P. A. Schell: The Sociable Sciences

Titel
The Sociable Sciences. Darwin and His Contemporaries in Chile


Autor(en)
Schell, Patience A.
Reihe
Palgrave Studies in the History of Science and Technology
Erschienen
New York 2013: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 72,67
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Gänger, Universität zu Köln

Patience Schells Buch untersucht das Leben und Wirken europäischer Naturforscher in Chile in den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit des Landes 1818. Entgegen des im Titel implizierten biographischen Schwerpunktes handelt es sich nicht ausschließlich um ein Buch über Charles Darwin (1809–1882), der Chile 1833 während seiner fünfjährigen Beagle-Reise (1831–1836) besuchte: Nur etwa ein Drittel des Textes befasst sich tatsächlich mit dem Südamerikaaufenthalt des englischen Begründers der Evolutionstheorie. Es sind vielmehr drei im Chile des 19. Jahrhunderts wirkende europäische Naturforscher, um die Schells Narrativ kreist: Neben Darwin sind die Protagonisten der Franzose Claudio Gay (1800–1873), der das Land während der 1830er-Jahre im Auftrag der chilenischen Regierung bereiste und den ersten umfassenden Atlas zu Natur, Geographie und Geschichte Chiles verfasste – die 29-bändige „Historia física y política de Chile“ (1844–1871) – und der Preuße Rudolph – oder, hispanisiert, Rudolfo – A. Philippi (1808–1904), der von 1853 bis 1897 das chilenische Nationalmuseum leitete.

Das strukturgebende Interesse des Buches liegt, das geben Titel und Einleitung zu verstehen, auf den „soziablen“ Aspekten naturwissenschaftlicher Praxis – genauer, auf der Frage, welche Rolle „Freundschaft“ und andere „persönliche“ und „affektive“ Beziehungen für das wissenschaftliche Arbeiten von Männern wie Darwin, Gay und Philippi spielten (S. 6). Das Buch ist folgerichtig entlang der Biographien der drei Protagonisten gegliedert: Das Narrativ nimmt seinen Anfang 1831 mit der Freundschaft zwischen Charles Darwin und Robert Fitz-Roy, dem Kapitän der Beagle – deren Rekonstruktion weite Teile des ersten Kapitels einnimmt – und endet mit dem Tod Rudolph A. Philippis, dessen späte Lebensjahre im Mittelpunkt des achten und letzten Kapitel des Buches stehen. Die dazwischenliegenden sechs Kapitel schildern im Wesentlichen die Begegnungen der drei Naturforscher miteinander und mit einer Vielzahl europäischer und chilenischer Zeitgenossen im Laufe ihrer langen Leben. Die Verfasserin rekonstruiert auf der Grundlage einer eingehenden, sorgsamen Recherche in der privaten und wissenschaftlichen Korrespondenz der drei Hauptfiguren deren Beziehungen zu ihren langjährigen Wegbegleitern – Ehefrauen und Kindern, Reisegenossen, wissenschaftlichen Assistenten –, in die europäischen Auswandererkreise Chiles, in die chilenische Regierung, die wissenschaftlichen Institutionen und elitären Zirkel des Landes, und zu Angehörigen, Bekannten und Forscherkollegen in der „alten“ Heimat.

Dabei fasst die Autorin unter den Überthemen „Soziabilität“ und „Freundschaft“ in den Wissenschaften tatsächlich sehr unterschiedliche Bereiche: Von Gastfreundschaft hin zu Lehrer-Schüler- und Verwandtschaftsbeziehungen, von akademischen und politischen Seilschaften hin zu Solidaritätsbekundungen unter Landsleuten. Es ließe sich zumindest diskutieren, ob die Empfehlungsschreiben eines Alexander von Humboldts oder die politische Patronage, die Claudio Gay in Chile zuteil wurde, auf derselben Ebene anzusiedeln sind wie etwa die engen persönlichen Bande zwischen Philippi und dem polnischen Naturforscher Ignacio Domeyko (1802–1889) oder die den Atlantik überspannenden Korrespondenznetzwerke, durch die Darwin, Philippi und Gay botanische, zoologische und Gesteinsproben aus aller Welt zusammentrugen. Unterschiedliche Formen von Soziabilität als essentiellen Bestandteil wissenschaftlicher Praxis im Allgemeinen, und der Naturkunde des 18. und 19. Jahrhunderts im Besonderen zu denken, ist ein durchaus etablierter Ansatz in der gegenwärtigen wissenschaftshistorischen Forschung – man denke an die Arbeiten von Steven Shapin, Philippa Levine oder Anne Secord1 – und vielleicht wäre der Arbeit damit gedient gewesen, auf Grundlage der sich aus diesen Studien ergebenden, feineren Gradierungen systematischer zu unterscheiden zwischen Familienbanden, nationalen Loyalitäten, politischen Allianzen und den Austauschbeziehungen zwischen Naturforschern, die sich als Ehrenmänner verstanden und die auf Grundlage der Prinzipien Verlässlichkeit, Reziprozität und Vertrauen miteinander interagierten.

Zu den bemerkenswertesten Passagen des Buches gehören unverbundene Hinweise auf diejenigen Männer und Frauen, die sich an den Rändern der naturkundlichen „Gelehrtenrepublik“ bewegten, in deren Zentrum – in Chile ebenso wie im Preußen, Frankreich oder England der Zeit – Männer wie Darwin, Gay und Philippi standen: Die Geschichten von Wilderern, gauchos und Bergmännern, die den Reisenden den Weg wiesen, die Umgebung erklärten und Proben lieferten, oder von den Ehefrauen, die das Sortieren des Gesammelten, das Redigieren von Texten und die Anfertigung von Zeichnungen besorgten. Dass diese Hierarchien für Momente in Auflösung zu geraten scheinen, etwa während Darwins Abenden am Lagerfeuer mit seinen gaucho-Begleitern (S. 191), in der vollkommenen Abhängigkeit der Reisenden von der Landeskenntnis ihrer indigenen Führer (S. 192) oder in Philippis Bewunderung für die von señorita Teresita Gallo zusammengetragene Mineraliensammlung (S. 142), ist nur scheinbar ein Anzeichen für die Durchlässigkeit der Grenzen, die um die „Gelehrtenrepublik“ des 19. Jahrhunderts verliefen: Tatsächlich werden die inneren Mechanismen dieser Beziehungssysteme dann am deutlichsten, wenn Akteure trotz ihrer offensichtlichen Relevanz in wissenschaftlichen Unterfangen über die Funktionen Ethnizität, Klasse und Geschlecht außerhalb angesiedelt werden.

Leserinnen und Leser, die sich von Patience Schells Buch eine systematische Problematisierung oder Historisierung des Freundschafts- und Soziabilitätsbegriffs erwarten, werden nicht finden, was sie suchen. Auch Historikerinnen und Historiker, die sich neue Erkenntnisse zur Geschichte „lokalen“ Wissens oder „kreolischer“ Wissenschaft erhoffen, werden nur ansatzweise fündig werden: Es geht in dem Buch tatsächlich weniger um Chile oder die chilenische Forschungslandschaft als um die Reisenden und Einwanderer und deren Sicht auf das Land. Das Buch „The Sociable Sciences“ ist eine wertvolle und lohnende Lektüre vor allem für Leserinnen und Leser mit einem biographischen Interesse am Leben der drei europäischen Naturforscher und ihrer Umgebung: An der Kollegialität, mit der Philippi und sein Sohn, Federico, die Geschicke des chilenischen Nationalmuseums über Jahrzehnte lenkten, an Charles Darwins Zerstreuungen in den Kreisen britischer Auswanderer – Diplomaten, Minenbarone und Kaufleute – in Valparaíso oder an Claudio Gays Sorge um seinen „guten Namen“ in Chile angesichts der Verleumdungen durch seine Ehefrau Hermance. Der Stil der Autorin ist dabei erzählerisch, farbenfroh, und persönlich, das Narrativ offen, assoziativ und an vielen Stellen, durchaus auch im positiven Sinne, anekdotisch. Am stärksten ist das Buch allerdings da, wo es die eingangs formulierte Hypothese – Freundschaft sei „essentielle(r) Bestandteil wissenschaftlicher Praktiken“ (S. 7) – zu Ende denkt und nach den tatsächlichen – inhaltlichen, methodischen, praktischen – Implikationen persönlicher Beziehungen fragt: Die These, Charles Darwin sei ohne sein offenes, sympathisches Auftreten nicht als Gesellschafter für Robert Fitz-Roy auf die Beagle eingeladen worden – eine Reise, die sein wissenschaftliches Denken nachhaltig prägen sollte – oder die Argumentation, dass die Bestände des chilenischen Nationalmuseums, wie sie über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, nur über die Persönlichkeit, Familienbande und privaten Netzwerke Rudolph A. Philippis nachzuvollziehen seien, stellen einen wichtigen weiteren Baustein für eine globale Wissenschaftsgeschichte dar, die Kontingenz betont und wissenschaftliches Denken und Handeln als historische Phänomene betrachtet.

Anmerkung:
1 Anne Secord, Artisan Botany, in: Nicholas Jardine / James A. Secord / Emma Spary (Hrsg.), Cultures of Natural History, Cambridge 1996; Philippa Levine, The Amateur and the Professional. Antiquarians, Historians and Archaeologists in Victorian England, 1838–1886, Cambridge 1986; Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England Chicago 1994.

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