A. Zagańczyk-Neufeld: Die geglückte Revolution

Cover
Titel
Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976–1997


Autor(en)
Zagańczyk-Neufeld, Agnieszka
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tytus Jaskułowski, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden

Der Titel des Buches täuscht ein wenig, verdient es aber, besonders gelobt zu werden. Seit mehr als zwei Jahrzehnten setzen sich polnische Publizisten, Politiker und Wissenschaftler damit auseinander, wie die polnische Revolution 1989 zu bezeichnen ist. Nach Bestimmungsversuchen wie „verkaufte“, „ausverhandelte“ oder „reglementierte“ Revolution traut sich endlich eine Doktorandin, diese mit einfach und durchaus positiv als „geglückt“ zu bezeichnen. Ihr Buch ist aber nicht der Revolution selbst gewidmet, sondern dem Begriff des Politischen in der polnischen Zeitgeschichte vor und nach 1989. Agnieszka Zagańczyk-Neufeld vertieft sich in die publizistischen Debatten der parteikonformen und oppositionellen Pressemilieus. Die Revolution des Jahres 1989 war nur ein Element jener Debatten, stark genug, sich nach 1990 deutlich zu verschärfen.

Die methodologischen Motive der Arbeit sind sachlich und klar dargelegt. In der Tat fehlte bis jetzt eine umfassende Arbeit, die den politischen Diskurs innerhalb der polnischen Staatspartei und der Opposition analysiert. Richtig ist auch die Annahme, dass man endlich aufhören müsse, die polnische Zeitgeschichte durch das Prisma einer Auseinandersetzung „Wir – sie“ zu behandeln. Aber die Argumente zur Erklärung, warum es eine solche Arbeit nicht vor 2014 gegeben hat, regen zum Nachdenken an.

Kritisiert wird die polnische Historiographie, weil sie angeblich zu positivistisch arbeite, keine Streitgeschichte sei und zu sehr einem „Kult der Fakten“ erlegen wäre. Angesichts dessen aber stellt sich die Frage, wie das in der für diese Dissertation so enorm wichtigen Wochenzeitung „Polityka“ im Jahr 2004 abgedruckte Streitgespräch zwischen den Historikern Andrzej Garlicki und Antoni Dudek einzuordnen ist, das die Art und Weise des historiographischen Umgangs mit dem Jahr 1989 prominent thematisierte.1 Die Werke beider Forscher werden im Buch oft zitiert, ihre Debatte hingegen nicht. Die zweite Kritik betreffend stimmt es schon, dass nach der Wende zunächst die wichtigsten Etappen der Zeitgeschichte aufgearbeitet wurden, um sie dann aber noch einmal vergleichend und mit Hilfe der neuen Quellen zu bearbeiten.

Wie bereits erwähnt, konzentriert sich das Buch vor allem auf den Diskurs, rekonstruiert anhand sowohl der in der parteikonformen als auch in der illegalen Presse veröffentlichten Texte. In vergleichender Analyse soll nicht nur gezeigt werden, wie sich im Verlauf der Zeit Bestandteile des Politischen, etwa die Definition des Feindes, geändert haben. Vor allem geht es darum zu belegen, dass die politischen Debatten einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg der Revolution 1989 waren. Ohne Zweifel agierten in Polen zwei große Spieler in einem gemeinsamen Kommunikationsraum: die Staatspartei und die Solidarność. Mehr noch, beide waren einander verbunden. Ein Drittel der Solidarność-Mitglieder waren gleichzeitig in der Staatspartei. Namhafte Dissidenten waren außerdem ehemalige Parteimitglieder. Last but not least wurden Änderungen in den untersuchten Presselagern, etwa der Verzicht darauf, den Gegner zu beleidigen, zu Recht als Zeichen der möglichen Kooperation wahrgenommen. Gleichwohl entsteht beim Leser der Wunsch nach einer tieferen Analyse wenn er ausschließlich veröffentlichte Pressezeugnisse kombiniert mit den veröffentlichten Quellen präsentiert bekommt.

Die Partei- und Solidarnośćzeitungen, aus denen parteipolitische Thesen filtriert bzw. abgeleitet werden, hatten nicht die meisten Leser. Zu Recht weist Agnieszka Zagańczyk-Neufeld darauf hin, dass die intellektuelle Produktion der polnischen Dissidenten vor allem in Warschau Resonanz finden konnte. Dort wohnten und kämpften nicht nur die Spitzen der Opposition, sondern auch die Entscheidungsträger der Partei und des Geheimdienstes und dort hatten die ausländischen Botschaften ihren Sitz. Letztere waren fähig, Veränderungen in den parteikonformen oder parteikritischen Schriften rasch zu erkennen. Gleiches gilt für externe Einrichtungen, die regelmäßig polenbezogene analytische Arbeit betrieben, etwa Radio Free Europe. Hieraus ergeben sich Fragen: Warum wurden unveröffentlichte Quellen, zum Beispiel der Geheimdienste, nicht in die Untersuchung einbezogen? Warum wurden keine Zeitzeugeninterviews mit Entscheidungsträgern geführt? Natürlich ist die akribische Darstellung aller Strömungen innerhalb der genannten Milieus schwierig. Doch sie ist möglich und verdient großen Respekt, wenn sie in Angriff genommen wird.2

Chronologisch gesehen legt Agnieszka Zagańczyk-Neufeld den Schwerpunkt ihrer Ausführungen auf den Zeitraum 1976 bis 1997. Diese Schwerpunktsetzung ist nachvollziehbar, da in dieser Zeit jene Entscheidungen fielen, die immanent mit dem Begriff des Politischen verbunden waren. Es geht dabei sowohl um Änderungen oder Neuformierungen des Grundgesetzes als auch um tiefe politische Trennlinien wie die Einführung des Kriegsrechts 1981 oder die Gespräche des Runden Tisches 1989. Klar und verständlich wird die Evolution des Politischen in den publizistischen Werken der Staatspartei und der Opposition geschildert. Das umfasst sowohl die allgemeinen Tendenzen, etwa das Ende des hegemonialen Diskurses innerhalb der Partei ab 1976, als auch die Geburt des „Neopositivismus“ und des „Evolutionismus“ infolge des Kriegsrechts. Enorm relevant sind in diesem Kontext Zitate von Parteifunktionären, etwa des späteren Ministerpräsidenten der Volksrepublik Polen Mieczysław Rakowski, der die Solidarność ablehnte, aber in der Lage war, seinen politischen Gegner zu respektieren. Ebenso wichtig ist die Darstellung der Konflikte innerhalb der Opposition über Elitarismus oder über den Versuch, mit der Staatspartei zu kommunizieren.

Die Auseinandersetzung über das Politische in Polen begann nicht Mitte der 1970er-Jahre, sondern nach dem oder bereits während des Zweiten Weltkrieges. In der Darstellung wird erst das Jahr 1976 analysiert, dann folgen Kapitel über das 19. Jahrhundert und die Zeit 1939–1945. Eine solche Chronologie verwirrt. Zudem rufen einige Kommentare bzw. Thesen Zweifel hervor. Wenn man beispielsweise liest, dass es innerhalb der Opposition zwischen 1984 und 1988 einen Konsens gegeben hätte, gewaltfrei zu agieren, stellt sich die Frage, wie die gewaltbereite sog. „Kämpfende Solidarność“, die in ihrer Hochburg Wrocław über ein eigenes starkes Pressewesen verfügte, zu bewerten ist. Zudem fehlen auch genauere Einblicke in die Schriften der beinahe extremen Organisationen innerhalb der Staatspartei, etwa des Parteiforums in Katowice. Ebenso wenig behandelt wird die außerhalb der Solidarność stehende konservative und rein antikommunistische Gruppierung „Konföderation des unabhängigen Polens“, die schon seit 1979 existierte und auch ein Bestandteil des alternativen polnischen Pressewesens war. Sie wird von Zagańczyk-Neufeld erst bei der Analyse der 1980er-Jahre betrachtet, obwohl sie bereits im Jahrzehnt davor Materialien produzierte, die für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit als relevant angesehen werden könnten.

Außerhalb des Beobachtungszeitraums der Dissertation steht die Zeit nach 2005. Obwohl die neue polnische Verfassung von 1997 den Begriff des Politischen symbolisch in sich verankerte, war die publizistische Auseinandersetzung über die damit verbundenen Ideen in Polen nicht beendet. Die rechtskonservative Szene der polnischen Dissidenz innerhalb der Solidarność nach 1989 fühlte sich in dieser Auseinandersetzung deutlich unterrepräsentiert, wenn nicht ausgenutzt. Gleichwohl ist die Lektüre der Studie von Agnieszka Zagańczyk-Neufeld unerlässlich, wenn man die Debatten über die konservative Regierungsperiode 2005–2007 verstehen will.

Anmerkungen:
1 Siehe: Andrzej Garlicki, Opowieść z tezą, in: Polityka, 13.03.2004, S. 70; Antoni Dudek, Dworsko czy spiskowo, in: Polityka, 27.03.2004, S. 88.
2 Als Beispiel kann gelten: Paulina Gulińska-Jurgiel, Die Presse des Sozialismus ist schlimmer als der Sozialismus: Europa in der Publizistik der Volksrepublik Polen, der ČSSR und der DDR, Bochum 2010.

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