J. Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte

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Titel
Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Reulecke, Jürgen; Müller-Luckner, Elisabeth
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 58
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 54,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Generationen sind in aller Munde. Auf dem Büchermarkt und im Feuilleton, von den elektronischen Medien ganz zu schweigen, springen uns immer neue modische Generationsetiketten und -einfälle an. Marc Szydlik hat unlängst einmal eine versucht, eine "Generationenstandsmeldung" abzugeben und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit über 100 Bezeichnungen zusammengetragen. 1 Ist dieser Boom der Generationenrhetorik eine Modeerscheinung? Das ist er zweifellos, schnelllebige und flüchtige "Marken" zeugen davon. Doch zugleich verbirgt sich dahinter ein tiefgehendes Interesse auf der Suche nach eigenen und kollektiven Identitäten. Haben wir es womöglich bei "Generation" auch mit einem jener wissenschaftsförmigen "Plastikwörter" 2zu tun, deren Erfolg sich darin begründet, dass sie nicht definiert werden können?

Die Geschichtswissenschaft hat sich lange schwer getan, mit dem Generationenbegriff zu arbeiten, sie war bestrebt, Subjektivität aus dem Schreiben der Geschichte herauszuhalten und hat die Generationen der Soziologie und Pädagogik überlassen. Aber in den letzten Jahren zeichnet sich die "Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts" ab. 3 Es geht auch mit diesem Sammelband darum, den "Generationenansatz als anregendes Konzept neben anderen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Zugriffsweisen" zu etablieren (S. XV). Dabei wird zugleich deutlich, dass neue Erkenntnisse nicht allein aus den einschlägigen Impulsen der neueren Kulturgeschichte gewonnen werden können, sondern es der interdisziplinären Zusammenarbeit und Anregung bedarf. Dies demonstriert der Sammelband auf beeindruckende Weise. Er ging aus einem Kolloquium gleichen Namens hervor, das vom 18. bis 21. Juli 2001 im Historischen Kolleg in München stattfand. Es ist wohl dem langen Herstellungsdatum geschuldet, dass einige der Beiträge, in abgewandelter Form versteht sich, inzwischen schon anderweitig erschienen sind.

In seiner Einführung "Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts - im 'Generationencontainer'?" geht Jürgen Reulecke zunächst dem bisher eher ungebräuchlichen Begriff der Generationalität nach. Generationalität zielt nach seiner Definition "nicht auf eine (rückblickende oder aktuelle) mehr oder weniger idealtypische Konstruktion von quasi 'objektiv' fassbaren Generationenstrukturen ganzer Kohorten, sondern auf eine Annäherung an die subjektive Selbst- und Fremdverortung von Menschen in ihrer Zeit und deren damit verbundenen Sinnstiftungen - dies mit Blick auf die von ihnen erlebte Geschichte und die Kontexte, die sie umgeben, die sie wahrnehmen und in denen sie ihre Erfahrungen machen." (S. VIII) Generation und Generationalität versteht er zunächst immer als subjektive Deutungskonstrukte, die allerdings erhebliche Wirkungskraft entfalten können. Ob sich freilich Generationalität als Basisbegriff durchzusetzen vermag, oder eher der von Reinhard Koselleck in die Debatte eingebrachte und aus er Entwicklungspsychologie übernommene Begriff der Generativität 4, muss die weitere theoretische Fundierung des Generationenkonzepts ergeben. Im Verlaufe des Kolloquiums spielte der Begriff offenbar keine Rolle mehr. Jedenfalls wurde er von den Teilnehmern nicht explizit aufgegriffen. Dagegen war der Bezug auf Karl Mannheims "Problem der Generationen" von 1928 allgegenwärtig. Die Teilnehmer übrigens waren nicht nur wegen ihrer Sachkompetenz ausgewählt, sondern auch im Hinblick auf ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Altersgruppen eingeladen worden. Die Einbeziehung eigener Subjektivität in die Generationendebatte war darum gewünscht.

In einem ersten Themenblock: "Annäherungen an das Thema 'Generationalität'" sind nach einem Einführungsbeitrag zum Begriff der Identität vier unterschiedliche Konzepte und Umgangsweisen mit der Problematik enthalten: Lutz Niethammer verneinte einleitend die Frage "Sind Generationen identisch ?", machte einen lesenswerten Versuch zur Verständigung über die verwendeten Begriffe: Identifikation, Identität und Generation, deckte Schwächen des Generationenbegriffs auf und ließ auch die Frage offen, ob die Ära paradigmatischer Generationen mit dem kurzen 20. Jahrhundert zu Ende ging. Die Anregungen des Historikers griffen Vertreter anderer Disziplinen auf: Der Psychologe Peter Schulz-Hageleit sprach "Zur Problematik des 'Durcharbeitens' lebensgeschichtlicher Erfahrungen. Der Jugend- und Kindheitssoziologe Jürgen Zinnecker entwickelte "Überlegungen zu Karl Mannheims kanonischem Text". Der Makrosoziologe Bernhard Giesen dachte über "Generation und Trauma" nach und der Wirtschaftswissenschaftler Gerd Hardach beschäftigte sich mit dem "Generationenvertrag im 20. Jahrhundert".

Ein zweiter Komplex war der "Generationenfolge in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhundert" gewidmet. Hier nun kamen die Historiker zu Wort. Ulrich Herbert stellte "Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert" die Kriegsjugendgeneration des Ersten, die Flakhelfergeneration des Zweiten Weltkriegs und die Generation der 68er vor. Hans Mommsen analysierte und bewertete die Bedeutung des Generationenkonflikts für die politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Bernd A. Rusinek stellte unter dem Titel "Krieg als Sehnsucht" den militärischen Stil und die "junge Generation" in der Weimarer Republik dar. Heinz Bude zeigte die "50er-Jahre im Spiegel der Flakhelfer- und der 68er-Generation". Ulrich Hermann verfolgte in seinen Beitrag "'ungenau in dieser Welt' - kein Krawall, kein Protest" den unaufhaltsamen Aufstieg um 1940 geborener in einer "Generationen"-Lücke. Bernd Lindner entwickelte Kriterien für ein Modell der Jugendgenerationen der DDR im Dreischritt von "Bau auf, Mach mit, Hau ab!" (S. 188). Dorothee Wierling stellte sich der Frage "Wie (er)findet man eine Generation?" am Beispiel des von ihr beschriebenen Jahrgangs 1949 in der DDR und Axel Schildt machte uns mit der Schülerbewegung der späten 60er-Jahre in der Bundesrepublik bekannt als dem "Nachwuchs für die Rebellion".

Den dritten Themenblock: "Exemplarische Rekonstruktionen: Befragung zweier Generationseinheiten aus der 'Jahrhundertwendegeneration' (geb. 1900 bis ca. 1912) bilden zwei empirische Studien: Thomas A. Kohut: "History, Loss, and the Generation of 1914: The Case of the 'Freideutsche Kreis'" und Ursula A. L. Becher: "Zwischen Autonomie und Anpassung - Frauen, Jahrgang 1900/1910 - eine Generation?".

Im Zusammenspiel von Geschichte, Bildungs- und Sozialisationsforschung, Soziologie, Psychohistorie und Wirtschaftsgeschichte ist ein äußerst anregender, wahrhaft interdisziplinärer Band entstanden. Eine wirkliche Fundgrube für all jene, die sich mit dem "Problem der Generationen" herumschlagen, befördernd die Diskussion und vertiefend die Einsichten. Man kann an ihm ebenso die Erkenntnisentwicklung der Fachleute zum Problem der Generationen studieren. Von "Plastikwörtern" keine Spur, aber natürlich von unterschiedlichen und interessanten Angeboten. Bei so viel Kompetenz bleibt es nicht aus, dass auch die Stärken und Schwächen des Generationenkonzepts zur Sprache kommen. Jürgen Reulecke u.a. Teilnehmer konstatieren die Defizite der bisherigen Generationenforschung. Reulecke benennt drei, ich würde sie auf fünf erweitern: Generationen sind zumeist nur auf Jugend und Jugendgenerationen bezogen, d.h. auf die politische und kulturelle Sozialisation im Jugendalter. Der Generationsbegriff bleibt in der Regel männlich dominiert, die Spezifik der Geschlechter kommt kaum zum Tragen. Generation ist in vieler Hinsicht elitär, d.h. Generationen werden zumeist durch Minderheiten (Generationseinheiten) bestimmt. Der Generationsbegriff wird oft undialektisch gebraucht, polare Einheiten, Generationenverhältnisse, Schicht und Milieu spielen selten eine Rolle. Und insbesondere die modischen Generationenetikettierungen nach Subkulturen oder Technikgenerationen und die mediale Generationenrhetorik sind in der Regel unhistorisch.

Dagegen hat der Sammelband die unübersehbaren Vorteile des Generationenansatzes überzeugend demonstriert. Mit Ute Daniel und Jürgen Reulecke lassen sich die Stärken der Generationengeschichte folgendermaßen zusammenfassen:
• Mit dem Generationenbegriff, der ja ein "Relationsbegriff" ist, können Verbindungen zwischen ansonsten als getrennt erscheinenden Ebenen wie der politischen Herrschaft, der sozialen Struktur und den biografischen Erfahrungen hergestellt und disziplinäre Grenzen überschritten werden.
• Auch für die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erklärungsansätzen der zeitgeschichtlichen Forschung kann deren Rückführung auf die Zusammenhänge und den Wechsel bzw. den Konflikt der Generationen hilfreich sein.
• Die Generationensemantik zwingt uns, die auch für die Geschichte übliche dichotomische Trennung von "objektiv - subjektiv" aufzuheben, denn die Erfahrungstatsachen der Generationen sind gleichermaßen "objektiv" und "subjektiv".
• "Zeitlichkeit und historischer Wandel, zwei Grundkategorien geschichtlichen Denkens, können von generationsgeschichtlichen Ansätzen konkretisiert und kontextualisiert" und mit neuen Blickweisen auf diese Phänomene versehen werden.
• Die Fragen nach der "Identität", dem "Gedächtnis" oder der "Erinnerung" lassen sich bezogen auf die Generationen konkreter und differenzierter untersuchen und damit wohl auch von Klischees und Pauschalisierungen befreien.
• Der Beziehungsreichtum des Generationenbegriffs hat weit über die thematische Eingrenzung hinaus Bedeutung, auch dann, wenn es um Grundfragen historischen Denkens geht. 5

Anmerkungen:
1 Vgl. Szydlik, Marc, Lebenslange Solidarität? Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern, Opladen 2000, S. 19f.
2 Vgl. Pörksen, Uwe, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1992.
3 Schulz, Andreas; Grebner, Gundula (Hgg.), Generationswechsel und historischer Wandel, München 2003, S. 1.
4 Vgl. Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2000, S.107f.; Kotre, John, Lebenslauf und Lebenskunst. Über den Umgang mit der eigenen Biographie, München 2001, S. 22-28.
5 Daniel, Ute, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 342-344.

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