Cover
Titel
Suspended Animation. Pain, Pleasure and Punishment in Medieval Culture


Autor(en)
Mills, Robert
Erschienen
London 2006: Reaktion Books
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
$29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norbert Schnitzler, Technische Universität Chemnitz

Irgendwann in den 1440er bzw. 1450er-Jahren verfasste Fançois Villon eine ‚Ballade des pendus’, einige kurze doch ungemein eindringliche Strophen, die in einer unverstellten Schilderung von verwesenden Körpern kulminieren: „Der Regen hat uns ausgelaugt und reingewaschen / Die Sonne uns gedörrt und geschwärzt. / Elstern und Krähen haben uns die Augen ausgehöhlt / Uns die Bärte ausgerissen und die Brauen auch“.1 In der Folgezeit sind die Verse vielfach adaptiert, übersetzt und interpretiert worden, Beleg für die Intensität der von Villon bemühten Bilder und ihrer fortdauernden Faszinationskraft. Als ‚touch across time’ bezeichnet Robert Mills, der Verfasser des hier zu besprechenden Buches, diese spezifische Qualität lyrischer Texte und Bilder, auch nach mehr als 500 Jahren noch bei Leser/innen und Betrachter/innen körperliche Reaktionen, Beklemmung, Abscheu, Erregung hervorzurufen. Dies und die Feststellung, dass sich in der europäischen und nordamerikanischen Gegenwartskultur (vermittelt durch Bücher, Filme und Musik) ein Erbe der mittelalterlichen Gewaltkultur erhalten hat, aufgrund dessen spezifische Formen der Gewaltausübung, insbesondere Formen körperlicher Disziplinierung bis hin zur Tortur bzw. Hinrichtung als „mittelalterlich“ wahrgenommen und bezeichnet werden – bildet den Ausgangspunkt seiner Studie, die sich einer breit gespannten Auswahl aus spätmittelalterlichen Gerichtsbildern, Darstellung der Martyrien Heiliger, der Passionsgeschichte sowie mystischer und erbaulicher Texte bedient.

Es ist ein ambitioniertes Buch, mit einem kaum zu zügelnden Drang, theorielastige Erörterungen einzuschalten, wie sie in den ‚cultural studies’ anglo-amerikanischer Prägung verhandelt werden. Leider ist es kein historisches Buch. Anders als im Untertitel vermerkt, geht es um mittelalterliche Geschichte nur als Symptom, als Signum für einen ‚abgespaltenen’, ‚verdrängten’ Teil des kulturellen Gedächtnisses (S. 12). Die unterschwellig weiter wuchernde Symbolik und Bildsprache des Mittelalters wird damit zur kostbaren Ressource für einen hoch aggregierten begrifflichen Wiederaufbereitungsvorgang, der insbesondere der vermeintlich dunklen Seite ‚unserer’ fernen Vergangenheit einmal mehr Aufmerksamkeit verschaffen möchte. Das Buch beinhaltet keine inhaltlich geschlossene Monografie, sondern es handelt sich um sechs über die Fragestellung mehr oder weniger kohärent miteinander verzahnte Einzelstudien, ein Einleitungs- sowie ein Schlusskapitel. Abgesehen von der vagen Umschreibung als „medieval penal imagery“ (S. 16) verzichtet der Verfasser auf eine irgendwie geartete systematische Begründung seines Gegenstandsfeldes. Das herangezogene Quellenmaterial – selektiv und heterogen, im Wesentlichen aus der einschlägigen historischen bzw. kunsthistorischen Forschungsliteratur entnommen – wird zumeist als exemplarisch vorgestellt und behandelt, doch ist es dies nicht. Es handelt sich überwiegend um singuläre, exzeptionelle Bilddarstellungen bzw. Texte, die in ihrer Eigenart vom Verfasser nur selten gewürdigt werden. Auf eine systematische Einbettung in ikonografische, diskursive, soziale oder räumlich-geografische Zusammenhänge wird allerdings zumeist verzichtet, daher bleiben die teilweise durchaus überzeugenden, ja irritierenden Einzelbeobachtungen an Details und Teilaspekten in ihrer Gewichtung unklar. Befremdlich stimmt auch die Feststellung, dass – obschon die einzelnen Kapitel verschiedenartige Formen physischer Gewaltausübung und ihrer Wahrnehmung ins Zentrum rücken – neuere Untersuchungen zur historischen Gewaltforschung von Mills nicht zur Kenntnis genommen wurden (P. Spierenburg, R. Muchembled, D. Crouzet, J. Chiffoleau, G. Schwerhoff).

„Suspended Animation“ – der Titel des Buches bezieht sich auf eine der zentralen Thesen, die besagt, dass sich in mittelalterliche Bilddarstellungen eine je spezifische historische Situation eingelagert hat – gewissermaßen zu einer Momentaufnahme verdichtet: „(they) freeze moments of historical time“, ihnen kommt eine Art „petrified quality“ (S. 20) zu. Mills überhöht das Bild des am Galgen baumelnden Körpers zu einer Chiffre der Epoche: Einerlei ob es sich um Kriminelle, Märtyrer oder Christus selbst handelt, „they find themselves ‚interposed’ symbolically, in the gap between allegoric and literal interpretation“ (ebd.). Darüber hinaus lässt der Verfasser eine Annahme unhinterfragt im Raum stehen: Auch wenn einzelne Bilder damals wie heute impulsive, geradezu somatische Regungen bei dem Betrachter hervorzubringen vermögen, heißt das doch nicht, dass Affekte keinerlei historischer Überformung unterliegen! Schlussendlich geht es Mills auch nicht um den Nachweis von tatsächlichen Reaktionen, sondern vielmehr um die theoretische Begründung von möglichen Reaktionsformen: „[...] not [... ]to prove outright that a particular response was possible, but to suggest [...] that such responses were not impossible“ (S. 21).

Die sechs Kapitel des Buches gliedern sich in zwei Abschnitte mit jeweils drei Kapiteln: Die erste Gruppe behandelt ausgewählte Aspekte der mittelalterlichen Rechtsikonografie, insbesondere die Reaktionsformen, die sie beim Betrachter auslösten. Die zweite Gruppe rückt Darstellungen von Heiligenmartyrien (unter anderem Barbara, Laurentius, Erasmus) sowie Passionsszenen in den Vordergrund. Für die Argumentation spielen daneben eine Reihe von prominenten spätmittelalterlichen Texten (geistliche Dramen, mystische Literatur, autobiografische Texte) eine Rolle, die in wechselnder Konfrontation mit den Bildquellen einem an psychoanalytischer Literaturtheorie (J. Lacan, G. Deleuze, J. Kristeva, S. Zizek) geschulten Interpretationsraster unterworfen wird.

Die eingangs zitierte ‚Ballade des pendus’ Villons liefert das Grundmotiv für das erste Kapitel des Bandes (‚Betwixt Heaven and Earth’, S. 23ff.). Es ist das argumentativ überzeugendste, wenngleich sich die Frage stellt, inwiefern ein auf Identifikationsstrategien zwischen lyrischem Ich und Leser zielender Ansatz dem Text Villons angemessen ist. Bekanntlich waren so genannte ‚Armesünder’-Lieder Teil des spätmittelalterlichen Strafrituals. Sie wurden von den Todeskandidaten auf ihrem letzten Gang gesungen, wohl auch um ihre ‚Glaubwürdigkeit’ als reumütige Pönitenten zu steigern. Solche Formen der (Selbst-)Inszenierung des Missetäter/Sünders sind wesentliche Bestandteile des spätmittelalterlichen ‚Straftheaters’, womit neben der Legitimitätssteigerung der beteiligten Institutionen insbesondere auf die Wirkung nach innen, auf die Persönlichkeit des Delinquenten abgezielt wurde. Seine ‚Natur’, sein ‚Wesen’ unterliegt im Verlauf des Strafrituals einer tiefgreifenden Veränderung.2 Bedarf es zum Verständnis dieser Zusammenhänge der aufwändigen Konstruktion eines psychologischen Bezugsrahmens (S. 30f.), der handelnde personae und Publikum im Sinne des Identifikationsbegriffes miteinander in Beziehung setzt?

In einem nachfolgenden längeren Abschnitt behandelt Mills eine im spätmittelalterlichen Europa verbreitete Form der Todesstrafe an Juden, die ‚verkehrte’ Hinrichtung am Galgen. Aufgrund von vergleichbaren Motiven der ‚Inversion’, der sich die Verfasser von so genannten ‚Schandbildern’ bzw. ‚-briefen’ bedienten, glaubt er folgern zu können, dass der Deutungshorizont der Zeitgenossen im spätmittelalterlichen Deutschland judenfeindlich imprägniert war – im Gegensatz zu den vergleichbaren pitture infamanti Italiens. Abgesehen von der problematischen Feststellung, dass Darstellungen des ‚verkehrten’ Henkens ebenso wie etwa des verkehrten Ritts auf einer Sau beim Publikum judenfeindliche Assoziationen wachgerufen habe, wiederholt der Autor hier Thesen über die Kontinuität anti-semitischer Einstellungen, die in den 1940er-Jahren bereits Rudolf Glanz, gestützt auf mehr oder weniger dasselbe Material, wenig überzeugend vertreten hat.3

Gerard Davids bestürzende Darstellung der ‚Häutung des Sisamnes’ (1498, heute in Brügge) und die vielfältige Symbolik der Haut stehen im Zentrum des zweiten Kapitels (‚Skin Show’, S. 59ff.). Mills referiert hier die wichtigsten Aspekte der einschlägigen historischen und kunsthistorischen Literatur, um daran seine Beobachtung einer eigenartigen Diskrepanz zwischen der ‚realistischen’ Schilderung des Geschehens im Gemälde und der historischen ‚Realität’ des Malers anzuschließen. David malte eine Strafpraxis – das ‚Schinden’ – die von zeitgenössischen Gerichten vermutlich nie verhängt worden ist. Allerdings lässt Mills es bei dieser Beobachtung einer semantischen ‚Leerstelle’ bewenden. Stattdessen wendet er sich dem Motiv der Haut zu, jenem Teil des Körpers, der die Projektionsfläche schlechthin der spätmittelalterlichen Strafsymbolik bildete. Die Haut – so Mills – galt im Mittelalter als Metapher für unterschiedlichste Verschriftlichungsvorgänge: als ‚Vertragsdokument’, das den Bund zwischen Gott und den Gläubigen bekräftigte (‚The Charter of Christ’, S. 67); als Zeichenträger für innere Gefühlszustände (höfische Literatur) oder für Krankheiten, die durch eine sündige und verworfene Seele hervorgebracht wurden (Lepra); schließlich als allfälliges Sinnbild für die Tätigkeit der Memoria: „In keeping with medieval notions of skin as memory, to flay someone alive would be to tear away the bodily surface onto which transitory memories and identities could be inscribed – only to fashion an etched parchment in its place (the dead skin), from which ‚timeless’ moral lessons could be read“ (S. 68). Mills konzentrierter Blick auf einzelne Motive ostentativer Gewaltdarstellungen in Verbindung mit der Suche nach bildlichen Identifikationsstrategien hat ihm hier zu einigen bemerkenswerten Einsichten verholfen, die es verdient gehabt hätten, weiter verfolgt zu werden: zum einen die Motivverwandschaft der Sisamnes-Darstellung zu zeitgenössischen Anatomie-Darstellungen und den hieraus resultierenden Implikationen für die Betrachterperspektive; zum anderen seine Überlegungen zur spätmittelalterlichen Vorgeschichte einer ‚burgerlijk aesthetic’ (S. 72ff.).

Kapitel III (‚Eliminating Sodom’, S. 83ff.) widmet sich der Analyse bildlicher Darstellung des Lasters der Sodomie bzw. sodomitischer Praktiken vorwiegend am Beispiel von Höllendarstellungen in der spätmittelalterlichen oberitalienischen Wandmalerei. Dem Verfasser geht es hier darum zu zeigen, dass in den Darstellungen eine auffällige Verengung des Sodomie-Begriffs erkennbar wird: „Italian infernal iconography represents sodomy as an overtly sexualized category linked primarily to same-sex intercourse (as in Aquinas); more specifically, it associates the vice with relations between men that pivot around penetration of orifices.“ (S. 91). Sinnfällig wird dieser Zusammenhang insbesondere an dem Motiv des ‚aufgespießten Sünders’, dem die beiden Enden eines Spießes an Mund und After heraustreten, wobei eines wiederum in den Mund seines ‚Partners’ reicht. Die enge Verbindung, die hier zwischen der kanonischen Hauptsünde der Sodomie und den ‚bestraften’ Körperteilen als bildhafter Ausdruck widernatürlicher sexueller Praktiken (analer und oraler Verkehr) und Kennzeichen von Homosexualität hergestellt wird, scheint zumindest für das ‚Jüngste Gericht’ Buonamico Buffalmaccos (Pisa, 1332-42) bzw. für Giovanni da Modenas Bologneser Endgerichts-Fresco (1410-12) plausibel (S. 85ff.). Gestützt wird die These von historischen Fallstudien, die für das späte 14. und das beginnende 15. Jahrhundert in mehreren oberitalienischen Städten eine Repressionswelle gegen die ‚stumme Sünde’ nachweisen konnten. Doch wird man dem Verfasser nicht in jedem Punkt seiner Argumentation folgen wollen. Gerade die von ihm mehrfach herangezogene Höllendarstellung Taddeo di Bartolos (San Gimignano, 1393-1413) entzieht sich einer entsprechenden Deutung als gezielte Stigmatisierung von Homosexualität, da es sich bei den beiden ‚Sodomitern’ offenkundig um ein heterosexuelles Paar handelt (S. 94). Bestraft werden also ‚widernatürliche’ sexuelle Praktiken, nicht gleichgeschlechtliche Beziehungen! Insofern wird man auch skeptisch bleiben gegenüber einer These, die behauptet, dass sich in der moralisch verunsicherten Bankiers- und Händlerkultur der oberitalienischen Metropolen (S. 100f.) eine überzeitlich wirkende Bildformel oder Denkfigur etabliert habe, die Homosexualität mit Sodomie gleichsetze und bis in die Gegenwart Wirkung zeige (S. 102ff.). Wenig nachvollziehbar ist weiterhin die Behauptung, die Höllendarstellungen hätten ihrerseits wiederum die Strafpraktiken der städtischen Justiz gegenüber ‚Sodomitern’ beeinflusst (S. 95). Mills lässt hierbei außer Acht, dass die mittelalterliche Strafgerichtsbarkeit vielfach dem ‚Talions’-Prinzip folgte, das heißt so genannte ‚spiegelnde’ Strafen für das begangene Verbrechen verhängte. Vielmehr ist es wohl umgekehrt, dass dieses rechtliche Prinzip seinerseits auf die Ikonografie spätmittelalterlicher Rechts- und Gerichtsbilder wirkte – so etwa im Beispiel des ‚korrupten’ Richters Sisamnes.

Die Barbara-Tafel des Meister Francke (Helsinki, 1410-15) steht am Anfang des IV. Kapitels (‚Invincible Virgins’, S. 106ff.), das – wie die beiden folgenden Kapitel – den Fokus der Untersuchung stärker auf konzeptuelle bzw. theoretische Probleme lenkt – in diesem Fall auf die Aspekte ‚Voyeurismus’ bzw. ‚erotischer Blick’. Mehrere Episoden der Barbara-Tafel – so der Verfasser – seien gemäß der Logik einer männlich-erotischen Schausucht komponiert. So etwa indem sie den makellosen, jungfräulichen Körper der Heiligen nicht nur zeigten, wie er den Torturen der Peiniger ausgesetzt werde, sondern zugleich auch den begehrlichen Blicken eines männlichen Publikums. In einer Szene, die die Gefangennahme der Heiligen darstellt (Abb. 59), werde diese Form des ‚erotischen Blicks’ im Bild selbst thematisiert. Barbara wird hier von drei Männern umringt, „(who) press themselves against Barbara’s side, running their hands along her upper body and ogling at her face with lustful eyes [… ]the wide stares of Barbara’s tormentors [… ]appear to accentuate visually the logic of the ‚male gaze’“ (S. 113). Eine solche Behauptung lässt sich weder stichhaltig belegen noch grundsätzlich ausschließen. Nahe liegend scheint es jedoch, vergleichbare Arrangements zur Deutung der Handlung heranzuziehen, etwa die hochgradig schematisierte Darstellung der ‚Verspottung Christi’ bzw. der ‚Gefangennahme Christi’. Übereinstimmungen zeigen sich in vielen Details: In der figurativen Anordnung der Schergen mit Christus in der Mitte, dem Ziehen an den Haaren, verzerrter Mimik und schmähenden Gebärden. ‚Begehrliche Blicke’ sucht man allerdings vergebens.

Erotische Phantasien und die Imago eines entblößten Frauenkörpers sieht Mills auch in einer vielfach zitierten Passage aus dem ‚Gesprechbiechlin Neuw Karsthans’, einer polemischen Flugschrift aus der Zeit des reformatorischen Bilderstreits, am Werk (S. 128; vgl. S. 195). Anders als Mills es darstellt, geht es hier jedoch keineswegs um die erotische Ausstrahlung der weiblichen Heiligenfiguren, sondern um die Bekleidung (Kleidung als soziales Distinktionsmerkmal!), die ihnen ein ‚hurenhaftes’ Aussehen verleihe – ein bekannter Topos der reformatorischen Polemik, gerichtet gegen die ‚kommerziellen’ Tendenzen der kirchlichen Heiligenverehrung. Eine impulsive körperliche Reaktionsweise damaliger Betrachter als Folge der Betrachtens ‚erotisierter’ Heiligenbildnisse lässt sich daraus nicht ableiten.

Kapitel V. (‚Of Martyrs and Men’, S. 145ff.) beschäftigt sich mit Formen der Gewaltausübung, die sich gegen den eigenen Körper richten. In diesem Teil geht es dem Verfasser vor allem darum zu zeigen, dass ein kritischer Umgang mit dem Masochismus-Begriff ihn auch für die historische Beschäftigung ertragreich machen könnte. Mills schlägt einen weiten Bogen über die körperliche Disziplinierung von Zöglingen im Kloster oder in der Schule, für die Schläge als nützliche pädagogische Maßnahme galten (S. 153f.); über die eindringliche dramaturgische Inszenierung von Heiligenmartyrien, die ihre Leiden ‚freiwillig’ auf sich nahmen und ihre Schmerzen sogar als ‚wohltuend’ empfanden (S. 158); bis hin zur innigen Betrachtung der Leiden Christi, wobei die visuelle Vergegenwärtigung bei den Betrachtern entsprechende körperliche Reaktionen ausgelöst hätten: „The medieval principle of imitatio Christi encapsulates the fantasy that pain is transferable and that it can be shared [...] Medieval beholders were beeing asked to view pain not simply as a destructive force but also as phenomen that produces bliss“ (S. 162f.). Neu sind diese Einsichten nicht. Carolin Walker Bynums ‚Holy Feast and Holy Fast’ hat bereits vor Jahren kontroverse Debatten über die unterschiedlichen Dimensionen von Schmerzempfindungen christlicher Anachoreten ausgelöst. Bynum hat – übrigens wie jüngst auch noch Esther Cohen – eine Einordnung in die Kategorie ‚Masochismus’ strikt abgelehnt. 4

In Kapitel VI. (‚Hanging with Christ’, S. 177ff.) wendet sich Mills dem Problemkomplex ‚Geschlechterrollen, Geschlechterwahrnehmung, Geschlechtszuschreibung’ zu. Ausgangpunkt bildet eine vielfach traktierte autobiografische Passage aus einem Kommentar zum Matthäus-Evangelium des Rupert von Deutz (um 1100). Mehrfach schildert der Benediktiner seinen innigen Umgang mit einem Kruzifix; in dem besagten Abschnitt ‚reagiert’ der Gekreuzigte unverhofft, öffnet den Mund, um sich ‚tiefer küssen zu lassen’ (ut profundius oscularet). Mills schließt hieran eine ausführliche Debatte der geschlechtsspezifischen, sexuellen und erotischen Implikationen dieser und vergleichbarer mystischer Erfahrungsberichte an, unter anderem des einflussreichen Hohelied-Kommentars Bernhards von Clairvaux. Wie im Kapitel zuvor wird auch hier die Frage nach dem Zusammenhang von sexuellem Begehren und spirituellem Heilsverlangen aufgeworfen. Gerade die Texte Bernhards legen es allerdings nahe, etwa der vieldeutigen Symbolik des Kusses für die mittelalterliche Exegese gründlicher nachzugehen.5 Mills wäre auf einen überaus reichhaltigen Schatz mittelalterlicher Kusstechniken und ihrer Semantik gestoßen. Im Kern geht es dem Verfasser allerdings darum aufzuzeigen, wie die als stabil gedachten Geschlechtsidentitäten in den Visions-Beschreibungen sich verflüssigen, Geschlechterrollen wechseln bzw. nicht mehr eindeutig bestimmbar sind. Neben englischsprachigen mystischen Texten des 13. und 14. Jahrhunderts zieht Mills hierfür eine prominente illuminierte Zeichnung der ‚Rothschild–Cantica’ (ca. 1320, heute in Yale) heran: Auf zwei Bildseiten verteilt zeigt sie eine Vision der sponsa, die mit einem Speer in ihrer Hand im Begriff ist, diesen in die Seitenwunde Christi (gegenüberliegende Bildseite) zu stechen (Cant. Cant. 4,9). Bereits Jeffrey Hamburger hat – unter Hinweis auf einen Text Mechthilds von Hackeborn – auf die auffällige sexuelle Konnotation der Motivwahl hingewiesen. Wie dicht hier Bildrhetorik und Liebesmetaphorik ineinander greifen wird erst deutlich, wenn man sich den breiten Strom der von Visionärinnen hervorgebrachten Texte vergegenwärtigt. Dann erscheint es allerdings kaum mehr überraschend, dass in der Vorstellungswelt der Leserin/Betrachterin sich der Körper Christi in einen weiblichen Körper ‚verwandeln’ konnte. Der Tausch von Geschlechterrollen, das ‚Spiel’ mit Geschlechterstereotypen ist insofern als ein konventioneller Bestandteil der mittelalterlichen visionären Bildsprache anzusehen. Eine Deutung im Sinne des Verfasser, der die Rothschild-Zeichnungen als potentiell homoerotische Szene lesen möchte (S. 192f.), lässt sich aus den Befunden allerdings schwerlich ableiten.

Mills ist, wie er mehrfach bekundet, daran gelegen, den starren, distanzierten Blick auf das Mittelalter aufzubrechen: „We need Middle Ages, not the Middle Ages“ (S. 193, vgl. S. 20f.). Dem wird man nicht widersprechen wollen. Allerdings ist ‚die’ Mittelalterforschung offenkundig weitaus umtriebiger und vielfältiger als er bereit ist sich einzugestehen.

Anmerkungen:
1 Poésies complètes, hg. von Claude Thiry, 1991.
2 Vgl. Cohen, Esther, Crossroads of Justice, Leiden 1993.
3 Zur Kontroverse zwischen Glanz und Guido Kisch vgl.: ders., The ‚Jewish Execution’ in Medieval Germany, in: Historica Judaica 5 (1943), S. 103-132; für eine methodologisch reflektierte Anwendung von ‚Rasse’ als historischer Kategorie vgl.: Nirenberg, David, Das Konzept von Rasse in der Forschung über mittelalterlichen iberischen Antijudaismus, in: Cluse, Christoph u.a. (Hgg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung (5.-18. Jahrhundert), Hannover 2003, S. 49-74.
4 Bynum, Carolyn W., Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley 1987, S. 208.
5 Vgl. Köpf, Ulrich, Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980, S. 37f.

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