M. Schulze Wessel u.a. (Hrsg.): Zukunftsvorstellungen

Titel
Zukunftsvorstellungen und staatliche Planung im Sozialismus. Die Tschechoslowakei im ostmitteleuropäischen Kontext 1945-1989


Herausgeber
Schulze Wessel, Martin; Brenner, Christiane
Reihe
Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 30
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Guth, Historisches Institut, Universität Bern

Um die Geschichtsmächtigkeit „vergangener Zukunft“ weiß die Historikerzunft spätestens seit Reinhard Koselleck.1 Demnach nahm die moderne „Beschleunigung der Geschichte“ ihren Anfang, als der Erwartungshorizont des Menschen über seinen Erfahrungsraum hinauswuchs und die sich dazwischen auftuende Kluft als Wegstrecke erschien, die es auf den Pfaden des Fortschritts zu durchmessen galt. Seither sollen Prognosen, Modelle und Visionen den Weg in die Zukunft weisen, und Planung ihn in bewältigbare Etappen aufteilen. Einen besonders weiten, bis ans Ende der Geschichte gespannten Erwartungshorizont hat im 19. Jahrhundert der Marxismus aufgetan. Es war deshalb nur folgerichtig, dass die staatssozialistischen Versuche seiner Umsetzung im 20. Jahrhundert der Planung besonders hohen Stellenwert beimaßen. Dass ausgerechnet das „rückständige“ Russland den marxistischen Entwicklungspfad als erstes betrat und ihn als Abkürzung in die Zukunft verstand, fand seinen Niederschlag in einer atemlosen Planungspraxis, die den Weg in die Zukunft in Marathonstrecken etappierte und das Land in den Mahlstrom umwälzender Veränderungen stürzte.2 Von ganz anderen Ausgangspositionen starteten nach dem Zweiten Weltkrieg die zentraleuropäischen Staaten in die kommunistische Zukunft – Grund genug für den vorliegenden Band, „exemplarisch einen Vergleich zwischen sowjetischer Zeitordnung und Plankultur und den entsprechenden Phänomenen in Ostmitteleuropa anzustoßen“ (S. 3) und damit zur weiteren Binnendifferenzierung eines keineswegs homogenen „Ostblocks“ beizutragen.

Vier einleitende Beiträge entwerfen den Interpretationsrahmen für die anschließenden Detailstudien. Zunächst definiert Martin Schulze Wessel Planung als „Zugriff auf die Zukunft“ mit formierender Wirkung auf die Gegenwart (S. 1). Die sozialistischen Staaten verband eine ausgeprägte, aber in unterschiedlichem Maße teleologisch aufgeladene Planungspraxis: Ging es im sowjetischen Fall um den unhinterfragbaren Sprung aus düsterer Vergangenheit in die lichte Zukunft, so präsentierte sich der Fortschrittsgedanke in der bereits zu Zwischenkriegszeiten hoch entwickelten Tschechoslowakei ambivalenter. Hier musste sich die Zukunft an der Vergangenheit nicht nur messen lassen, sondern auch ein einvernehmliches Verhältnis zu ihr finden, weshalb „zur Sinnwelt sozialistischer Herrschaft in der Tschechoslowakei nationale Traditionen nicht weniger gehörten als Projektionen von Zukunft“ (S. 17). Ähnliches lässt sich freilich auch für die späte Sowjetunion konstatieren, wie Stefan Plaggenborg ausführt. Denn in dem Maße, wie der Zeitlauf die Erwartung kommunistischer Zukunft in Erfahrung realsozialistischer Gegenwart verwandelte, verblasste die Morgenröte der lichten Zukunft, und der nunmehr verstetigten Gegenwart blieb nur der Glanz einer ruhmreichen Vergangenheit, deren aus Kriegs- und Revolutionsmythen gespeiste Strahlkraft freilich kaum bis nach Ostmitteleuropa reichte. Aus der Ferne nähert sich Gereon Uerz der staatssozialistischen Planungspraxis in enger werdenden Kreisen, wobei er zukunftsplanerisches Denken zunächst als anthropologische Grundkonstante kennzeichnet, um es in seiner modernen Form sodann zum historischen Produkt der Aufklärung als einer „Absetzbewegung vom deistisch-deterministischen Zukunftsdenken“ (S. 33) zu erklären und es schließlich als Steckenpferd der Frühsozialisten Fourier und Saint-Simon zu identifizieren, von dem sich Marx und Engels allerdings abgrenzten, weil sie sich weniger als Propheten einer konkreten Zukunftsvision verstanden denn als Theoretiker gesetzmäßig ablaufender historischer Entwicklungen. Es bliebe hinzuzufügen, dass die Akteure des späteren Staatssozialismus diese Askese wieder durchbrachen und erneut dazu übergingen, die lichte Zukunft in aller Anschaulichkeit auszumalen – am augenfälligsten im Parteiprogramm der KPdSU von 1961. Zum Abschluss des ideengeschichtlichen Teils fragt Bedřich Loewenstein nach dem „Verhältnis von Revolution und Utopie“. Den Oktober 1917 erklärt er zu gleichen Teilen aus utopischer Zukunftshoffnung wie aus apokalyptischer Verzweiflung an einer von Gewalt und Ordnungsverlust geprägten Gegenwart. Ähnliche Voraussetzungen ortet er in der Tschechoslowakei des Jahres 1945, wo die Erfahrungen der späten Zwischenkriegs- und der deutschen Besatzungszeit demokratischen Ordnungsvorstellungen das Odium der Schwäche und Visionslosigkeit eingetragen hatten. An ihre Stelle trat die radikale Vision einer ethnisch reinen, sozial gerechten Gesellschaft, unter deren Fahnen mit Moskauer Hilfe schließlich die Kommunisten an die Macht marschierten.

Dem „neuen Menschen“ nähern sich die Autoren des ersten Themenschwerpunkts auf den Spuren biologisch-eugenischer und gesellschaftsplanerischer Entwürfe. Martin Franc zeichnet den Werdegang des einflussreichen Biologen Ivan Málek nach, der sich in den 1950er-Jahren als überzeugter Stalinist auf Lysenkos Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften einließ und auf dieser Grundlage die planmäßige „Aufzucht“ eines gesunden, leistungsfähigen und glücklichen Menschenschlags propagierte, um sich später, zum Reformsozialisten gemausert, auf die politisch gewendete Forderung nach Schaffung optimaler Bedingungen für die persönliche Entfaltung jedes Einzelnen zu verlegen. Matěj Spurný beschäftigt sich mit der bisher kaum erforschten Interaktion zwischen ethnischen Minderheiten und kommunistischen Machteliten. Am Beispiel tschechischer evangelischer Remigranten aus Wolhynien, die noch auf dem Höhepunkt des Stalinismus staatliche Zuwendungen für den Bau einer Kirche erhielten, illustriert er effektvoll, dass die Ordnungsvorstellungen und Zukunftsvisionen des Regimes gebrochener und widersprüchlicher in der politischen Alltagspraxis ankamen als gemeinhin angenommen, und dabei zwischen orthodoxen, nationalkommunistischen und pragmatischen Akzenten lavierten. Weniger Ambiguitäten lassen die in den 1960er- und 1970er-Jahren ins Auge gefassten „Lösungsansätze“ für das „Zigeunerproblem“ erkennen, das in den Augen der Planer aus der „Rückständigkeit“ und „Asozialität“ dieser Bevölkerungsgruppe erwuchs. Die ins Auge gefassten Maßnahmen reichten, wie Celia Donert ausführt, von der „Umsiedlung“ und „Zerstreuung“ bis hin zur Zwangssterilisation. Beachtenswerterweise waren es zivilgesellschaftliche, im Bürgerrechtsdiskurs verankerte Initiativen, die den staatlichen Initiativen wirkungsvoll die Spitze brachen.

Eine erstrangige Projektionsfläche hochfliegender Zukunftsvisionen boten dem prometheischen Staatssozialismus sowjetischer Prägung technisch-infrastrukturelle Großprojekte, deren Umsetzung freilich auch regelmäßig die Leistungsfähigkeit des Systems und die Zweckmäßigkeit seiner Entwürfe auf die Probe stellte. Das daraus erwachsende Erkenntnispotenzial lotet ein weiterer Themenschwerpunkt anhand dreier Exempel aus. Als Geschichte enttäuschter Zukunftserwartungen (weniger technischer als vielmehr nationalstaatlicher Art) beschreibt Anna Bischof die Entwicklung der Uranförderung in Jáchymov, deren Erträge die Tschechoslowakei bereits 1945 vollumfänglich der Sowjetunion zusicherte. Weder leistete die Sowjetunion im Gegenzug Sukkurs für tschechoslowakische Territorialforderungen an Polen und Österreich, noch war die wissentliche Alimentierung des sowjetischen Atomwaffenprogramms der außenpolitischen Vision einer neutralen Tschechoslowakei zwischen Ost und West förderlich; schließlich konterkarierte der massive Einsatz deutscher Zwangsarbeiter aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft in den Minen die „ethnische Säuberung“ des Grenzgebiets. Leider verzichtet die Autorin auf einen Vergleichsbezug zur Uranförderung in der DDR (Unternehmen Wismut). Das Zukunftsversprechen des „friedlichen sozialistischen Atoms“ kommt im anschließenden Beitrag von Ulrich Best nur en passant zur Sprache. Im Zentrum seines Beitrags steht eine komplementäre energetische Vision, die in den Gaspipeline-Projekten des RGW ihre Realisierung fand und anfänglich als harter Kampf von Mann und Maschine für eine prosperierende und komfortable Zukunft wort- und bildreich in Szene gesetzt wurde. Unter dem Eindruck der Wissenschaftlich-Technischen Revolution gerieten solche Szenen allerdings rasch zum Anachronismus; die Bildwelten der Aufbaupropaganda bevölkerten nun weiß bekittelte Produktionsingenieure in den Kontrollräumen von Fertigungsstrassen, AKWs und Weltraumbahnhöfen. Ivan Jakubec fragt nach den Gründen für die unzulängliche Entwicklung der tschechoslowakischen Verkehrsinfrastruktur und sieht sie im Vorrang quantitativer vor qualitativen Planzielen sowie fehlender Weitsicht, mangelnder Fachkompetenz und geringer Investitionsbereitschaft staatlicher Instanzen.

Was den nächsten Schwerpunkt unter dem Titel „Mobilisierung durch Planung“ im Innersten zusammenhält, weiß wohl nur der Buchbinder – der Qualität der hier versammelten Beiträge tut dies freilich keinen Abbruch.

Jaromir Balcar und Jaroslav Kučera weisen in ihrem Beitrag die landläufige These zurück, wonach sowjetischer Zwang die hoffnungsvollen Anfänge einer eigenständigen tschechoslowakischen „mixed economy“ zwischen Plan- und Marktwirtschaft zunichte gemacht habe. Vielmehr brachte die zunächst von allen politischen Kräften begrüßte Verstaatlichung einzelner Wirtschaftsbereiche Inkompatibilitäten und Dysfunktionalitäten hervor, die immer weiterreichendere Interventionen in die Volkswirtschaft nötig machten und das sowjetische Modell umfassender Planung schließlich als valables Vorbild erscheinen ließen. Weniger Eigendynamik entfaltete der kulturelle Aufbau auf dem Land in der Frühphase der kommunistischen Alleinherrschaft (1948-1950), wie Jiří Knapik ausführt. Eine breit angelegte Initiative, das flache Land zwecks kultureller Hebung und politischer Bewusstseinsbildung mit einem Netz von Kulturhäusern zu überziehen, scheiterte daran, dass weder die Zentralregierung noch die jeweilige Lokalbevölkerung die benötigten Mittel aufbringen konnte oder wollte, und verlor sich alsbald im Strudel der Zwangskollektivierung. Blanka Koffers vergleichender Blick auf die volkskundlichen Akademieabteilungen in Prag und Ost-Berlin lädt dazu ein, im Hinblick auf die Gesellschaftswissenschaften von einer „Immobilisierung durch Planung“ zu sprechen. Dazu trug die im Plan festgeschriebene Verpflichtung der Wissenschaftler auf die Parteilinie ebenso bei wie der durch das Planungswesen selbst verursachte Verschleiß intellektueller und materieller Ressourcen. Schließlich wendet sich Xavier Galmiche der Belletristik zu. Den Aufbauromanen aus der frühen sozialistischen Tschechoslowakei bescheinigt er ein – im länderübergreifenden Vergleich erstaunliches – Defizit an utopischen Visionen. Im Hinblick auf die beabsichtigte Umgestaltung der Gesellschaft wurden vielmehr die „Grenzen des Machbaren“ und das „Gewicht der Vergangenheit“ hervorgehoben. Hier findet Schulze Wessels Hinweis, dass der sozialistische Aufbau in der Tschechoslowakei zu keinem Zeitpunkt von der Fiktion einer tabula rasa ausging, nochmals seine Bestätigung.

Ein Themenschwerpunkt zur Planung nach der utopischen Hochphase beschließt den Band. In den sowjetischen Wirtschaftsdebatten der frühen 1980er-Jahre enthüllt Michal Pullmann unter dem Mantel systemkonformer Rhetorik gedankliche Vorgriffe auf die Reformpolitik Gorbačevs und führt aus, dass ähnliche Positionsbezüge in der ČSSR nur unter Berufung auf sowjetische Autoritäten möglich waren – zu groß erschien ansonsten die Gefahr, sich der geistigen Nähe zum verpönten Gedankengut der 1960er-Jahre verdächtig zu machen. Die „Europapublizistik“ im späten Staatssozialismus versuchte sich laut Christian Domnitz an einem doppelten Gegenentwurf zu „westlichen“ Europabildern. Zum einen sollte die Betonung sozialistischer Fortschrittlichkeit das alte Bild von der osteuropäischen Rückständigkeit aus dem Wege schaffen, zum anderen galt es, die sozialistischen Staaten als eigentlichen Kern des Kontinents darzustellen, das kapitalistische Westeuropa hingegen als dessen bloßen „Wurmfortsatz“, der „durch seine transatlantischen Bande [...] der europäischen Idee abtrünnig geworden sei“ (S. 285). Am Ende analysiert Helena Srubar eine tschechoslowakische Fernseh-Science-Fiction-Serie aus den frühen 1980er-Jahren („Die Besucher“), in der sich Zeitreisende aus ferner Zukunft in die tschechoslowakische Gegenwart verirren. Sowohl die ČSSR des Jahres 1984 wie auch die nach kommunistischen Idealen geordnete Weltzivilisation des Jahres 2484 erscheinen dabei in durchaus positivem Licht. Dass sich die Zukunftsgesellschaft von den Berechnungen eines defekten Supercomputers in Weltuntergangsstimmung versetzten lässt und den Irrtum erst im Kontakt mit dem gesunden Menschenverstand tschechischer Kleinstadtbewohner erkennt, stellt indes den Fortschrittsgedanken in Frage und ironisiert das Versprechen der Wissenschaftlich-Technischen Revolution.

Seinem Anspruch, einen Vergleich zwischen sowjetischer und ostmitteleuropäischer Plankultur anzustoßen, wird der Band zweifellos gerecht. Weshalb er indes gänzlich auf einen Vergleichsbezug zu Westeuropa verzichtet, der sich gleich aus zwei Gründen empfohlen hätte – erstens, weil die tschechoslowakischen Ausgangsbedingungen 1945 viel eher mit westeuropäischen als mit sowjetischen Verhältnissen korrespondierten und zweitens, weil Zukunftsplanung unter technokratischen Vorzeichen bis in die 1970er-Jahre auch in Westeuropa im Schwange war3 –, bleibt allerdings schleierhaft – es sei denn, man wolle dahinter eine subdisziplinäre Selbstabschottungstendenz der „osteuropäischen Geschichte“ vermuten. Dessen ungeachtet bleibt der sorgfältig editierte Band auch für jene, die sich nicht schwerpunktmäßig mit tschechoslowakischer oder sowjetischer Geschichte befassen, äußerst lesenswert – nähern sich die Beiträge dem gemeinsamen Oberthema doch mit originellen und produktiven Ansätzen, die auch über das konkrete Anwendungsbeispiel hinaus anregende Fragen formulieren. Auf die – von etlichen Beiträgen in Aussicht gestellten – Dissertationen darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Reinhard Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2000.
2 Siehe dazu Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt am Main 2006.
3 Als geraffte Übersicht hierzu etwa Alexander Schmidt-Gernig, Die gesellschaftliche Konstruktion der Zukunft. Westeuropäische Zukunftsvorstellungen und Gesellschaftsplanung zwischen 1950 und 1980, in: WeltTrends 18 (1998), S. 63-84.

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