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Titel
Ikonisches Wissen. Deutsche Geschichte in italienischen Schulbüchern und das staatliche Bildungswesen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Müller, Eva
Reihe
Würzburger Universitätsschriften zu Geschichte und Politik
Erschienen
Baden-Baden 2020: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
587 S.
Preis
€ 119,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Karsten, Seminar für Geschichte, Bergische Universität Wuppertal

Das Deutschenbild der Italiener ist in Feuilleton und Forschung ein fast ebenso beliebter Gegenstand wie das Italienbild der Deutschen.1 Vor diesem Hintergrund begibt sich die vorliegende, bei Wolfgang Altgeld in Würzburg entstandene Dissertation auf ein wahrlich intensiv bearbeitetes Forschungsfeld – und tut dies dank überaus umfangreicher und gründlicher Quellenlektüre, tiefschürfender Reflexion, überzeugender Argumentation und sprachlicher Gestaltungskraft auf eine höchst anregende Weise, die dem Buch gerade in Zeiten mediengeschürter nationaler Spannungen in der EU einige Brisanz verleiht. Der Untersuchungsgegenstand im engeren Sinne: Das „Wissen“ über die deutschen Nachbarn, das italienischen Kindern in den gut einhundert Jahren zwischen 1860 und 1980 in Schulbüchern von der Primar- bis zur gymnasialen Oberstufe präsentiert wurde, bettet die Autorin in die Art und Weise ein, wie diese Schulbücher zustande kamen – also die „Schulbuchpolitik“ zunächst des 1861 gegründeten Königreichs Italien, dann in der Ära des Faschismus von 1922 bis 1943 und schließlich ab 1946 der Italienischen Republik.

Wie es sich für eine Qualifikationsarbeit gehört, beginnt die Studie mit Überlegungen zu „Relevanz des Themas“, „Forschungsstand sowie Literatur- und Quellenlage“ und „Fragestellung, Struktur und Vorgehensweise“ (S. 15–38), ehe sie sich der Bedeutung von Schulbüchern für die gesellschaftliche und politische Entwicklung seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert widmet. Erst danach folgt der Blick auf die spezifisch italienischen Verhältnisse: das Deutschlandbild der Italiener allgemein, die Art und Weise, wie in Italien Schulbücher entstanden, die politischen Ziele der Schulbuchpolitik, die Ergebnisse sowie auch und gerade die Grenzen dieser Politik. All dies wird gründlich, mitunter ein wenig übergründlich analysiert (einige Straffungen hätten dem Buch gutgetan), ehe das eigentliche Hauptstück, das Kapitel VII, eine „Systematische Analyse: Deutsche Geschichte in italienischen Schulbüchern“ (S. 197–486) vorgestellt wird, deren zentrale Erkenntnisse sich dann in der abschließenden „Schlussbetrachtung“ (S. 487–515) zusammengefasst finden.

Die Grundzüge des Deutschenbilds in Italien sind bekannt und rasch skizziert: Es oszilliert zwischen einerseits der Vorstellung von kulturlosen und brutalen Barbaren aus dem Norden, die zum Plündern und Drangsalieren über die Alpen kommen, andererseits dem Volk der Dichter und Denker, seit der Reichsgründung 1871 zudem der meisterhaften Militärorganisation und vorbildlichen Wissenschaftspolitik. Bemerkenswert ist nun, welche Abschattierungen diese holzschnittartigen Klischees im Wandel der Epochen in italienischen Schulbüchern erfuhren. Eindeutig ist dabei immer der politische Zweck der Darstellung, aufschlussreich die naive Offenheit, mit der dieser Zweck mitunter eingestanden wurde: „Das Ziel ist es, dazu zu erziehen, das Vaterland zu lieben und den Feind zu hassen“ („L’amore per la patria, l’odio per lo straniero.“, S. 236). „Der Feind“ – das war bis zu ihrem Untergang 1918 die kaiserlich-königliche Monarchie, die denn auch durchgängig negativ charakterisiert wurde. Das konnte so weit führen, dass in einem Schulbuch behauptet wurde, die Österreicher selbst hätten das Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo verübt, um dann die Schuld dem kleinen Nachbarstaat Serbien in die Schuhe schieben zu können (S. 232). Die Darstellung des Deutschen Reichs nahm sich dagegen im Allgemeinen weit weniger dunkel aus: „Festzuhalten bleibt, dass sowohl das Bild Preußens und dann Deutschlands sowie die Beschreibungen Bismarcks in den Lehrwerken, die vor dem Ersten Weltkrieg erschienen, nur wenige negative Aspekte enthielten.“ Selbst die deutsche Außenpolitik unter Wilhelm II. erfuhr keine Kritik, sie wurde im Gegenteil mitunter explizit als friedenswahrend gegenüber aggressiven französischen Ambitionen beschrieben. „Nach 1918 hatte sich dies geändert“ (S. 236), denn nunmehr bestand ja die Notwendigkeit zu erklären, warum Italien als einstiger Bündnispartner vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn im „Dreibund“ 1915 aufseiten der Entente in den Konflikt eingetreten war.

Ein großes Verdienst der Untersuchung besteht darin, neben der Entwicklung des Deutschlandbilds bis in feinste Nuancierungen auch die Umstände dieser Entwicklung zu schildern. Dabei tritt ein Sachverhalt zutage, der sich auch in anderen Bereichen, etwa der Wirtschaftspolitik oder dem Militärwesen, immer wieder beobachten lässt und von zentraler Bedeutung für das Verständnis Italiens bis in die Gegenwart ist, nämlich die ausgesprochen geringe Autorität staatlicher Institutionen. Die Bemühungen, so etwas wie eine konsequente Schulbuchpolitik vonseiten des Bildungsministeriums in Rom durchzusetzen, blieben in Ansätzen stecken, es gelang auf dem „Felde [der Schul- und Schulbuchpolitik] nicht, die Staatsgewalt und -interessen gegenüber lokalen Interessen und Zielen von Teilgruppen durchzusetzen [...]. Dies war den Ministerialbeamten, die eine Diskreditierung der Staatsgewalt befürchteten, auch durchaus bewusst und wurde von diesen beklagt“ (S. 200). Dieser Sachverhalt zeitigte Auswirkungen auf die didaktische wie die sachlich-inhaltliche Qualität der Schulbücher. Deren Niveau war so deprimierend, dass ein Schulinspektor namens Ferruccio Ferrari in einem offenen Brief am 13. April 1890 seine Zuflucht zu einer radikalen Forderung nahm: „Wir müssten eine höchst einfache Maßnahme ergreifen: alle Schulbücher, die wir haben, die großen wie die kleinen, verbrennen und von vorne anfangen“ (S. 202). Ein Vierteljahrhundert später hatte sich daran nichts Wesentliches geändert, heißt es doch im Bericht einer Schulbuchkommission in der Frühphase des Faschismus 1924: „Die überwältigende Mehrzahl der von uns begutachteten Bücher besitzt unübersehbar keine Rechtfertigung, geschrieben worden zu sein“ (S. 241). Was man in diesem Fall als Glück bezeichnen mag, blieben doch auf diese Weise auch die Bemühungen der faschistischen Funktionäre um eine konsequente Ausrichtung der Schulbücher auf ihre ideologischen Ziele in Ansätzen stecken.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich das Deutschlandbild erneut. Nunmehr richtete sich der Befreiungskampf des italienischen Volkes – wie einstmals gegen die Österreicher – gegen die Nazi-Deutschen. Der Faschismus dagegen blieb gewissermaßen auf die Person Benito Mussolinis beschränkt, allenfalls erfuhren die Schulkinder, dass er von einer kleinen Schar ideologisch verblendeter Funktionäre Unterstützung erhielt, während sich das Volk „scheinbar in seiner Gesamtheit der resistenza zuwandte“ (S. 156). „Das alles überstrahlende Merkmal war die Nationalität: die plumpe Vorstellung von Nationen als homogenen Kollektiven und darüber hinaus die Idee eines schlechten deutschen Nationalcharakters“ (S. 506).

Es dauerte lange, bis sich im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre die traditionsreichen Stereotype aufzulösen begannen und differenzierteren Betrachtungen Platz machten, wobei die Entwicklung der Bundesrepublik kaum, diejenige der DDR hingegen so gut wie gar nicht zur Sprache kommt. Immerhin, verglichen mit dem, was deutsche Schulbücher über die Geschichte Italiens – zumal nach der Renaissance – enthalten, ist selbst dies wenige noch recht viel. Vielleicht täte es der Entwicklung Europas ganz gut, wenn in den Schulbüchern die Geschichte der unmittelbaren Nachbarstaaten ein bisschen mehr Platz bekäme, als dies im Zeitalter der Globalisierung gerade en vogue ist – das ist eine von allerlei Überlegungen, welche die anregende Studie Eva Müllers nahelegt.

Anmerkung:
1 Genannt seien an dieser Stelle nur die grundlegend-systematischen Studien von Klaus Heitmann, Das italienische Deutschlandbild in seiner Geschichte, 3 Bde., Heidelberg 2003–2016; zum Italienbild der Deutschen in der Nachfolge Goethes jüngst die magistrale Darstellung von Golo Maurer, Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst, Hamburg 2021.

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