J.A.E. Goeze: Mit der Postkutsche durch die Mark Brandenburg nach Reckahn

Cover
Titel
Mit der Postkutsche durch die Mark Brandenburg nach Reckahn. Eine kleine Reisebeschreibung zum Vergnügen der Jugend aus dem Jahr 1784


Autor(en)
Goeze, Johann August Ephraim
Reihe
Presse und Geschichte 136 / Philanthropismus und populäre Aufklärung 18
Erschienen
Bremen 2019: Edition Lumière
Anzahl Seiten
139 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Joachim Scholz, Historische Bildungsforschung, Ruhr-Universität Bochum

Im Bremer Verlag edition lumière sind in den letzten zehn Jahren weit über 100 Arbeiten zur Presse- und Literaturgeschichte und zur Erforschung von Philanthropismus und Volksaufklärung erschienen, darunter auch einige kommentierte Quelleneditionen, die den thematischen und personellen Umfang, die kommunikative Praxis und die fortwirkende Bedeutung der Epoche der Aufklärung im Detail sichtbar machen. Dass das hier vorliegende Bändchen gleich zwei Verlagsreihen zugeordnet ist – der pressegeschichtlichen (Band 136) und der zu Philanthropismus und populärer Aufklärung (Band 18) – erklärt sich aus dem Wirkungsfeld des im Mittelpunkt stehenden Autors: Johann August Ephraim Goeze (1731–1793).

Er war ein „außergewöhnlicher pädagogischer, naturwissenschaftlicher und volksaufklärerischer Schriftsteller“, so Hanno Schmitt in seiner biographischen Einleitung (S. 9), und bei Zeitgenossen für das umfangreiche Ouevre seines publizistischen Gesamtwerkes hoch angesehen. Goeze, Bruder des von Lessing befehdeten Johann Melchior Goeze, war Theologe und Naturwissenschaftler. Die Art und Weise, wie er als vielseitig interessierter Autodidakt sich reisend und sammelnd, stets forschend und deutend der Welt zuwandte und gewonnene Erkenntnisse weitergab, kennzeichnet den Aufklärungstheologen, der sein Publikum, ob von der Kanzel oder über den Weg literarischer Belehrung, zu einer realistischen Sicht auf die Schöpfung einladen und durch Vermittlung aufgeklärter Kenntnisse die Welt verbessern wollte.1 Goeze trat für religiöse Toleranz und gegen den Aberglauben ein und benutzte eine bildlich-praktische Sprache, die auch Kinder ansprechen sollte und die schon in den Titeln seiner Publikationen zum Ausdruck kommt: „Blitzableiter auf die Häuser zu setzen, ist kein Eingriff in die göttliche Vorsehung. Eine Volkspredigt“ zum Beispiel. Man erfährt in der Einleitung von Schmitt über das Typische hinaus auch Besonderheiten, etwa, dass Goeze eine bedeutende Eingeweidewürmer-Sammlung anlegte, und dass er bereits ein Mikroskop besaß. Die Faszination, mit der er die Tierwelt im Tropfen aus einer Pfütze betrachtet hat, überträgt sich aus der von Schmitt wiedergegebenen Beschreibung auch noch nach 250 Jahren.

Im zweiten einleitenden Text gibt Jürgen Overhoff Einblick in die Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung, um die nachfolgend wiedergegebene Quelle historisch zu kontextualisieren. Unterhaltsame Bücher, die, wie schon Defoes Robinson Crusoe, gerade auch in der Freizeit von Jugendlichen gelesen oder von deren Erziehern vorgelesen werden sollten, waren im 18. Jahrhundert Teil des neuen philanthropistischen Erziehungsprogramms, das seine Wirkung auf nützliche und erfreuliche Weise zugleich entfalten sollte. Das Buch ist mithin ein Beispiel für die in den 1760er-Jahren erst Kontur gewinnende eigenständige Kinder- und Jugendliteratur, die die auf Heilserwerb und rhetorische Schulung gerichtete Ansprache älterer Schriften für Heranwachsende abgelegt hatte. Diese neue Literaturform sollte amüsieren und belehren, sie war überwiegend auf säkulare Inhalte und Welt- und Menschenkenntnis gerichtet.2 Ein beliebtes Subgenre der pädagogisch intendierten Unterhaltungsliteratur waren Reisebeschreibungen. Schmitt und Overhoff kommentieren Goezes Beschreibung seiner Reise von Quedlinburg nach Reckahn ausführlich und mit erkennbarer Sympathie für den historischen Autor und sein Vorhaben, den jungen Leser/innen seiner Zeit nicht nur die Reise selbst, sondern auch das Reiseziel bekannt zu machen, hier das für die Landschulreform Friedrich Eberhard von Rochows berühmte Dorf Reckahn bei Brandenburg an der Havel.3 Überzeugt von der Bildsamkeit einfacher Landkinder und der möglichen Verbesserung von Wirtschaft und dörflichem Gemeinwesen durch eine Bildungsinitiative hatte Rochow dort 1773 eine Volksschule errichten lassen, die im ausgehenden 18. Jahrhundert zum Anziehungspunkt der preußischen aufgeklärten Gesellschaft und des Auslandes wurde.4 Goeze verzichtet, „um die Bescheidenheit eines Menschenfreundes“ (S. 91) wie Rochow nicht zu verletzten, (leider) auf Einzelheiten ihrer persönlichen Begegnung. Er beschreibt Reckahn und die Nachbardörfer der Rochowschen Besitzungen vielmehr aus der Perspektive eines beliebigen Besuchers, der eingeladen ist, sich überall umzusehen. Seine Beobachtungen in dem kultivierten Gutsensemble mit seinen Meliorationsgräben, dem Park nebst Aussichtsturm und kleiner Badeanstalt, der aufgeklärten Praxis, den Gottesdienst zu halten, und schließlich des reformierten Unterrichts innerhalb und außerhalb des Reckahner Schulhauses sind adressatengerecht konkret gehalten, lebendig und detailreich. Die Landschule wird als Teil dieser modellhaft aufgeklärten Lebenswelt en miniature in die Darstellung eingebracht. Trotz ihrer Musterhaftigkeit fehlt dabei nicht der Wirklichkeitsbezug. So wird an einer Stelle erzählt, wie Kindern, die Rochow gegen Bezahlung schädliche, haarbesetzte Raupen absammeln ließ, Gesicht und Hände schwollen. „Wenn man sich mit Weinessig wäscht, giebt sichs bald“ (S. 114), bemerkt Goeze.

Bevor er allerdings Reckahn erreicht, schildert Goeze einen mehrtägigen „Roadtrip“ in der Postkutsche. Seine Begegnungen und Beobachtungen sind kulturhistorisch und landesgeschichtlich nicht uninteressant. Kurzweilige Beschreibungen etwa der wechselnden Reisegesellschaft in der Kutsche, der üppigen Tier- und Pflanzenwelt, der Probleme der Bauern und der sich zu ihrer Überwindung anbietenden Lösungen vermitteln ein lebendiges Bild vom Alltag in Preußen im Sommer des Jahres 1784. Die Herausgeber illustrieren es noch mit zeitgenössischen farbigen Bildquellen, die das Original nicht enthält. Goeze interessiert sich bei seinen beiden Durchfahrten durch Magdeburg für die gewaltigen Festungsanlagen der Stadt (die damals größten in Preußen), für die Fischer am Elbhafen und sieht und beschreibt eine Wandermanegerie, den Vorläufer des Zoologischen Gartens. Beim Besuch des Gefängnisses auf der Rückfahrt erweist er sich zuletzt, etwas überraschend, als Anhänger rigider Vergeltungspraktiken, von denen viele Aufklärer sich damals schon abgewandt hatten. So endet das eigentlich dem „Vergnügen der Jugend“ gewidmete Buch in der Belehrung eines „konservativ lutherische[n] Pfarrer[s], der Angst erzeugt, um die Menschen mit Drohgebärde auf die rechte Bahn des Guten zu führen“ (S. 128).

Dass das Bild eines in jeglicher Hinsicht zukunftsweisenden Weltverbesserers hier am Ende etwas zurechtgerückt wird, ist am Platze. Denn unterschwellig begleitet die Lektüre der Eindruck, Ziel einer zweifachen Pädagogisierung zu sein, weil erstens nicht nur Goeze in aufklärerischer Manier buchstäblich keine Gelegenheit auslässt, seine Erlebnisbeschreibungen in eine Moral oder Lehre münden zu lassen, sondern auch, weil zweitens die minutiöse Kommentierung die Begeisterung der Philanthropismusforscher für ihre Quelle deutlich erkennen lässt. Zu ihr besteht freilich guter Grund. Goezes Reisebericht, der die engen Verflechtungen innerhalb der Aufklärungsgesellschaft zeigt, ist geeignet, die Beschäftigung mit Friedrich Eberhard von Rochow, um dessen Erbe Hanno Schmitt sich u.a. durch Gründung eines Museums verdient gemacht hat, zu beleben und zu bereichern. Ferner dürfte sich der Band aufgrund seines überschaubaren Umfangs bestens dazu eignen, in bildungshistorischen Lehrveranstaltungen jene Prinzipien und Praktiken aufklärerischen Gestaltungswillens, die als wesentliche Antriebsfaktoren in Europa ein modernes Bildungsverständnis haben entstehen lassen, quellennah zu veranschaulichen.5

Anmerkungen:
1 Weltliches Engagement durch Geistliche war im 18. Jahrhunderts zwar kein Novum, verbreitete sich aber durch den Einfluss des Pietismus und spielte dann besonders in der Volksaufklärung eine große Rolle. Aufgrund ihrer Bildung und gesellschaftlichen Position wirkten Prediger als ideale Vermittler von Wissen und praktischen Innovationen in die (nichtaufgeklärte) Gesellschaft. Zu Motiven und Praxis vgl. die entsprechenden Beiträge in Holger Böning / Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hrsg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, Bremen 2007.
2 Ulrich Herrmann, Kinder- und Jugendliteratur, in: Notker Hammerstein / Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 485–498.
3 Hanno Schmitt / Frank Tosch, Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow 1734–1805 im Aufbruch Preußens, Berlin 2001.
4 Johanna Goldbeck, Volksaufklärerische Schulreform auf dem Lande in ihren Verflechtungen. Das Besucherbuch der Reckahner Musterschule Friedrich Eberhard von Rochows als Schlüsselquelle für europaweite Netzwerke im Zeitalter der Aufklärung. Bremen 2014.
5 Im Anhang gibt der Band mit einem weiteren kleinen Text Goezes eine zum Haupttext passende Unterrichtsbeschreibung („Die Rochowsche Schule“, von 1783) sowie eine hilfreiche editorische Notiz mit.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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