W. Faulstich (Hg.): Die Kultur der 50er Jahre, Die Kultur der 60er Jahre

Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 60er Jahre. . Paderborn 2003 : Wilhelm Fink Verlag, ISBN 3-7705-3873-0 306 S. 39,90 €

Faulstich, Werner (Hrsg.): Die Kultur der 50er Jahre. . Paderborn 2002 : Wilhelm Fink Verlag, ISBN 3-7705-3748-3 292 S. € 39,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eisfeld, Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Osnabrück

(Redaktioneller Hinweis: Der Band „Die Kultur der 50er Jahre“ wird im folgenden Text mit „I“, der Band „Die Kultur der 60er Jahre“ mit „II“ zitiert.)

Spätestens während des Jahrzehnts zwischen der Publikation der umfangreichen Sammelbände von Schildt/Sywottek (1993) und Herbert (2002)1 haben die beiden Stichworte „Modernisierung“ bzw. „Liberalisierung“ der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft sich als geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungsthemen fest etabliert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei ganz überwiegend die späten 1950er sowie die 1960er-Jahre – jene Phase, in der Liberalisierungsdebatten und -prozesse „als Embleme der Zeit“ galten.2

Zwar erschienen im Laufe desselben Zeitraums zugleich bahnbrechende Untersuchungen zum Umgang der Westdeutschen mit der NS-Vergangenheit in den 1950er-Jahren, von Norbert Freis Standardwerk „Vergangenheitspolitik“3 bis zu den Beiträgen über „Abwehr und Legitimation“ sowie „Kontinuität und Integration“ in Herberts oben erwähntem Sammelband. Freis unbestrittenes und unbestreitbares Resümee lautete, dass die verbreitete Praxis „bereitwilligen Beschweigens“ der NS-Schandtaten „politische Fehler und moralische Versäumnisse“ offenbarte, die „das geistige Klima in der Bundesrepublik nachhaltig prägten“.4 Parallel zu derartigen Analysen, teilweise auch verschränkt damit, erfolgte jedoch die zunehmende Abwendung von einer Interpretation, die auf dem ausschließlich „restaurativen Charakter der von Adenauer geprägten Gründerjahre“ beharrt „und diese Epoche als ‚statische Jahre’ bezeichnet“ hatte.5 In den Vordergrund rückte statt dessen eine Rekonstruktion jener Lernprozesse, die allmählich die Kluft überbrückt hatten zwischen einer „außerordentlich dynamischen Industriegesellschaft und der damit immer weniger zu vereinbarenden traditionellen Normierung der Lebensweisen“ in der Ära Adenauer.6

Immer häufiger wurde dabei die Rolle der „sich herausbildende[n] Jugendkultur“ betont.7 Jugendliche waren es, die seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die „kulturelle Revolte“ probten, sich aufbäumten gegen die „enge, festgefügte Welt ‚korrekter’ Lebensformen“, daran gingen, „autoritäre Kontrollansprüche von Elternhaus, Schule, Behörden abzuschütteln“.8 Natürlich überschnitten sich kulturelle Entwicklungstendenzen aber mit zahlreichen anderen Variablen, von denen sie beeinflusst wurden und auf die sie wiederum einwirkten. In einem exzellenten Vier-Länder-Vergleich (zu England, Frankreich, Italien und den USA) über die „Kulturrevolution der Sechziger“ hat Arthur Marwick ein gutes halbes Dutzend solcher Faktoren aufgelistet – demografische, wirtschaftliche und technologische, medizinische (die Anti-Baby-Pille), kommerzielle, ideologische und politische.9

Auch wenn auf einige dieser „Umschwungsfaktoren“ in den hier besprochenen Bänden wiederholt Bezug genommen wird, konzentrieren die jeweils 17 Aufsätze beider Bücher, verfasst von insgesamt 20 Autor(inn)en, sich doch auf die Analyse des Wandels im kulturellen und im Medienbereich. Ihr Herausgeber Werner Faulstich, hervorgetreten mit zahlreichen medien- und literaturwissenschaftlichen Publikationen, offeriert zur Begründung dieses Schwerpunkts zwei bündige Thesen: Erstens würden im kulturellen Subsystem jene „Sinnkonzepte, Wertemuster und Leitbilder entwickelt“, die dann in anderen gesellschaftlichen Bereichen als „gestaltender Faktor“ wirksam würden – „in einem Ausmaß, das nur selten bewusst gemacht wird“ (II, S. 8). Zweitens seien es im Zuge einer solchen „kulturellen Diversifikation“ wiederum die Medien gewesen, die als „Motor des gesellschaftlichen Wandels fungiert“ hätten; Kultur habe sich geradezu „als Medienkultur neu formiert“ (I, S. 8; II, S. 8).

Nicht lediglich eine Konzentration auf die kulturelle Dimension streben beide Sammelbände an. Das Bild, das bisherige Untersuchungen geliefert haben, soll auch vervollständigt werden durch Einbeziehung häufig „vernachlässigte[r] oder übersehene[r]“ Aspekte wie Sport und Religion, Radio, Fotografie und Reklame, Groschenromane oder Flugblätter (vgl. I, S. 7; II, S. 7). Das gelingt in beträchtlichem Maß. Aufsätze wie „’Im Petticoat am Nierentisch’ – Architektur, Mode und Design“ (Ricarda Strobel, I, S. 111-144; für das anschließende Jahrzehnt vgl. dies. in II, S. 145-163), „’Wir sind wieder wer’ – die wachsende Bedeutung der Sportkultur“ (Michael Schaffrath, I, S. 145-157; für die folgende Dekade siehe ders. in II, S. 273-289), „Die Kirchen – herausgefordert durch den Wandel in den sechziger Jahren“ (Gerhard Ringshausen, II, S. 31-48) oder „Flugblatt und Flugschrift in der Studentenbewegung“ (Klaus Wernecke, II, S. 165-176) liefern nicht nur wichtige „Nachträge“ zu früheren Studien, sondern fesseln auch durch ihre anschauliche und nuancierte Darstellung.

Einleitend charakterisiert Faulstich die Wandlungsprozesse der 1950er-Jahre als „Beginn der Globalisierung“ für die Bundesrepublik (I, S. 8). Dem verbreiteten Begriff „Amerikanisierung“ ist diese Kennzeichnung vorzuziehen, berücksichtigt sie doch die wichtige Rolle von Anstößen aus Frankreich im Verlauf der 1950er-Jahre (Stichworte: Existenzphilosophie [vgl. dazu auch Faulstich, I, S. 30ff.], Francoise Sagan, Eddie Constantine, Brigitte Bardot) oder aus England während der 1960er-Jahre (Stichworte: Mary Quant, Beatles, Rolling Stones).

Globalisierung impliziert den Zusammenprall zwischen endogenen Traditionen und importierten Wertmustern, mit anderen Worten einen konfliktreichen Prozess. Beispiele für die Herausarbeitung derartiger Konfliktverläufe bilden der Abschnitt „Werbung zwischen deutscher Tradition und amerikanischem Full-service“ aus Christian Steiningers „Eleganz der Oberfläche“ (I, S. 186ff.) und vor allem Knut Hickethiers Aufsatz über „Protestkultur und alternative Lebensformen“ (II, S. 11-30). Anderen Orts jedoch verhindern Einengungen wie diejenige auf den „(bundes)deutsche(n) Film“ (I, S. 71-91; II, S. 195-212) – weitgehend analog zur Behandlung von Musik (I, S. 249-262; II, S. 177-186) und Literatur (I, S. 217-229; II, S. 95-113) – die adäquate Berücksichtigung solcher „Kulturkämpfe“. In I beispielsweise tauchen die Namen Brigitte Bardot und James Dean jeweils nur ein einziges Mal auf – in Faulstichs Schlusskapitel „Die neue Jugendkultur“ (S. 277-290). Von Filmstars, die derart ausgeprägt als Identifikationsfiguren wirkten wie Bardot oder Dean, strahlten jedoch konfliktträchtige Wirkungen in so diverse Bereiche wie Mode und Moral aus. Denn während der 1950er-Jahre war das „Fenster in die Welt“ vorwiegend nicht das Fernsehen, für das hier die entsprechende Kapitelüberschrift gewählt wurde (vgl. I, S. 91-102), sondern das Kino, in dem fortwährend die „liberalen“ Strickmuster importierter Filme mit den antiquierten Orientierungen deutscher Produkte kollidierten.

Eine durchgängigere Strukturierung der Beiträge entlang derartiger „Konfrontationslinien“10 hätte einerseits die „Ambivalenzen und Widersprüche“ der Periode,11 andererseits das Ausmaß des stattfindenden kulturellen Wandels noch stärker ins Bewusstsein gerückt. („Keine Experimente!“ lautete das mitnichten nur politisch gemeinte Wahlkampfmotto der CDU, das 1957 bei der älteren Generation Zugkraft besaß. „Mehr Demokratie wagen“, proklamierte Willy Brandt zwölf Jahre später in seiner Regierungserklärung – und fand damit Resonanz in einer neu sich orientierenden Gesellschaft.) Der erhofften „didaktischen Aneignung“ (Faulstich, I, S. 8) wäre überdies die Beifügung von Namens- und Sachregistern sehr zugute gekommen, die raschere Orientierung ermöglicht hätte.

Dessen ungeachtet vermitteln die beiden Bände in der Tat „Kernwissen“ (Faulstich, II, S. 8). Ihre Beiträge fügen sich zusammen zum differenzierten, facettenreichen Gesamtbild einer Periode. Deutlich wird, dass die „Inkubationszeit“12 des Protests der 1960er bereits während der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre einsetzte (vgl. Faulstich, I, S. 281ff.; Hickethier, II, S. 15ff.) – in Gang gebracht durch widerspenstige Unangepasstheit, durch „zersetzende“ Sinnlichkeit, wie James Dean, Elvis Presley oder Brigitte Bardot sie demonstrierten; aber auch durch die Wirkungen, welche die Kampf-dem-Atomtod-Kampagne, das „Tagebuch der Anne Frank“, der Alain Resnais-Film „Nacht und Nebel“ auf nicht wenige Heranwachsende ausübten. „Eigentlich“, so Christian Semler, einer der SDS-Hauptakteure während der 68er Studentenrevolte, „eigentlich bin ich ein 58er.“13

Anmerkungen:
1 Schildt, Axel; Sywottek, Arnold (Hgg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Herbert, Ulrich (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002.
2 Herbert (wie Anm. 1), S. 14.
3 Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996.
4 Ebd., S. 405, 406.
5 Schönhoven, Klaus, Aufbruch in die sozialliberale Ära, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 123-145, hier S. 127.
6 Herbert (wie Anm. 1), S. 41.
7 Vgl. bereits Schildt; Sywottek (wie Anm. 1), S. 38; und neuerdings Herbert (wie Anm. 1), S. 43.
8 Eisfeld, Rainer, Als Teenager träumten. Die magischen 50er Jahre, Baden-Baden 1999, S. 10, 11.
9 Marwick, Arthur, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, Oxford 1998, S. 17ff., 24f.
10 Herbert (wie Anm. 1), S. 29.
11 Kleßmann, Christoph, Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 476-494, hier S. 485.
12 Bude, Heinz, Das Altern einer Generation, Frankfurt am Main 1997, S. 55.
13 Vgl. Cohn-Bendit, Daniel (Hg.), Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt am Main 1987, S. 108.

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