Y. Kostenko: Ukraine's Nuclear Disarmament

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Titel
Ukraine’s Nuclear Disarmament. A History


Autor(en)
Kostenko, Yuri
Erschienen
Cambridge, MA 2021: Harvard University Press
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 97,75
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Veronika Wendland, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung - Institut der Leibniz-Gemeinschaft

Hätten ukrainische Atomwaffen den Krieg verhindert? Bereits mit dem ersten russischen Krieg gegen die Ukraine 2014/15 kamen Diskussionen auf, ob diese beispiellose Attacke auf die europäische Friedensordnung hätte verhindert werden können. Sie fokussierten auf das Fehlen echter Sicherheitsgarantien: Die Annäherung der Ukraine an westliche Bündnisse befeuerte russische Narrative einer „Ostexpansion“ von NATO und EU, während der Ukraine, anders als den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten, nicht der Schutz einer vollen Mitgliedschaft gewährt wurde. Das wiederum ermutigte den russischen Machthaber Vladimir Putin 2014, ungestraft eine gewaltsame Grenzrevision zu unternehmen und die eroberten Gebiete als Aufmarschraum für die Invasion von 2022 zu nutzen.

In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, ob der ukrainische Verzicht auf Nuklearbewaffnung 1994 ein strategischer Fehler gewesen sei. Interessanterweise wurde diese Auffassung bereits früh von dem Neorealisten John Mearsheimer vertreten, der seit 2014 jedoch die Auffassung vertritt, die Ukraine provoziere Russland, weil sie sich nicht damit abfinden wolle, der russischen Interessensphäre anzugehören.1 Auch der Autor der hier besprochenen Monografie, Jurij Kostenko, beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Ja. Kostenko war 1991 bis 1994 als Chef eines mit den Abrüstungsverträgen befassten Parlamentsausschusses und als Leiter ukrainischer Verhandlungsdelegationen am Prozess der nuklearen Entwaffnung unmittelbar beteiligt.

Sein Buch entstand 2015 unter dem Eindruck des russischen Angriffs und wurde 2020 ins Englische übersetzt. Es ist eine minutiöse Darstellung der Ereignisse und Verhandlungen, die auf eigenen Aufzeichnungen und einem umfangreichen persönlichen Archiv unpublizierter und publizierter Quellen (Memoranden, Presseausschnitte, Datensammlungen des Ausschusses, persönliche Korrespondenz) beruht. Es enthält einen umfänglichen Fußnotenapparat sowie einen Quellenanhang mit den wichtigsten Parlamentsbeschlüssen und Vertragstexten. Ergänzt wird es durch ein ausführliches Vorwort des Politikwissenschaftlers und Ukraine-Spezialisten Paul D’Anieri mit einer Einordnung des Werks vor dem Hintergrund des Forschungsstands auf dem Gebiet der Internationalen Politik.

Kostenkos Werk ist nicht nur ein Erinnerungsband, sondern auch eine Streitschrift, die mit den damaligen Akteuren hart ins Gericht geht. Sein Wert für die Forschung besteht vor allem in den Einsichten, die es über die inneren Konflikte der Ukraine, aber auch die russische Beeinflussung ukrainischer Akteure während der Verhandlungen gewährt. Darüber hinaus bietet es Anlass für eine kritische Revision tradierter Sichtweisen über die Handlungsspielräume der Ukraine und über die Rolle der USA im Abrüstungsprozess der frühen 1990er-Jahre. In seiner Analyse schont der Verfasser weder die ukrainische Exekutive, der er ein Versagen bei der Vertretung nationaler Interessen vorwirft, noch die damaligen Verhandlungspartner Russland und USA, die eine Interessenkoalition gegen die Ukraine gebildet hätten. Die USA handelten in der Absicht, den noch kurz vor dem Ende der Sowjetunion geschlossenen START-I-Vertrag (Juli 1991) zur Reduktion strategischer Kernwaffen umzusetzen, indem sie auch deren Nachfolgestaaten darauf verpflichteten. Russland hingegen habe in konsequenter Verfolgung des Plans gehandelt, die russische Dominanz im post-sowjetischen Raum wiederherzustellen. Die vom Transformationschaos der 1990er-Jahre geplagte Ukraine habe dem gemeinsamen, auch ökonomischen Druck der beiden Großmächte nicht standhalten können.

Die ukrainischen Kernwaffen – nach Schätzungen (S. 100) rund 4.000 taktische Sprengköpfe, 40 Bomber mit Marschflugkörpern und 176 in Silos stationierte Interkontinentalraketen mit bis zu rund 2.000 Sprengköpfen – waren ein Erbe der Sowjetunion. Mit der Erklärung der Unabhängigkeit im August 1991 fielen diese Waffen, genau wie alles andere bewegliche und unbewegliche sowjetische Gut auf dem Territorium der Ukrainischen SSR, an die Ukraine. Wie in Kostenkos Darstellung gut ausgeleuchtet wird, waren diese Waffen, ähnlich wie ihre zivilen Gegenstücke, die Kernkraftwerke, keinesfalls russische Fremdkörper auf ukrainischem Boden, sondern Hochtechnologie, die von russischen wie ukrainischen Ingenieuren und Rüstungsbetrieben konstruiert und gefertigt worden waren und von in der Ukraine stationierten Raketentruppen betreut wurden. Diese Soldaten schworen 1992 ihren Fahneneid auf die Ukraine.

Allerdings befanden sich die Steuerungen und Codes für die Abschlussmechanismen in russischer Hand, was wiederum in der Ukraine und weltweit die bange Frage aufkommen ließ, ob die Nuklearwaffen überhaupt von den neuen Besitzern kontrollierbar seien, gar unbeabsichtigt abgeschossen werden könnten. Diese Bedenken entkräfteten sich teilweise, als sich herausstellte, dass es zur Verhinderung einer solchen Entwicklung technische Vorkehrungen gab. Russland versuchte während der Verhandlungen immer wieder, die Ukraine mit der Androhung, die Waffen nicht mehr zu warten, unter Druck zu setzen. Doch waren auch in Russland stationierte Atomwaffen von der Wartung durch ukrainische Spezialisten abhängig. Das widerlegt die damalige westliche und auch von Russland propagierte Wahrnehmung, die Ukrainer seien technisch überhaupt nicht in der Lage, Atomwaffen zu handhaben, weswegen diese so schnell wie möglich nach Russland verbracht werden müssten. Letzteres konvergierte mit dem US-Interesse an einer Konzentration des Problems auf einen – statt auf vier – Nachfolgestaaten der Sowjetunion, auf deren Territorium es Raketensilos und nukleare Sprengköpfe gab; neben der Ukraine waren auch Kasachstan und Belarus zu temporären Atomwaffenstaaten geworden.

Diese Position, so Kostenko, machte sich auch ein Großteil der post-sowjetukrainischen Exekutive und insbesondere die ukrainische Diplomatie zu eigen. Das hatte auch inner-ukrainische Gründe. Die ukrainischen politischen Eliten waren sowjetisch sozialisiert und hielten Russland nicht für einen strategischen Gegner der Ukraine. Entsprechend fehlte ihnen die Vorstellungskraft, Russland könne jemals gegen die Ukraine Krieg führen. Als ehemalige KP-Funktionäre waren die damaligen Entscheider es gewohnt, Direktiven aus Moskau zu gehorchen. Daher hätten sie Kostenko zufolge kein Konzept für eine eigenständige ukrainische Sicherheitsstrategie entwickeln können oder wollen.

Das wiederum tat eine wachsende Gruppe aus patriotisch gesinnten „Falken“ im ukrainischen Parlament der ersten Legislaturperiode, der Verchovna Rada. Diese Gruppe erfreute sich einiger Sympathien in Teilen der ukrainischen Streitkräfte und bei Vertretern des militärisch-industriellen Komplexes. Diese Position manifestierte sich vor allem in einer selbstbewussten Haltung beim Ratifizierungsprozess des Atomwaffensperrvertrags und des Lissaboner Zusatzprotokolls zum US-sowjetischen START-I-Vertrags, in dem die Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Abrüstungsverpflichtungen unter sich aufteilten und ihren Beitritt zum Sperrvertrag versprachen.

Herz und Hirn dieser Eigenständigkeitsbestrebungen des Parlaments war die von Kostenko geleitete Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Ratifikationsdebatten. Sie unternahm beträchtliche Mühen zur Aggregierung von Daten über die im Lande befindlichen Atomwaffen und zur Beeinflussung der Präsidial- und Außenamtsverwaltung zur Entwicklung einer eigenständigen ukrainischen Position. Kostenko bezeichnet diese Position als „effektive Abrüstung“ und stellt sie dem Projekt einer bedingungslosen und raschen Atomwaffenabgabe nach Russland gegenüber. Einig waren sich die „Falken“ mit den Moskau-orientierten „Tauben“ zwar über die Zielstellung der Nuklearwaffenfreiheit der Ukraine, die bereits in der Unabhängigkeitserklärung festgeschrieben worden war, aber über den Weg dorthin gab es große Differenzen.

Während das KP-Establishment die Atomwaffen als Ballast und Belastung für auskömmliche ukrainisch-russische Beziehungen wahrnahm, beabsichtigten die „Falken“, sie als Startkapital für die Entwicklung eines starken ukrainischen Nationalstaats zu nutzen. Diese Strategie lässt sich mit drei Forderungen umreißen, die sich aus der ukrainischen Eigentümerschaft über die Nuklearwaffen ergaben: erstens drangen die Verhandler darauf, dass der Ukraine robuste Sicherheitsgarantien gegenüber einer Aggression Russlands gegeben würden. Dass diese Befürchtungen nicht gegenstandslos waren, zeigten sowohl frühe Anspruchserklärungen Russlands auf die Krim-Metropole Sevastopol‘ und die Schwarzmeerflotte als auch der Einsatz von Gaslieferstopps als Druckmittel.

Zweitens pochten die ukrainischen Parlamentarier auf eine angemessene Entschädigung der Ukrainer für den auf viele Milliarden Dollar geschätzten Wert des nuklearen Materials, sollte es an Russland abgegeben werden. Schließlich ging es um die Finanzierung und die Schutzmaßnahmen für die gefahrlose Demontage und Abtransport der Atomwaffen. Die „Falken“ nahmen zu diesem Zwecke auch Verhandlungen mit westlichen Kerntechnik-Firmen auf, um die Möglichkeiten für eine Weiterverwertung des Nuklearmaterials für zivilen Kernbrennstoff auf ukrainischem Boden auszuloten. Im November 1993 setzten sie in der Rada eine Verschiebung der Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrags durch, um diese Fragen zu klären.

Die russische Seite unternahm einige Anstrengungen, diese Position beim Verhandlungspartner USA zu diskreditieren. Russische Medien verbreiteten Angst über die angebliche ukrainische Unfähigkeit im Umgang mit dem Nuklearmaterial und trafen damit wunde Punkte nuklearkritischer westlicher Öffentlichkeiten. Gleichzeitig stellte die Jelzin-Administration die Ukrainer als Hemmnis auf dem Weg der Welt zur Atomabrüstung dar, während Russland sich als Garant von Frieden, Stabilität und Nonproliferation präsentierte. Zeitweise stieg die internationale Presse auf diese sorgsam orchestrierte russische Erzählung ein, der, wie Kostenko bedauert, die ukrainische Seite nie eine Informationspolitik ähnlicher Durchschlagskraft entgegensetzen konnte.

Unter dem Druck einer galoppierenden Wirtschaftskrise, die für den ukrainischen Staat auch eine Existenzkrise bedeutete, lenkte die Verchovna Rada Ende 1994 schließlich ein. Sie ratifizierte den Sperrvertrag und machte den Weg zur Abgabe aller Atomwaffen frei, was weit über die im START-Vertrag festgelegten Verpflichtungen hinausging, die der Ukraine durchaus eine Hintertür zur Beibehaltung gut der Hälfte ihres Arsenals gelassen hätten. Im Gegenzug bekam die Ukraine Brennelemente für ihre Atomkraftwerke – und das 2014 von Russland in Stücke gerissene Budapester Memorandum, in dem die Atommächte der Ukraine Schutz zusicherten, ohne robuste Garantien auszusprechen.

Die Zerstrittenheit der Ukrainer bei der Definition nationaler Interessen war sicherlich ein wesentlicher Faktor für den Ausgang dieses Ringens, das für die Ukraine so unvorteilhaft endete. Die USA gerierten sich im Einklang mit Russland als Zuckerbrot-und-Peitsche-Dompteur, der zwar auch den Falken sein Ohr lieh, aber Wirtschaftshilfe letztlich von der Fügsamkeit der Ukrainer in der Atomfrage abhängig machte. Die Behauptung Kostenkos, es sei der Ukraine Ende 1992 die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden, was dann die Clinton-Administration verhindert hätte, ist allerdings nicht belegbar.2 Doch ist die Schlüsselszene des Buches sicherlich Kostenkos Schilderung von Clintons Zwischenstopp in Kyïv im Januar 1994, als der US-Präsident seinen ukrainischen Amtskollegen Kravčuk eine Stunde lang auf dem eisigen Vorfeld warten ließ, um seinem Unmut über den Widerstand des ukrainischen Parlaments Ausdruck zu geben. Von dieser Demütigung wandert der Blick zu den Kriegsfronten des Jahres 2022, an denen die Ukrainer nun mit Hilfe amerikanischer Waffen versuchen, die bitteren Konsequenzen eines nuklearen Verzichtsakts ohne Sicherheitsgarantien aufzuhalten – Konsequenzen, die auch der globalen Idee der Nonproliferation schweren Schaden zufügten.

Anmerkungen:
1 John J. Mearsheimer, The Case for a Ukrainian Nuclear Deterrent, Foreign Affairs 72 (1993), Nr. 3, 50–66; Ders., Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault: The Liberal Delusions that Provoked Putin, Foreign Affairs 93 (2014), Nr. 5, S. 77–89.
2 Zur Einschätzung dieser „kontrafaktischen Geschichte“ vgl. Paul d’Anieri, Introduction (im besprochenen Band), S. 14–16.

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