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Titel
Herrscherurkunden für Empfänger in Lotharingien, Oberitalien und Sachsen (9.–12. Jahrhundert) / I diplomi dei sovrani per i destinatari in Lotaringia, Italia settentrionale e Sassonia (secoli IX–XII).


Herausgeber
Huschner, Wolfgang; Kölzer, Theo; Jaros, Marie Ulrike
Reihe
Italia Regia 2
Erschienen
Leipzig 2020: Eudora
Anzahl Seiten
416 S., 57 Abb., 18 Tabellen, 1 Karte
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Historisches Institut, RWTH Aachen

Der schon durch sein Format beeindruckende Band lenkt den Blick der Urkundenforschung auf drei Regionen des früh- und hochmittelalterlichen Reichs und ermöglicht dadurch interne wie Regionen übergreifende Betrachtungen zur Urkundenpraxis der Zeit. Er geht auf eine Tagung zurück, die im Oktober 2011 in Magdeburg unter reger internationaler Beteiligung der diplomatischen Fachwelt stattfand, und vereint 23 Beiträge sowie die Einleitung in deutscher und italienischer Sprache. Die Herausgebenden formulieren eingangs drei Hauptfragen, auf die das diplomatische Interesse der Einzelstudien sich möglichst richten soll: auf (1.) Merkmale, die den Verhandlungsprozess dokumentieren, auf (2.) die jeweilige zeitgenössische Funktion der untersuchten Urkunden und auf (3.) die Relevanz der inneren und äußeren Merkmale für diese Funktion. Aus der Fallbeobachtung soll also auf die Fragen der Beurkundungsintention, der Ausfertigung und der konkreten Verwendung von Herrscherdiplomen geschlossen werden. Diese Themen grundsätzlicher Natur werden durch eine Fülle von Einzelhinweisen („Leitfragen“, S. 11) präzisiert und für den konkreten Fall handhabbar gemacht. So entsteht ein differenzierter Katalog von Aspekten, dessen flexible Nutzung erst die einzelnen Untersuchungen aufeinander bezieht, zumal die ins Auge gefassten historischen Regionen durch recht unterschiedliche Überlieferungssituationen und kommunikative Praktiken geprägt sind.

Zehn Beiträge beschäftigen sich mit Empfängern in Oberitalien, fünf mit Sachsen und acht mit Lotharingien. Für diese Region wie auch für Oberitalien liegen Überblicke zu den weltlichen Empfängern vor (Tobias Weller, Paolo Cammarosano), die Mehrzahl der Studien rückt jedoch die Überlieferung einzelner Kirchen und Klöster in den Mittelpunkt ihres Interesses. Im Einzelnen sind dies: die (Erz-)Bischofskirchen von Cambrai (Benoît-Michel Tock), Lüttich (Alexis Wilkin), Trier (Francesco Roberg), Toul und Metz (Joachim Dahlhaus), zudem die Klöster St. Maximin und Oeren in Trier (Theo Kölzer, Andrea Stieldorf) sowie Echternach (Michel Margue); Diplome für das Patriarchat Aquileia (Reinhard Härtel), die (erz-) bischöflichen Kirchen von Ravenna (Antonella Ghignoli), Parma (Karina Viehmann †), Piacenza (François Bougard), die Klöster bzw. Kirchen San Salvatore (Michele Ansani) und Santa Maria Theodata in Pavia (Sebastian Roebert), San Ambrogio in Mailand (Nicolangelo D’Acunto), San Sisto in Piacenza (Cristina Mantegna) und die Canonica Santa Maria in Reggio Emilia (Marie Ulrike Jaros); die Bischofskirchen von Halberstadt (Thomas Vogtherr) und Empfänger aus Merseburg (Wolfgang Huschner), schließlich die Klöster Quedlinburg, Gandersheim und Drübeck (Claudia Krahnert), Corvey (Karl Heinrich Krüger) und Nienburg an der Saale (Ingrid Würth).

Die Beiträge sind erwartungsgemäß unterschiedlich in der Gestaltung des Zugriffs. Panoramen der Überlieferung wechseln sich mit akribischer Aufarbeitung und Historisierung der Fonds sowie mit detaillierten diplomatischen Einzelanalysen (Roberg, Ghignoli, Huschner, Krüger) ab. Hinzu treten themenbetonte Vorgehensweisen, die vor allem die Absichten von Ausstellern, Empfängern und weiterer Interessenten im Rahmen der Beurkundungsgeschäfte der Aufbewahrung und des Rechtsstreits herausstellen (z.B. Stieldorf, Viehmann, Mantegna, Krahnert, Würth). Die Erkenntnisse der Beiträge im Detail nachzuzeichnen, ist an dieser Stelle nicht möglich, auf deren große Zahl und Vielfalt hinzuweisen aber geboten.

Eine erhebliche Zahl der Beiträge legt den Schwerpunkt auf die lokale Praxis des Urkundenwesens und trägt damit zugleich dem in der jüngeren Zeit deutlich veränderten Blick auf die institutionelle Ausprägung der Herrscherkanzlei im früheren Mittelalter Rechnung. Das alte Bild der starren Behörde ist zusehends dem eines personell wie in den Formen der Schriftlichkeit flexibleren und situativer agierenden Personenkreises gewichen, der eine variantenreichere, gleichwohl nicht beliebige Urkundengestaltung erklärt und zum Teil bedingt. Wolfgang Huschner kann in der konsequenten Verfolgung des von ihm maßgeblich mitgewiesenen Wegs die Identität des Kanzlers Theoderich mit dem Notar Theoderich A in MGH D H.III.20 für Merseburg plausibel machen (S. 319f.). Spannender noch ist seine Darlegung zum sogenannten signum speciale in den Urkunden Heinrichs III. Abweichend von den Einschätzungen Paul Fridolin Kehrs und Peter Rücks sieht Huschner nicht im König selbst den Urheber dieses graphischen Symbols, das Ausdruck der Marienverehrung zu sein scheint, sondern vor allem in Bischof Bruno von Würzburg; er ist an den frühesten Zeugnissen entscheidend beteiligt: als Petent und Intervenient einer Empfängerausfertigung für die Würzburger Kirche (S. 324f.). Dieses Plädoyer für die ernsthafte Einnahme der Empfängerperspektive auch in formalen Dingen wird im Band vielfach argumentativ unterstützt, etwa durch Michel Margue, der ausgehend vom Echternacher Überlieferungsbestand die Hinzuziehung der gesamten lokalen Schriftproduktion anmahnt, um interne Eigenheiten besser sehen und verstehen zu können. In welchem Rahmen sich der Beitrag der Empfänger bewegen konnte, zeigt Alexis Wilkin für die Lütticher Bischofskirche, deren Diplome zu 63% Kanzleiausfertigungen sind, während 37%, also deutlich mehr als ein Drittel, von der Empfängerseite redigiert wurden. Freilich hat diese Beobachtung einen klaren zeitlichen Horizont, denn von 1070 an sind die Lütticher Diplome ausnahmslos Produkte der Herrscherkanzlei (S. 57f.).

Das Fehlen von Herrscherurkunden im Dokumentationsbestand konnte von den Zeitgenossen als schmerzliche Lücke empfunden werden, die es zu schließen galt. Dies dokumentiert eindrucksvoll die von einigen Mitgliedern des Halberstädter Domkapitels angestoßene Transsumierungskampagne, in der König Adolf von Nassau im Januar 1295 sämtliche im Archiv ihrer Domkirche vorhandenen Königsurkunden des 9. bis 12. Jahrhunderts beglaubigte – darunter ein gefälschtes Immunitätsprivileg Ludwigs des Frommen und ein darin bezeugtes, freilich erfundenes Diplom Karls des Großen. Dem von Thomas Vogtherr hier herausgearbeiteten Befund einer vollständigen Dokumentationsabsicht steht die Betonung der Selektion gegenüber. Benoît-Michel Tock zählt etwa für Cambrai aus anderen Quellen deutlich mehr Urkunden als das Archiv der Kirche über die Jahrhunderte bewahrt hat. In diesem dominieren die Diplome und mit ihnen das Thema Immunität, während etwa Aushandlungsprozesse auf dem Weg zur Urkunde eher in erzählenden Quellen fassbar werden.

Diese Beobachtung führt zu einem letzten hier hervorzuhebenden Aspekt dieses Bandes von grundsätzlicher Bedeutung, nämlich der Frage nach der raison d’être, der Existenzbegründung von Herrscherurkunden überhaupt. Theo Kölzer summiert die Ergebnisse seiner Untersuchung für St. Maximin in Trier ebenso klar wie prinzipiell: „Ich entdecke keine Anhaltspunkte für eine Funktion der Urkunden jenseits ihrer eigentlichen Bestimmung als Rechtsdokumente (…)“ (S. 111). Er betont damit nachdrücklich das Rechtsformale als den „Wesensgrund der mittelalterlichen Urkunde“ (S. 112), ohne etwa die Aspekte der symbolischen Kommunikation, die in den letzten Jahren in den diplomatischen Vordergrund gerückt wurden, als unbedeutend abzutun – und charakterisiert damit ungewollt recht treffend den vorliegenden Band insgesamt. Die Mehrzahl der Studien behandelt die Urkunden primär als Rechtsdokumente, nicht als Zeugnisse des Performativen. Durchgehend richten sich die Blicke der Beitragenden dabei auf die Interaktion zwischen Ausstellern, Empfängern, Aufbewahrern und Benutzern. Sie haben sich längst als konstitutive oder zumindest als einflussreiche Faktoren für den Inhalt der Diplome, für deren formale und sprachliche Gestaltung erwiesen. Eine regionale Betrachtung ist hier im Sinne der Charakterisierung von personalen Beziehungsgeflechten und Gewohnheiten überaus sinnvoll. Die diachrone Perspektive über die Archivierung, Abschrift und Nutzung der Urkunden eröffnet dabei einen Zugang zum Verständnis der Diplome als zeitlose (Rechts-)Argumente ebenso wie insgesamt zum Wert herrscherlicher Autorität in seinem zeitlichen Wandel. Dabei erweist sich das Frageraster, das den Autorinnen und Autoren an die Hand gegeben wurde, als hilfreiches Instrument. Selbst bei schwankender Anwendung erhöht es die thematische Kohärenz deutlich und macht die Befunde auch überregional miteinander vergleichbar.

Verzeichnisse und detaillierte Register der Urkunden, Personen und Orte beschließen den Band, der weit mehr bietet als eine Sammlung von Einzelbeobachtungen. Durch die Vielfalt der Detailerkenntnisse und deren Scharfsichtigkeit überzeugt er noch stärker als durch sein gediegenes Äußeres.

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