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Titel
Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus


Herausgeber
Heim, Susanne
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 2
Erschienen
Göttingen 2002: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander von Schwerin, Berlin Email:

„Autarkie und Ostexpansion“ behandelt die Einordnung der akademischen Pflanzenzucht in die Wirtschaftspolitik unter der nationalsozialistischen Herrschaft sowie in die deutschen Kriegsziele. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Verwissenschaftlichung der Pflanzenzucht seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und ihrer seitdem zunehmenden nationalpolitischen Bedeutung, die präzise skizziert wird. Es ist das Verdienst der elf Autoren und Autorinnen, damit die fundierte historische Aufmerksamkeit auf wenig beachtete Gebiete im Feld der Biowissenschaften im Nationalsozialismus zu lenken. Die Herausgeberin Susanne Heim verfolgt dabei insbesondere die Frage, in welcher Weise die Wissenschaft in die nationalsozialistische Expansionspolitik eingebunden war. Die wiederkehrende Erkenntnis aus der facettenreichen und zumeist sehr differenzierten Auseinandersetzung mit der Einbindung von biologischen Wissenschaftlern in Erhalt und Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft ist, dass diese Einbindung weitgehend einer ökonomischen Rationalität folgte.

Der Band erscheint im Rahmen der Arbeit der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“, beschränkt sich aber keineswegs auf die Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI). 1 Näher behandelt werden das KWI für Züchtungsforschung, für Biologie, für Kulturpflanzenforschung und das deutsch-griechische Forschungsinstitut für Biologie (Piräus; Beitrag Maria Zarifi) sowie das Deutsche Forschungsinstitut für Agrar- und Siedlungswesen, das Institut für Pflanzengenetik (Lannach/Steiermark) der SS (Beitrag Uwe Hossfeld u. Carl-Gustav Thornström) und das ehemalige polnische Staatliche Wissenschaftliche Institut für Landwirtschaft in Pulawy (Beitrag Stanislaw Meducki). Eine herausragende Stellung nahm im Bereich der Pflanzenzucht nach Größe und innovativer Bedeutung das KWI für Züchtungsforschung ein. Über wichtige neue Ergebnisse hinaus wird an den Beispielen die Relevanz der Pflanzenzucht für die Autarkieziele der deutschen Kriegswirtschaft nachgezeichnet, die über die Effektivierung der Nahrungsmittelversorgung hinaus Öl-, Faser- und bioorganische Stoffe wie Kautschuk betrafen. Die Beiträge nehmen dabei die Fortführung der Institutsgeschichte nach dem Tod Erwin Baurs 1933 in Angriff – wobei sie sich nahezu ohne Wiederholung lesen und angenehm aneinander anschließen. Von außerordentlicher züchtungswissenschaftlicher Bedeutung war die planmäßige Plünderung der enormen Sorten- und Samensammlungen sowjetischer Pflanzenzuchtinstitute durch Wissenschaftler im Gefolge der Front. Die Rivalitäten zwischen dem SS-Forscher Heinz Brücher und dem politikfernen KWG-Wissenschaftler Hans Stubbe zeigen dabei nur, wie weit zwischen den Forschungsfragen und -problemen in der Pflanzengenetik und Pflanzenzucht eine strukturelle Kompatibilität mit der expansiven Raumordnungspolitik des Nationalsozialismus bestand. Dass solche zunächst konträr erscheinenden Persönlichkeiten sich auf der Ebene der Forschungspraxis tatsächlich kaum unterscheiden, regt zur genaueren Unterscheidung des Selbstverständnisses der Forscher an. 2 Es scheint, dass gerade die klarste Abgrenzung von Naturwahrheit und Gesellschaft im Fall der „reinen“ Forscher die Voraussetzung für ihre selbstverständliche und aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Geschehen war. Dass die kooperative Einordnung der Pflanzenzucht und -genetik in die nationalsozialistische Raumpolitik zugleich die Einbindung in die Vernichtungspolitik bedeutete, macht, mehr als es die Kooperation des KWI für Züchtungsforschung mit der landwirtschaftlichen Versuchsstation Rajsko des Konzentrationslagers Auschwitz nahe legt, der Anbau von nicht essbaren Industriepflanzen in der Ukraine, das heißt die gezielte Hungerpolitik der Besatzung, deutlich.

Die erwähnte Kompatibilität von Pflanzenforschung und Raumpolitik hatte zwei Grundlagen: zum einen die gegenseitige Annäherung zwischen Forschungspolitik und Wissenschaftlern, zum anderen die Entwicklung der landwirtschaftlichen Forschung vor 1933. Die inhaltlichen Kämpfe innerhalb des nationalsozialistischen Führungsapparats entschieden sich gegen die romantisierenden Reagrarisierungsvorstellungen eines Walther Darrés, der die „rassische Erneuerung des Volkes vom Bauernhof her“ (Stoehr, S. 70) als Entkopplung von kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen verstand. An entscheidende Stelle trat der Agrarwissenschaftler Konrad Meyer, Architekt des „Generalplan Ost“. Der befürwortete technische Forstschritt drückt sich in der konsequenten Förderung der Wissenschaft aus, die Meyer unter anderem als Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und entsprechend seiner Machtfülle in der SS und im Reichserziehungsministerium zentral und effektiv zu bündeln verstand. Die Agrarforschung, so ist aus den Darstellungen zu schlussfolgern, ist ein Beispiel für eine wissenschaftsfreundliche und gut koordinierte Forschungspolitik im Nationalsozialismus, die der Forschung Entwicklungsmöglichkeiten öffnete. Meyer konnte in den forschungspolitischen Fragen mit der vollen Kooperation der Biologen rechnen. Zur zentralen Figur war hier der Botaniker Fritz von Wettstein aufgestiegen. Effektiv vermittelte Wettstein die Interessen der genetischen Forschung und der Landwirtschaftspolitik, wie die Gründung des KWI für Kulturpflanzenforschung unter dem Genetiker Hans Stubbe 1943 zeigt. In der „Interessenkoalition zwischen der politischen Führung und der scientific community“ (Heim, S. 176) passten die Wissenschaftler ihre Fragestellungen an. Der Prozess dieser Anpassung könnte deutlicher nachvollzogen werden, um zu differenzieren, inwieweit diese Fragestellungen Forschungsprobleme fortsetzten oder umlenkten. So bleibt es – nicht zuletzt wegen der Quellenlage – unklar, ob und wie sich Stubbes neue Aufgabe der Wildpflanzenforschung in seine alten Forschungsprobleme einpasste.

Zum anderen erklärt sich die erwähnte Interessenkoalition aus einer gemeinsamen Interessengeschichte. Konrad Meyer war wie der Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft und spätere Minister, Herbert Backe, Schüler von Wettsteins, so wie der neue Chef im KWI für Züchtungsforschung, Wilhelm Rudorf, Schüler von Theodor Roemer war. Der Hallenser Pflanzenzüchter Roemer war eine der zentralen Figuren der akademischen Landwirtschaft in der Weimarer Republik. Er war – neben Erwin Baur – der Inaugurator einer effektiven industriellen Verwertung von Züchtungsforschung. Indem der Band teils in einer kursorischen Institutionsgeschichte, teils in vergleichender biografischer Betrachtung die deutsche Landwirtschaftspolitik und die Entstehung der Pflanzenzuchtwissenschaft seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufrollt, eröffnet er einen weiten Bezugsrahmen für das Verständnis der Rolle der Pflanzenzucht nach 1933. Dieses Vorgehen ist gerechtfertigt und äußerst erhellend. Gegen alternative Versuche (Landessaatzuchtanstalten in Süddeutschland) einigten sich private Pflanzenzüchter und die Zuchtwissenschaft bereits vor der Jahrhundertwende auf die Grundziele: Intensivierung der Landwirtschaft, Zentralisierung von Sortenprüfung und Standards, Einsatz wissenschaftlicher Zuchtmethoden (Jonathan Harwoods Beitrag). Diese Ziele wurden mit der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (D.L.G.) effektiv gegenüber u.a. Bauerninteressen organisiert. Die nationalsozialistische Landwirtschaftspolitik verhalf der privatwirtschaftlichen Pflanzenzuchtindustrie – zum Beispiel durch die Saatgutverordnung von 1934 – sich durchzusetzen. Schlagworte wie „Autarkie“ und Bekämpfung des „Sortenwirrwarrs“ zeugen von weiteren Kontinuitäten, die strukturell direkt in der „Erzeugungsschlacht“ des Vierjahresplans aufgehen konnten. Zielte die Hochschulpflanzenzucht vor dem Ersten Weltkrieg auf die deutsche Kolonialpolitik, war es danach die „Innere Kolonisation“. Die Nähe der agrarwissenschaftlichen Konzeptionen zur lebensreformerischen Bewegung ist einer der weiter weisenden Aspekte im Band. Die Beiträge von Thomas Wieland und Stoehr ergänzen sich in der Darstellung, dass Agrarwissenschaft unter dem Eindruck der Agrarkrise im und nach dem Weltkrieg bereits Ordnungs- und Sozialpolitik bestimmter Räume meinte, wenn diese auch durchaus unterschiedlich politisch inspiriert war.

Den Forschungsinhalten der Pflanzengenetiker nähern sich die Beiträge an einer interessanten Schnittstelle. Nach der von dem russischen Pflanzengenetiker Nicolai Vavilov 1926 formulierten Theorie der Genzentren, waren geografische Zentren pflanzlicher Variabilität zu erwarten. Michael Flittner zeigt, wie dieses Konzept an der Schnittstelle der „agrargenetischen Modernisierung“ (S. 95) und humangenetischer Diskurse stand. Der Vergleich der Situation in den USA, in Deutschland und in der Sowjetunion kommt Kurzschlüssen dabei zuvor. Techniken, Konzepte und Probleme der genetischen Vergegenständlichung von Pflanze und Mensch konvergierten im „Paradigma der Züchtung“ (Heim, S. 149). Flittner zeigt, dass dies in den zwanziger Jahren in allen drei Ländern der Fall war, dass das Schicksal der Konvergenz in den dreißiger Jahren aber politisch entschieden wurde. Eine wichtige These dabei ist, dass in der UdSSR die ideologisch-normative Auseinandersetzung um die Eugenik die Diskreditierung der Mendelschen Genetik beförderte. Nach der Spezifität der deutschen Entwicklung gefragt, verlangt der Rückgriff auf Weingarts „Genpool-Orientierung“ 3, mit dem die Affinität zwischen Agrargenetik, Eugenik und Nationalsozialismus plausibel gemacht werden soll, (Flittner, S. 99, 116) zum einen nach einer präzisierenden Abgrenzung gegenüber dem Antiindividualismus des „rassenhygienischen Paradigmas“ 4. Zum anderen fragt sich, ob die wechselseitige Empfehlung der agrargenetischen Höherzüchtungsprogramme und eugenisch-bevölkerungspolitischen Maßnahmen nicht über konkrete wissenschaftliche Gegenstände und ihre Techniken besser gefasst wird. Neben den Genzentren waren dies die Mutationen der sich seit 1927 rasant entwickelnden Strahlengenetik, auf die Bernd Gausemeier in seinem Beitrag zum KWI für Biologie eingeht. 5 Mit diesem KWI wird ein noch ungeschriebenes Kapitel aufgeschlagen. Gausemeier zeigt den Direktor von Wettstein als wichtigen Wissenschaftsorganisator im Bereich der Biologie. Vor allem aber diskutiert er fundiert am Beispiel dieses so genannten Grundlageninstituts die Frage nach der „Reinheit“ der Forschung. Indem er eine brauchbare empirische Präzisierung von „Grundlagenforschung“ vornimmt, kann er die in der wissenschaftsgeschichtlichen Debatte so hartnäckige wie unfruchtbare Unterscheidung „reiner Forschungsinteressen“ und „ideologischer Instrumentalisierung“ hinter sich lassen.

Dass die langjährige Mitarbeit am technokratisch ausgerichteten und der Eugenik verpflichteten Institut Baurs nicht den Weg eines Wissenschaftlers im Nationalsozialismus vorzeichnete, zeigt eindrucksvoll die Biografie der Pflanzengenetikerin Elisabeth Schiemann. Sie gehörte zu den ganz wenigen Wissenschaftlern, die entschieden die Rassenpolitik – auch öffentlich – ablehnte. Spannend ist dabei das Gemisch aus religiös motivierter und wissenschaftsimmanenter Kritik. Der Beitrag Elvira Scheichs kommt der Person Schiemanns nicht zuletzt dadurch sehr nahe, dass er über den Briefwechsel mit der 1938 emigrierten Freundin Lise Meitner bis in die Bundesrepublik und zur Konfrontation von vertriebenen Wissenschaftlern und den Dagebliebenen bzw. Opfern und Tätern führt. Meitner war wie viele andere verstört über die Larmoyanz der deutschen WissenschaftlerInnen und über die fehlende Reflexion über das Geschehene. In dem Wiederaufbau ohne Innehalten oder Rückblicken hatten es die alten Machtzentren leicht, sich zu rekonsolidieren. Unbeschädigt blieb insbesondere der Geschäftsführer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Dr. Ernst Telschow. Seine organisatorischen Verdienste für die deutsche Wissenschaft schienen ihn immun zu machen. In schamloser Kontinuität wurden die vertriebenen Wissenschaftler ein zweites Mal abgestraft. Michael Schüring führt am Schicksal des vertriebenen Genetikers Max Ufer und seiner Familie unbestechlich vor, in welcher hartnäckigen Unberührtheit die Max-Planck-Gesellschaft Entschädigungsansprüche ehemaliger nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (April 1933) entlassener Mitarbeiter hintertrieb. Es scheint, als waren die unwillkommenen Ehemaligen die Negativstellen in der Erinnerungskultur der Max-Planck-Wissenschaftler/Innen. - Man darf auf die weiteren Ergebnisse der Forschungsgruppe der „Präsidentenkommission“ gespannt sein.

Wenn auch mit der allgemeinen Etikettierung als „Biopiraterie“ (Hossfeld/Thornström) die historische Trennschärfe etwas verloren geht, so weist „Autarkie und Ostexpansion“ doch auch auf heutige Zusammenhänge von (biotechnologischer) Wissenschaft und Machtentwicklung. Die Beiträge gewinnen ihre besondere Tiefe allerdings da, wo sie auf die inhaltliche und forschungspraktische Dynamik der Verbindung von Biowissenschaften und nationalsozialistischer Herrschaft eingehen. Man kann hoffen, dass eine solche kritische und zugleich umsichtige Behandlung der Pflanzenzucht in ihrem gesellschaftlichen und politischen Kontext demnächst auch anderen Feldern der Biowissenschaften zugute kommt – zumal der Anspruch erfrischend ist, Wissenschaft nicht unter sozioökonomische Interessen zu subsumieren.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/
2 vgl. Bernd Gausemeier im Band, S. 204; Heim, Susanne: "Die reine Luft der wissenschaftlichen Forschung". Zum Selbstverständnis der Wissenschaftler der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, (= Ergebnisse. Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus", 7, hrsg. v. Carola Sachse), Berlin 2002.
3 Weingart, Peter: Science and Political Culture: Eugenics in Comparative Perspective, Scandinavian Journal of History, 24, 1999, S. 163-177, hier: S. 172.
4 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung >lebensunwerten< Lebens, 1890-1945, (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 75, hrsg. von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler), Göttingen 1987, S. 65ff.
5 Im Band: S. 46, 156f., 195ff.; Roemer, Theodor: Die Bedeutung des Gesetzes der Parallelvariation für die Pflanzenzüchtung, Nova Acta Leopoldina, N.F. 4, 1937, S. 351-36.

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