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Titel
Lublin. Eine polnische Stadt im Hinterhof der Moderne (1815-1914)


Autor(en)
Gebhard, Jörg
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas R. Hofmann, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Stadtgeschichte ist ein schwieriges Geschäft, Stadtgeschichte in der quellenarmen polnischen Provinz des 19. Jahrhunderts erst recht. Umso mehr ist Jörg Gebhards Mut anzuerkennen, sich in seiner Konstanzer Dissertation dieser Thematik zuzuwenden. Lublin, heute eine Groß- und Universitätsstadt in Südostpolen unweit der ukrainischen Grenze (354.967 Einwohner nach dem Stand von 2006), war auch im Betrachtungszeitraum eine Stadt an der Peripherie, gelegen am östlichen Rand des damaligen kongresspolnischen Königreichs. Die Frage nach der Wahl des Gegenstandes erübrigt sich, denn der überzeugte Stadthistoriker wird jeden Ort als erforschenswerte historische Entität anerkennen; bei Gebhard gaben ein zweijähriger Studienaufenthalt und seine besondere Vertrautheit mit der Lubliner Topographie den Ausschlag. Trotz einer gerade in jüngerer Zeit wachsenden Anzahl von lokalgeschichtlichen Untersuchungen ist dem Autor darin zuzustimmen, dass die Städte an der östlichen Peripherie Polens noch große Forschungslücken aufweisen. Gerade die Städtelandschaft des russischen Teilungsgebiets ist insgesamt weniger gut erforscht als die der preußischen und österreichischen Gebiete.

Lublin erlebte im 15. und 16. Jahrhundert eine Zeit politischer Bedeutung und wirtschaftlicher Prosperität, bevor es nach der Verlegung der Hauptstadt von Krakau nach Warschau (1596) in das Abseits der wichtigsten Verkehrs und Handelsrouten geriet. Durch die Kriegswirren des 17. Jahrhunderts nahm der wirtschaftliche und kulturelle Abstieg vollends seinen Lauf. Nach einem verheerenden Brand 1803 gelangte Lublin mit gerade noch 7.000 Einwohnern im Jahre 1807 an seinen Tiefpunkt. Erst nach der weiteren ökonomischen und demographischen Auszehrung durch die napoleonischen Kriege setzte ein sehr allmählicher Bevölkerungsanstieg ein, der stärkere Impulse von der nicht vor den 1880er-Jahren voll in Gang kommenden Industrialisierung erhielt. Dieses von Gebhard als „zweite Stadtwerdung Lublins“ beschriebene Wachstum erreichte jedoch nie die dramatischen Ausmaße größerer Industriestädte. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Lublin gut 83.000 Einwohner. Wie Gebhard verdeutlicht, ist für diesen gesamten Zeitraum eigentlich stets von zwei Städten zu sprechen, nämlich dem jüdischen und dem nichtjüdischen Lublin, die bis zur Aufhebung der Niederlassungsbeschränkungen für Juden 1862 auch sozialräumlich deutlich voneinander getrennt blieben. Die jüdische Bevölkerung bildete während des 19. Jahrhunderts immer ungefähr die Hälfte der Gesamteinwohnerschaft.

Gebhard entwickelt ein überaus ambitioniertes Programm, das nichts geringeres als eine Gesamtschau Lublins im Betrachtungszeitraum liefern möchte. Dies soll allerdings nicht im Sinne der konventionellen „Stadtbiographie“ geschehen, die ihr Hauptaugenmerk auf die politische, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Ortes richtet, sondern mittels eines kulturgeschichtlichen Ansatzes, der zugleich zwei Perspektiven verfolgt: Zum einen plädiert Gebhard für die in der jüngeren Zeit bereits rege diskutierte Rehabilitierung einen historischen Raumbegriffs, welcher die Stadt innerhalb ihrer regionalen Bezüge verortet. Zum anderen möchte er Stadtgeschichte auf der Ebene der individuellen personengeschichtlichen Erfahrung veranschaulichen. Um es vorwegzunehmen – der methodische Spagat zwischen makro- und mikrohistorischer Perspektive ist in weiten Teilen misslungen.

Beginnen wir mit der Verortung Lublins innerhalb des historischen Raumes. Dieser Thematik ist das erste Kapitel gewidmet, das leider sein Thema, man ist versucht zu sagen, viel zu weit„räumig“ umkreist und nicht recht auf den Punkt kommt. Für Gebhard ist der historische Bezugsraum das Territorium des Königreichs Polen in seinen auf dem Wiener Kongress festgelegten Grenzen, während die Nahregion der Vorstädte und Dörfer sowie der Lubliner Wojewodschaft bzw. des Lubliner Gouvernements bei ihm nur eine marginale Rolle spielen. Die für den Raumbegriff zentrale Dichotomie von „Zentrum“ und „Peripherie“ wird für das Lubliner Beispiel nicht konzeptionell diskutiert. Gebhard bespricht dagegen ausführlich die verfassungspolitische Entwicklung des Königreichs und die Konsequenzen der Aufstände von 1830/31 und 1863/64, bleibt aber in Bezug auf deren Auswirkungen auf die Stadt zu vage. Dies mag einer schlechten Quellenlage geschuldet sein, hätte aber wenigsten als Forschungsproblem angesprochen werden müssen. Vielleicht hätte an dieser Stelle auch ein vergleichender Blick geholfen. Welche Auswirkungen hatte es etwa, dass die der alten Rzeczpospolita zugehörigen Städte der so genannten „westlichen Gouvernements“, die mit der Ersten Teilung Polens 1772 an Russland fielen, in den Genuss der russländischen Städtereform von 1870 kamen, Lublin dagegen wie allen Städte des „Weichsellandes“ die Vorzüge einer kommunalen Selbstverwaltung bis 1915 vorenthalten blieben?

Noch größere Probleme bereitet die Entwicklung einer städtischen Binnenperspektive, die einigen der Untugenden der „neuen Kulturgeschichte“ verfällt. Denn der Anspruch der Veranschaulichung durch Individualisierung und topographische Konkretisierung wird nicht eingelöst, sondern macht einer beliebig erscheinenden Aufzählung von Einzelheiten Platz. Statt z.B. soziale Gruppen als Konstituenten der Lubliner Bevölkerung darzustellen, ergeht sich das Buch in ermüdenden Aufzählungen von individualbiographischen Details. Um ein Beispiel unter vielen zu nennen: Anstatt das spezifisch „Provinzstädtische“ des Lubliner Kulturlebens herauszuarbeiten, reiht Gebhard Kurzbiographien von Lubliner Kulturschaffenden aneinander, selbst wenn diese ihre Karrieren größtenteils außerhalb der Stadt verfolgten. Hier dürfen ausnahmsweise auch einige wenige Frauen in Erscheinung treten. Ansonsten fehlt die weibliche Bevölkerung völlig, eine in einer heutigen Kultur und Sozialgeschichte unentschuldbare Fehlstelle. Spielten Frauen beispielsweise in dem von Gebhard mehrfach angesprochenen Christlichen Wohltätigkeitsverein keine Rolle? Wenn dies so war, wäre das immerhin eine Lubliner Besonderheit, denn derartige karitative Assoziationen waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eines der wenigen, den Frauen der höheren Schichten zugänglichen Betätigungsfelder in der städtischen Öffentlichkeit.

Auch in anderer Hinsicht verpasst Gebhard die Chance, den entscheidenden Schritt von der Fülle der Einzelheiten zur Synthese zu gehen. So stellt er etwa fest, dass bis in die Zeit weit nach dem gescheiterten Januaraufstand von 1863 die Szlachta die tonangebende Schicht in der Stadt blieb und selbst die wohlhabenden Gewerbetreibenden, Kaufleute und Industriellen Mühe hatten, in die städtische Elite vorzustoßen, was ihnen erst seit den 1890er-Jahren gelang. Dabei hatte doch die Szlachta bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts durch die sozioökonomischen Umbrüche in der Landwirtschaft einen schweren Statusverlust erlitten. Anstatt aber diese Zusammenhänge zu analysieren, mit dem möglichen Ergebnis, das provinzstädtische Spezifikum Lublins vielleicht gerade darin zu sehen, dass hier das soziokulturelle Prestige der alten Adelsfamilien ihre politischen und ökonomischen Einbußen lang überdauerte, operiert Gebhard mit einem essentialistischen Begriff von „Konservatismus“, der das gesamte kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben der Stadt geprägt habe. Wenn Gebhards Befund zutrifft, dass in der Lubliner Gesellschaft eine aus der Adelskultur stammende Verpflichtung gegenüber der polnischen Eigenstaatlichkeit gerade auch bei den polnisch akkulturierten deutschstämmigen Stadtbürgern spürbar blieb, wäre dies immerhin eine konservative Eigentümlichkeit, welche Lublin von anderen Städten Kongresspolens unterschieden hätte, in denen die russländische Loyalität des Wirtschaftsbürgertums selbstverständlich war. Auch an dieser Stelle hätte ein vergleichender Blick auf die bereits hinreichend erforschten wirtschaftsbürgerlichen Schichten von Warschau und Lodz zur Klärung beigetragen.

Die methodischen Probleme des kulturalistischen Ansatzes werden durch zahlreiche Schwächen im Aufbau des Buches noch verstärkt. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Es ist nicht überzeugend, wie die Thematik der Lubliner Judenheit auf ein eigenes (das dritte) Kapitel sowie einen Unterpunkt von Kapitel 6 („Die jüdische Parallelwelt“) aufgeteilt ist, um schließlich in Kapitel 7 einen Überblick über die Entwicklung der Lubliner nationalistischen und antisemitischen Presse zu geben, dessen Stoff besser den vorangehenden Themenabschnitten zugeordnet worden wäre. Auch die Materialanordnung der übrigen Teile der Arbeit wirkt über weite Strecken willkürlich und unsystematisch, ständige Sprünge in der Chronologie verwirren und vermitteln den sicher nicht beabsichtigten Eindruck allgemeiner Stagnation jenseits aller historischen Entwicklung. Auch dort, wo die Rekonstruktion von Entwicklungen in der Zeit leicht möglich wäre, wird die Chronologie ohne Not aufgegeben. Es gibt z.B. keinen zwingenden Grund dafür, dass zunächst die Eskalation der Gewalt in der Revolution von 1905/06 beschrieben wird, um erst anschließend die Reaktionen der lokalen Gesellschaft auf den Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges 1904 darzulegen.

Das abschließende Kapitel 8 („Erinnerungskulturen“) sprengt den selbstgesteckten chronologischen Rahmen, wirkt bemüht und ist eine Konzession an einen modischen Begriff. Die darin besprochenen Lubliner „Gedächtnisorte“ beschränken sich konventionell auf die im 19. und 20. Jahrhundert im Stadtraum aufgestellten Denkmäler und ihre politischen Schicksale. Ganz unerwähnt bleibt dagegen, dass das volkspolnische Regime mit der Erhebung des 22. Juli zum Nationalfeiertag zur Erinnerung an die Veröffentlichung des so genannten „Lubliner Manifests“ 1944 die Stadt insgesamt zu einem nationalen Gedächtnisort zu machen versuchte. Der von den Deutschen begangene Völkermord hat Lublin zu einer „Stadt ohne Juden“ gemacht; mit dem Hinweis darauf, dass erst in jüngster Zeit das jüdische Lublin als integraler Bestandteil der Stadtgeschichte wiederentdeckt wird, schließt die Darstellung.

Bei dem unverkennbaren Fleiß, mit dem der Autor für Lublins Geschichte unter russischer Herrschaft relevante Dokumente bis hin zu den Central Zionist Archives in Jerusalem und zum Moskauer Staatsarchiv sowie die einschlägige polnischsprachige Publizistik und Literatur erschlossen hat, ist es doch schade, dass die Materialfülle durch eine zu wenig stringent entwickelte und durchgeführte methodische Konzeption nicht gebändigt wurde. Zudem wird der Lesegenuss durch eine überdurchschnittliche Zahl formaler Fehler getrübt. Der Leser begegnet einer wahren „Kakaphonie“ (sic!, S. 289) der versprungenen Buchstaben, misplazierten Binnen-S, fehlenden Endungen und Kommata, falschen Trennungen, Verbalrektionen, Genus und Kasusverwendungen sowie sprachlich-stilistischen Missgriffen aller Art. Besonders heikel wird es bei Fremdwörtern jeglicher Herkunft und bei der Schreibweise polnischer und russischer Eigennamen, die oft in absurder Form wiedergegeben sind.

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