Cover
Titel
Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850


Autor(en)
Lenger, Friedrich
Reihe
Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
757 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adelheid von Saldern, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Wie kann heutzutage eine Stadtgeschichte Europas der letzten 150 Jahre geschrieben werden? Diese Frage ist umso relevanter, je mehr einem bewusst ist, dass große Teile der europäischen Gesellschaften längst mehr oder weniger urbanisiert sind. Das erschwert die historiografischen Abgrenzungen zwischen Stadt und Land und folglich auch jene zwischen allgemeiner Gesellschaftsgeschichte und spezifischer Stadtgeschichte. Weitere Probleme ergeben sich mit Blick auf die Unterscheidung zwischen Großstädten, Weltstädten und Metropolen. Die bislang in den Urban Studies vorgenommenen Abgrenzungen sind uneinheitlich, obgleich eine gewisse Tendenz dahingeht, Metropolen vor allem mit deren Größe und ihren räumlich weit ausgreifenden und auf mehreren Ebenen angesiedelten Zentralfunktionen in Zusammenhang zu bringen.

Friedrich Lenger hat nun ein großes Werk über die „Metropolengeschichte Europas“ vorgelegt, wobei er mit den eben angesprochenen Fragen recht pragmatisch umgeht. Die Vielzahl europäischer Städte sowie die Unterschiedlichkeit städtischer Entwicklungsgeschichten und nationalstaatlicher Rahmungen legitimieren eine gewisse begriffliche und konzeptionelle Offenheit, zumal wenn sich das auf diese Weise erreichte Niveau des Narrativs durch eine hohe Qualität auszeichnet.

Für die hohe Qualität dieses Narrativs lassen sich einige Kriterien angeben: Zum einen sollte eine solche Untersuchung einen großen geografischen Radius aufweisen, eine Anforderung, die Lengers Buch in sehr beachtlichem Ausmaß erfüllt. Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor immer wieder seinen Blick auf Städte des europäischen Südens und Ostens wirft, und damit die gängigen, auf den (Nord-)Westen fixierten Metropolen-Geschichten wesentlich erweitert. Indem die Studie die Europäizität auch der osteuropäischen Großstädte herausarbeitet, bereichert sie an Hand empirisch ermittelter Beispiele die in den letzten Jahren an politischer Bedeutung gewonnenen Konstrukte europäischer Öffentlichkeitskulturen.

Die ungewöhnliche Weite des Narrativs drückt sich nicht nur im Geografischen, sondern auch bei der Anzahl der berücksichtigten Themenkomplexe aus: Zu nennen sind Demografie, Migrationsbewegungen und Wirtschaftsentwicklung sowie Sozialstrukturen und Gender-Aspekte. Hinzu kommen die Bereiche Kunst und Kultur, inklusive Massenkultur und Medien sowie Kommunikation und Öffentlichkeit. Lengers Blicke fallen indessen ebenso auf Architektur und Städtebau sowie auf Kommunalpolitik und Infrastruktur. Berücksichtigung finden ferner soziale Bewegungen und Proteste sowie Kriegs- und Revolutionsereignisse, soweit diese sich im städtischen Rahmen abspielten. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor mit guten Gründen auf die Geschichte innerstädtischer Gewalt im 20. Jahrhundert. Diese ergänzt bzw. konterkariert all jene Stadt-Erzählungen, die allein von Liberalität, Toleranz und Emanzipation handeln. Die vielen Themenbereiche, die in Lengers Buch aufbereitet werden, vermitteln ein Gesamtbild, das einer gut recherchierten Enzyklopädie ähnelt. Deren Darstellung erfolgt weitgehend im Rahmen eines chronologischen, dreigliedrigen Grundmusters. Der erste Teil handelt von der Zeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Abschluss des Ersten Weltkrieges (S. 25–273). Der zweite Teil widmet sich den Weltkriegszeiten sowie der Zwischenkriegszeit (S. 273–434), der dritte Teil untersucht die Stadtgesellschaften (S. 435–552), gefolgt von einem fast 70-seitigen Anmerkungsapparat.

Ferner lassen sich jene Bewertungskriterien heranziehen, die auf Qualität und Quantität der Kontextualisierung ausgerichtet sind und die damit der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Stadt- und Metropolengeschichte nicht von einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte trennen lässt. Besonders deutlich wird dies in jenen Kapiteln, in denen Friedrich Lenger auf die Städte in den beiden Weltkriegen eingeht, zudem dann, wenn er die unterschiedlichen politischen Regime und ihre Rahmensetzungen thematisiert sowie wenn er die sozialen (Protest-)Bewegungen in den Blick nimmt. Doch auch sonst fehlt es nicht an Kontextualisierungen diverser Art. Das hat freilich seinen Preis in Form eines beträchtlichen Buchumfangs, der mit seinen über 700 Seiten ein auf Ausdauer angelegtes Leseverhalten einfordert.

Des Weiteren kann die Qualität eines solchen großformatigen Narrativs mit Blick auf die Darstellungsweise bestimmt werden. Zu fragen ist, wie wird mit dem letztlich unauflöslichen Spannungsfeld umgegangen, das insofern entsteht, als einerseits eine nach Themenkomplexen und Fragestellungen geordnete Darstellung gewählt werden sollte, in welche die Sicht auf die diversen Städte integriert wird. Andererseits darf dadurch nicht die Eigenheit einer Stadt völlig eingeebnet werden. Lenger hat dieses Darstellungsproblem im Großen und Ganzen sehr gut gemeistert, indem er entweder einen Mittelweg einschlug oder relativ pragmatisch, nicht zuletzt auf Grund der Quellenlage und des Forschungsstandes, entschied, ob eine Gewichtsverschiebung nach der einen oder anderen Seite angebracht ist. Zum Teil werden einzelne Städte nur in einem bestimmten thematischen Zusammenhang kurz erwähnt, zum Teil wird auf eine einzelne Stadt relativ ausführlich unter einem gewissen Aspekt oder einer Ereignisabfolge eingegangen. Wie auch immer sich Friedrich Lenger im Einzelnen entschieden hat, es gelingt ihm, ein perspektivenreiches Panorama der Metropolen des „großen“ Europas nachzuzeichnen.

Kein Wunder, dass dadurch die Suche der LeserInnen nach einem etwaigen roten Faden, der die diversen Stadtgeschichten mit Blick auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert zusammenhalten könnte, stimuliert wird. Weil die älteren Modernisierungs- und Fortschrittstheorien ausgedient haben, bleibt es indessen bei unverbundenen Suchbewegungen. Lenger lässt sich auf diverse Theorieansätze und Theoreme ein. So erörtert er Fragen nach Differenz, Konvergenz und Kontingenz, ferner nach Peripherien und Zentren sowie nach Pfadabhängigkeiten und städtischen Eigenlogiken. Die Rede ist auch von der Ambivalenz der Moderne, von multiple modernities, von Ungleichzeitigkeiten und Ungleichmäßigkeiten der Entwicklungen. Einige dieser Fragen werden bereits in der Einleitung kurz angerissen, andere Reflexionen durchbrechen immer wieder in Kurzform den Erzählfluss und führen so zu kreativer Nachdenklichkeit. Was jedoch vermisst werden kann, das ist die Präsentation einiger zusammenfassender Thesen mit herausforderndem Charakter. Stattdessen endet das Buch quasi „mitten drin“. Die letzten Abschnitte handeln von den sozialen Bewegungen und der Gewalt in Städten der 1960er- und 1970er-Jahre. Diesbezüglich ähnelt das Werk einem Bild ohne Rahmen oder einer Symphonie ohne Schlussakkord. Die Unabgeschlossenheit des Buches mag allerdings auch als eine darstellerische Konsequenz dessen gelesen werden, was als eine radikal offene Zeitgeschichtsschreibung gelten kann. Doch das hätte einer offensiv vertretenen und theoretisch fundierten Reflexion bedurft.

Bleibt zum Schluss die Frage nach der Lesbarkeit des Buches. Abgesehen von einigen vielleicht zu ausführlich geratenen Kontextualisierungen liest sich die Studie sehr gut, zumal sie auch übersichtlich gestaltet ist. Die Vielzahl der beleuchteten Perspektiven und Aspekte, der geografisch weite Radius, die ausgeprägte Erzählkraft Lengers samt seinen Einblendungen literarischer Texte: all dies zeugt nicht nur von der Belesenheit des Autors, sondern führt auch zu einem großen Lesevergnügen.

Der Wert der vorliegenden Studie ergibt sich, zusammenfassend gesehen, nicht zuletzt durch ihren Pioniercharakter. Denn (deutschsprachige) Studien zu den europäischen Städten und Metropolen des 20. Jahrhunderts sind derzeit noch äußerst rar. Friedrich Lenger hat nun durch sein großes Werk auf diesem Sektor nachhaltige Marksteine mit Leitbildfunktionen gesetzt. Sicherlich, zukünftige transnational angelegte Stadtgeschichtsschreibungen könnten auch einer ganz anderen Konzeption folgen als Lengers Buch. Dessen ungeachtet bleibt es das große Verdienst des Autors, eine außergewöhnlich vielseitige und eindrucksvoll kontextualisierte Grundlage für die weitere Erforschung europäischer Stadt- und Metropolengeschichte geschaffen und deren Bedeutung sowohl für die allgemeine Geschichtswissenschaft als auch für die (politischen) Diskurse über „europäische Identitäten“ und „europäische Öffentlichkeiten“, herausgestellt zu haben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch