Disziplin selbst in einer zunehmend engen Beziehung zu den wirtschaftlichen Prozessen in unserer Gesellschaft“ (S. 9). Damit meint Hörz sowohl den zunehmenden Druck auf alle Wissenschaften, wirtschaftlich nutzbar zu arbeiten als auch die Tatsache, dass Arbeitsfelder wie Universitäten oder Museen immer mehr mit ökonomischen Kriterien gemessen werden. Der Autor verweist auch auf die Optionen von VolkskundeabsolventenInnen, in für uns neuen Wirtschaftszweigen Fuß zu fassen. Diese Perspektiven macht Hörz zum Ausgangspunkt seiner anschließenden Betrachtung der Volkskunde im sechsten Kondratieff, in der er einen weiteren Zusammenhang zwischen ökonomischer Theorie und der Disziplin Volkskunde aufdeckt. Und hier sind wir bei dem ominösen Kondratieff angelangt, dessen Modell der Konjunkturwellen den Titel des Buches (vom Autor selbst in Fußnote 38 als „etwas mystisch geraten“ bezeichnet) initiierte.

Im ersten Kapitel werden Leben und Werk des russischen Ökonomen Nikolai Dmitrijewisch Kondratieff vorgestellt. Kondratieff, geboren 1892, wurde 1938 ein Opfer des stalinistischen Staatsterrors. Seine Theorie der Konjunkturzyklen und seine liberale Einstellung lieferten die Begründung für den Vorwurf der antikommunistischen Agitation, die mit Deportation und Todesstrafe geahndet wurde.

Kondratieffs Theorie beruht auf der Beobachtung langfristiger Entwicklungen wichtiger Wirtschaftsdaten (u.a. mittlerer Warenpreis, Lohnniveau, Roheisenproduktion und Kohleförderung) der Industrienationen USA, Frankreich und England von 1780 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie besagt, dass diese Entwicklungen in übereinstimmenden regelmäßigen Kurven verlaufen, deren Laufzeit etwa 50 bis 60 Jahre beträgt. Erweitert wurde diese Theorie Ende des 20. Jahrhunderts durch Leo A. Nefiodow (ebenfalls Ökonom). Nefiodow zeigt, dass jeder Anstieg der Konjunktur durch eine technische Basisinnovation ausgelöst wird. Der erste Kondratieffzyklus (1789 bis 1849) „markiert den Übergang von der agrarischen Subsistenzwirtschaft zur Industriegesellschaft“ (S. 16) und wurde initiiert durch die Dampfmaschine, der zweite Zyklus (1849 bis 1896) durch die Entwicklung des Transportwesens (Eisenbahn), der dritte Kondratieff (1896 bis etwa 1950) durch die Elektrifizierung und die Entwicklungen im Bereich der chemischen Industrie. Kondratieff selber identifizierte nur die ersten zwei Zyklen und postulierte für den Zeitpunkt der Publikation seiner Theorie den dritten Kondratieff, der sich gerade in der Phase des Abstiegs befinde. Nefiodow führt das Schema weiter: der „vierte Kondratieff (1950 bis ca. 1990) wurde getragen von der massenhaften Verbreitung des Automobils und der Mineralölindustrie [...]. Der fünfte Kondratieffzyklus schließlich ist das Zeitalter der Informationstechnologien“ (S. 18).

Was hat das ganze nun mit der Volkskunde zu tun hat, beantwortet Hörz im dritten Kapitel. Denn in die ökonomischen Zyklen lassen sich nicht nur technische Entwicklungen und damit zusammenhängende soziale und kulturelle Veränderungen einfügen, auch die Fachgeschichte der Volkskunde lässt sich unter Zuhilfenahme dieses Modells systematisieren. Bemerkenswert ist für den Autor, dass „die Periode, für welche sich die langen Wellen der Konjunktur empirisch belegen lassen, ziemlich genau jenen historischen Zeitabschnitt umfaßt, in welchem sich die Geschichte der volkskundlichen Forschung vollzogen hat“ (S. 19). Hörz zeichnet in diesem Kapitel die Entwicklung des Faches Volkskunde unter der Perspektive der wirtschaftlichen Konjunktur mit ihrer „Wechselbeziehung mit sozialen und psychischen Transformationsprozessen“ (S. 19) nach. Am Beginn steht nochmals eine kurze Zusammenfassung der Ausgangsthese: Volkskunde als Wissenschaft der „Kultur des Volkes“ ist in zweifacher Hinsicht an ökonomische Prozesse gekoppelt: „mit dem Wandel von Volkskultur (ist) stets auch ein Wandel der Blickrichtungen und Verarbeitungsstrategien der Volkskunde verbunden gewesen“ (S. 20). Und diese Volkskultur wurde durch die wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsprozesse nicht nur beeinflusst, sondern „erst produziert“ (S. 20). Diese Schlussfolgerung hätte allerdings eine prägnantere Stellung als in einem vorsichtigen Nebensatz verdient.

Den oben genannten Blickrichtungen der Volkskunde seit Ende des 18. Jahrhunderts geht Hörz im Folgenden nach: Statistik als Bevölkerungskunde im Kontext von volkswirtschaftlichem Denken, das gleichfalls schon einen kritischen Impetus der Modernisierung gegenüber enthielt (J. Möser), der Übergang in die romantische Konstruktion eines idealisierten Volkslebens und -geistes, wo wir den konservativen und vergangenheitsfixierten Blick der Volkskunde und auch seine Genese wohl am deutlichsten erkennen. Dieser Blick wurde, ja durch Scheuklappen verstärkt, im 20. Jahrhundert beibehalten: „Während also in Wien zur Hochzeit des dritten Kondratieff die Arbeiterquartiere explodierten las Rudolf Much 1906 an der dortigen Universität über ‚Das deutsche Haus‘ und meinte damit durchaus keine Mietskaserne“ (S. 24).

Gerade wegen dieser Eigenart war die Volkskunde erfolgreich, denn sie bot Identitätsmodelle und Konstanz in als unsicher empfundenen Prozessen. Die Geschichte des Faches wird in Hörz Argumentationsgang zum Beleg für Nefiodows These, dass „mit jedem Kondratieffzyklus ein Reorganisationsprozeß der gesamten Gesellschaft verbunden ist“ (S. 25), der stets auch das Element eines Gegengewichts in Form einer Suche nach Konstanz enthält.

Auch im vierten Kondratieff findet sich ein Beispiel aus der volkskundlichen Fachgeschichte: Ein neuer Blick auf Alltagskultur und ein kritisches Überdenken des eigenen Selbstbildes („Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen“ (S. 27)) findet in Bausingers „Volkskunde in der technischen Welt“ (1961) deutlichen Ausdruck und Form und erntete umgehend Widerspruch. Auch wenn sich seit 1961 ein „Abschied vom Volksleben“ vollzogen hat, zunehmend analysiert, problematisiert und kontextualisiert wurde – die Volkskunde bleibt, auch wenn sie nun anders heißt, ein Produzent von Identitätsangeboten. Und die sind dann besonders gefragt, wenn Veränderungsprozesse „im Aufschwung eines neuen Kondratieffzyklus Gesellschaft und Kultur durcheinanderwirbeln“ (S. 29).

Diese Zusammenhänge von Ökonomie, technischer, sozialer und kultureller Entwicklung mit dem Fach Volkskunde stellt Hörz – das Kapitel abschließend – in einer Grafik (S. 30) dar. Daran knüpft sich ganz selbstverständlich die Frage an, wie geht es weiter? Der fünfte Kondratieff, in dessen absteigender Phase wir uns momentan befinden, ist geprägt von einem grundlegenden Wandel: Nicht mehr der Umgang mit tatsächlichen materiellen Gütern bestimmt die Konjunktur, sondern die Erschließung und Verarbeitung von Informationen. Die Basisinnovation dieser Phase stellt dementsprechend die Computertechnologie dar, die Veränderungen, die diese Technologien in der Alltagskultur hervorgerufen haben, haben bereits das Interesse volkskundlicher Forschung geweckt. Hörz diagnostiziert für den fünften Kondratieff einen ähnlich umfassenden Wandel der Kultur wie im zweiten, und analog zum 19. Jahrhundert findet der Autor auch die Gegenwart geprägt von Verlustängsten und der Sehnsucht nach Sicherheit, die vor allem in Kontinuitäten gesucht wird. Eine Funktion der Volkskunde – und hier argumentiert Hörz mit Odo Marquard – sei die Kompensation von Modernisierungsschäden. Denn die Produktion von Kulturgeschichte biete – bei aller kritischen Distanz – auch immer Orientierungspunkte. Zudem bietet sie Unterhaltung, passt also auch gut in die „Erlebnisgesellschaft“. „Volkskunde war und ist die Kulturtechnik der Moderne, und sie ist es erst recht in der als ‚Übermoderne‘ (Marc Augé) begriffenen Nachmoderne“ (S. 37), dieses Fazit klingt eigentlich optimistisch für die Zukunft des Fachs. Und Hörz zeigt auch eine ganze Reihe von Potentialen und Optionen der Volkskunde für die Gegenwart und Zukunft auf: Wissensmanagement, Marketing, Consulting bis hin zur Therapie betrachtet der Autor Nischen als für KulturwissenschaftlerInnen. Die Volkskunde erscheint als eine bedeutende Wissenschaft, denn sie kann „Sinn stiften, Gemeinschaft und Differenz erzeugen, Heimat produzieren, Verlustgefühle heilen und dem Leiden an Gegenwart und Zukunftsangst die Erdung im Kulturhistorischen entgegen [...] stellen“ (S. 42). An diesem arg rosaroten Bild ist ein Haken, den Hörz im fünften Kapitel thematisiert: „Und wo bleibt die Moral?“ Denn konsequent durchgesetzt wäre die wirtschaftskompatible Volkskunde eine angewandte, eine die – so Hörz – das „Volk“ an das „System“ verrate. Wenn auch Peter Hörz am Ende vielleicht resigniert feststellt, Volkskunde sei schon immer und durchgehend eine systemerhaltende Wissenschaft gewesen und das schöne Bild findet „Sexualität und Erotik verhalten sich zueinander wie Ökonomie und Volkskunde. Sexualität und Ökonomie sind funktionsbedingt, Erotik und Volkskunde indessen sind reine Verschwendung. Beide jedoch sind arterhaltende Formen der Verschwendung“ (S. 48), reizen seine klugen Analysen zu Gesellschaft und Wissenschaftsgeschichte auf anderen Ebenen zum Widerspruch: Was ist das für ein Bild vom „System“, was anscheinend abgekoppelt vom „Volk“ (was meint dieser Begriff eigentlich) und von der Kulturwissenschaft als drittem Element gedacht wird? Was für ein Anspruch von Objektivität wird hier gefordert, an dem jede reale Umsetzung nur scheitern kann?

Der Epilog, der den Text abschließt, stimmt wieder versöhnlicher. Hier holt sich der Autor von seinen sehr absoluten Überlegungen zu System und Wissenschaftsmoral wieder zurück auf den Boden des pragmatischen Alltagsgeschäfts, des Sowohl-als-Auchs. Ideologien zu hinterfragen, der eigenen Begrifflichkeit immer wieder kritisch gegenüber zu treten, diese Ebene ist wichtig, darf aber nicht zur l’art pour l’art erhoben werden, denn zum eigentlichen Geschäft der Volkskunde gehört eben auch die Ökonomie.

Zusammenfassend ist dieser erste Band der Bamberger Beiträge zur Volkskultur ein mutiger und anspruchsvoller. Eine Positionsbestimmung des Faches kann immer nur Ausschnitt eines Prozesses, eben „Versuch“ sein, wird Zustimmung und Widerspruch hervorrufen. Genau darin, nämlich den Diskurs über das Fach, seine Stellung und seine Aufgaben weiter zu führen, liegt der Reiz dieses Buches. Reiz ist hier doppeldeutig gemeint, einerseits war die Lektüre und die Rezension im positiven Sinne reizvoll, andererseits lösten die Reize einen Prozess der Auseinandersetzung mit dem Text aus, der geraume Zeit gedauert hat, bis diese Rezension ihre Form gefunden hat. Für diese Auseinandersetzung danke ich dem Autor.

Aber noch weiteres ist positiv herauszustellen: Peter Hörz schreibt in einer Sprache, die Spaß macht. Klar verständlich und strukturiert, aber auch mit Freude an den Möglichkeiten der Sprache, mit schönen Formulierungen und ansprechenden Bildern. Die Fußnoten lohnen einer genauen Lektüre, denn Hörz nutzt sie, um zum einen Beispiele und interessante gedankliche Verknüpfungen darzustellen (z.B.: FN 173 und 175). Zum anderen geht Hörz über das oft zu beobachtende „name dropping“ im Anmerkungsapparat hinaus, indem er Ideen und Thesen der zitierten Autoren kurz erläutert (z. B. Rudolf Much in FN 67). Das wird nicht nur eine studentische Leserschaft freuen. Diese bekommt hier eine kurze und prägnante, logisch aufgebaute und gut verständliche Fachgeschichte der Volkskunde geliefert, die einen besonderen Schwerpunkt auf den historischen Kontext – der natürlich geprägt ist von ökonomischen Bedingungen – legt. Leider kommt die NS-Zeit nur ganz am Rande vor, obwohl gerade für diese Zeit eine genaue Analyse auch der unterschwelligen Verbindungslinien von Volkswirtschaft und Volksideologie spannend wäre (vielleicht wäre das ein lohnendes Thema für einen anschließenden Aufsatz).

Für eine zweite Auflage des Buches sei ein etwas sorgfältigeres Lektorat angemahnt, außerdem bleibt zu hoffen, dass bis dahin ein größerer Konsens bezüglich der Orthografie erreicht ist – die hier konsequente Anwendung der alten Rechtschreibung ist zwar verständlich, als widerständiges Verhalten gar sympathisch, aber inzwischen für viele LeserInnen ein Stolperstein.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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