J. Burkhardt: Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches

Cover
Titel
Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648 – 1763.


Autor(en)
Burkhardt, Johannes
Reihe
Gebhardt: Handbuch der deutschen Geschichte 11
Erschienen
Stuttgart 2006: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
563 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Schunka, Historisches Institut, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Stuttgart

Wie zitiert man den „Gebhardt“ korrekt? In Zeiten von Bologna-Reform und verkürzten Studiengängen ist die bibliographische Aufnahme dieser Mutter aller Handbücher ein für manche Proseminaristen nicht ganz einfach zu lösendes Problem, das zu einer gewissen Kreativität herausfordert. Durch die 10. Auflage des traditionsreichen Unternehmens ist dies auch nicht eben leichter geworden. Aber ist diese 10. Auflage des Gebhardt überhaupt ein „Handbuch“ im klassischen Sinn, ein Faktensteinbruch und Ort kanonischer Deutungen, der knapp und trocken über Ereignisse, Prozesse und Strukturen informiert und Schneisen in die Forschungslandschaft schlägt? Johannes Burkhardts Band zum Heiligen Römischen Reich zwischen 1648 und 1763 ist zuerst und vor allem eine glänzend geschriebene historische Erzählung. Über weite Strecken gelingt es dem Verfasser, seinen Lesern selbst noch so hölzern anmutende Konstrukte des Reichs wie Kreisassoziationen oder den Umbau des Kurkollegs als nachgerade spannende Phänomene darzustellen und den Leser mit Schlachten, aber auch mit scheinbar verwirrenden Dingen wie der bayerischen Bündnispolitik um 1700 zu fesseln.

Das Buch bietet eine Reichsgeschichte vor allem als Darstellung seiner Institutionen, der Ereignisabläufe und der institutionellen Kommunikation, jeweils angereichert mit Forschungsmeinungen. Die Leistungen des Reichsverbandes liegen nach Burkhardt klar in der „Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Friedensfähigkeit im Innern“ (S. 31). Konsens ist die Norm, Dissens die Ausnahme, obgleich der Dissens, wie Burkhardt zurecht anmerkt, die Forschung bisher mehr interessiert hat (etwa S. 84).

Der Titel des Buches bildet die große Klammer der Reichsgeschichte der gut hundert Jahre zwischen Westfälischem und Hubertusburger Frieden ab. Burkhardts Reich ist ein multipolares System, das sich immer wieder selbst stabilisieren musste (und konnte), nachdem es – wenngleich auf einem hohen Grad von Vorläufigkeit – durch die Reichsgesetze oder den „Immerwährenden Reichstag“ einmal „vollendet“ worden war. In diesem Zusammenhang verfolgt der Autor eine deutliche Aufwertung intermediärer Institutionen, er betont die Bedeutung der deutschen Sprache (S. 323, 458) und einer reichsspezifischen Schriftlichkeit, die ebenso dem Zusammenhalt und der Repräsentation diente wie Formen symbolischer Kommunikation, die hier ihren wichtigen Platz erhalten, aber auch nicht gesondert herausgestellt werden (etwa S. 95f.).

Die Stabilität des Reichsverbandes galt aber immer nur solange, bis irgendjemand dieses System störte. Ludwig XIV. im „zweiten dreißigjährigen Krieg“ (§ 4) konnte das sein, aber auch der bayerische Kurfürst um 1702 oder der als protestantischer Unruhestifter und Kriegstreiber dargestellte Hannoveraner Reichstagsgesandte Wrisberg (etwa S. 335) in den 1720er-Jahren: Störungen, mit denen das Reich nach Burkhardt aufgrund seiner inhärenten Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zurecht kam, die es wegsteckte, ja die es zum Erhalt seines Gleichgewichts fast existenznotwendig zu brauchen schien. In diesem Sinne wird die Vertreibung der Salzburger Protestanten weniger als Krisenfall, von dem letztlich verschiedene Einzelstaaten und vor allem die protestantische Publizistik profitierten, sondern geradezu als stabilisierender Faktor interpretiert (S. 345). Während sich seine drei „hyperaktiven“ (S. 175) Vorgänger beim brandenburgisch-preußischen Landesausbau noch durch weitgehende Reichstreue auszeichneten, war es erst der „Spielverderber“ Friedrich der Große, den das Reich nicht mehr vollständig integrieren konnte, weil er sich außerhalb des Systems stellte, bis sein Land als europäische Großmacht anerkannt war. Die Entwicklung seit dem Renversement des Alliances ist damit für Burkhardt die titelgebende „Neuorientierung“, wobei nicht immer klar ist, inwieweit es sich nicht doch um einen Anfang vom Ende handelt (siehe etwa die Wertungen S. 400, 441). Wenn sich das Reich aber in seinen Krisen immer wieder neu erfinden musste, weil eine seiner Stärken die Reaktionsfähigkeit auf neue Herausforderungen war, dann wäre zu fragen, inwieweit man in diesem gleichsam organologisch dargestellten Reichskosmos wirklich von Vollendung sprechen kann. Bei aller Harmonieorientierung zeigt gerade der Verlauf des 18. Jahrhunderts, wie stark das Reich schon vor 1756 machtpolitisch vereinnahmt werden konnte.

Zweifellos muss eine Überblicksdarstellung wie diese bestimmte Schwerpunkte setzen und vieles ausklammern. Das Buch folgt dem politischen Geschehen und seinen symbolischen und kommunikativen Zusammenhängen. Religion bleibt auf konfessionalistische Reichspolitik und die nicht unumstrittene Frage einer „Re-Konfessionalisierung“ der 1720er-Jahre reduziert, die hier streckenweise in fast antiprotestantischer Vehemenz vorgetragen wird. Zwischen den weitgehend chronologischen Abschnitten A und C zur Politik vor bzw. nach 1700 wirkt der Abschnitt B, der „Politik, Ökonomie, Kultur“ auf der „Länderebene“ behandelt, wie ein Fremdkörper. Auch hier vermisst man eine Auseinandersetzung mit der religiösen Komponente, etwa wenn Pietismus überwiegend als Bestandteil aufgeklärter „Wissenskultur“ behandelt wird (S. 242-245). Ob sich der Übergang von „Barock“ zu „Aufklärung“ wirklich nur noch als zeitliche Abfolge von der Raum- zur Zeitorientierung und entsprechenden Wissensdynamisierung begreifen lässt, darüber mag man diskutieren. Wen eine barocke „Leitkultur“ wirklich leitet, bleibt im Dunkeln, denn die Lebensverhältnisse der Bevölkerung bleiben außen vor.

Das Buch bietet eine oft gelungene Mischung von Fakten- und Forschungsgeschichte mit durchaus prononcierten Wertungen und spannenden Exkursen in die Geschichte der Reichshistoriographie. Ein historiographiegeschichtlicher Eigenwert kommt der Darstellung selbst schon jetzt zu, da sie sich bisweilen auch als sympathisch-kritische Re-Evaluierung älterer Thesen des Autors durch die neuere Forschung liest. Dass das Buch sich vielleicht nicht in allen Abschnitten gleichermaßen zur einführenden Proseminarlektüre eignet, hängt mit der narrativen Struktur des Textes zusammen, aber auch mit der nicht unproblematischen Konzeption des „Gebhardt“. Als Hilfsmittel zur bibliogaphischen Weiterarbeit sind dem Leser schon durch die unübersichtliche Literaturdarstellung Grenzen gesetzt: Fußnoten bestehen teilweise aus Verweisen auf eine der beiden Auswahlbibliographien am Anfang, teilweise aus Rückverweisen auf andere Fußnoten, teilweise enthalten sie Komplettangaben (ohne Erscheinungsort), manchmal dienen die Fußnoten aber auch nur als inhaltliche Fortführungen des Textes. Für die Weiterlektüre sind sie häufig zu selektiv und knapp gehalten. Inhaltlich sind einige Stellen nicht immer ganz frei von Missverständnissen, die aus Ungenauigkeiten im Lektorat, hin und wieder aber wohl einfach aus der Lust des Autors zur Pointe herrühren (etwa S. 248: Gründung der Acta Eruditorum nicht „Mitte“ des 17. Jahrhunderts, sondern korrekt – wie in der Fußnote – 1682; S. 221: Ernst-August-Bibliothek Wolfenbüttel; S. 80: Änderungen in Pufendorfs Sicht des Reichs 1706 sind wohl weniger auf seine ‚Lernfähigkeit’ zurückzuführen, sondern auf seinen Tod zwölf Jahre zuvor).

All dies ändert allerdings wenig daran, dass das Buch einen konzisen, facettenreichen Bogen über mehr als hundert Jahre Reichspolitik spannt, den Leser souverän und rhetorisch brillant durch die Untiefen von Schlachtenmythen, Bündnispolitik und Staatsbildung führt und so das Reich ausgangs der Frühen Neuzeit zu einem Lesegenuss ersten Ranges macht.