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Titel
Konflikt, Ehre, Ordnung. Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit (ca. 1350 bis 1600). Mit einem illustrierten Katalog der Überlieferung


Autor(en)
Lentz, Matthias
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S., 60 s/w & 24 f. Abb.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Jaser, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Matthias Lentz widmet sich in seiner mit dem Dissertationspreis der Westfälisch-Lippischen Universitätsgesellschaft des Jahres 2003 ausgezeichneten Untersuchung einer Quellengattung, die von einem hohen interdisziplinären Potential gekennzeichnet ist: den nach dem aktuellen Kenntnisstand von circa 1350 bis 1591 innerhalb des rechtlich-institutionellen Rahmens des Deutschen Reiches belegbaren Schmähbriefen und Schandbildern, die meist enttäuschte Gläubiger in Geldstreitigkeiten zum Einsatz brachten, um „säumige Schuldner und wortbrüchige Bürgen außergerichtlich und außerprozessual zur Vertragstreue anzuhalten“ (S. 161).

Die Geschichtswissenschaft schenkte diesen beiden Formen der Ehrenschelte nur sehr zögerlich und wenig umfassend Aufmerksamkeit. Dagegen dominierten auf diesem Forschungsfeld lange rechtswissenschaftliche Arbeiten, die Schmähbriefe und Schandbilder aus der Perspektive des modernen Privatrechts und allein mittels juristisch-dogmatischer Kategorien interpretierten. Eine multiperspektivische Sicht auf das Thema, eine „wirklichkeitsnahe Interpretation im Kontext der sozialen und rechtlichen Entstehungsbedingungen“ (S. 23) blieb bis zur vorliegenden Arbeit, die die ehrverletzenden Text- und Bildmedien „in ein übergeordnetes System aus Konflikt, Ehre und Ordnung einzufügen“ (S. 27) versucht, ein Desiderat.

In einer knappen theoretischen Diskussion dieser drei „Leitbegriffe“ (S. 27) gelingt es dem Verfasser auf wenigen Seiten, deren analytische Kapazität für eine kontextbezogene Erklärung des Phänomens zu verdeutlichen. Das rechtsethnologisch geprägte Begriffspaar ‚Konflikt und Ordnung’ distanziert die anachronistische Kategorisierungstendenz der Rechtsgeschichte alter Prägung und fokussiert den Blick stattdessen auf die Regeln sozialen Zusammenlebens, auf die „Strategien der Konfliktbewältigung und die besonderen Mittel zur Ahndung abweichenden Verhaltens“ (S. 30) sowie auf das Basisprinzip der Reziprozität. Im Konfliktfall reguliert sich eine solchermaßen beschaffene Gesellschaft quasi von selbst, indem asoziales Verhalten durch Strategien der entwürdigenden Klage, des Beschämens, Bloßstellens und Ausscheltens im öffentlichen Raum verhandelt und im Endeffekt mit sozialer Exklusion sanktioniert wird. Zwischen ‚Konflikt’ und ‚Ordnung’ steht ‚Ehre’ als dritter Leitbegriff, der sich im Untersuchungszeitraum in das Gegen- und Miteinander unterschiedlicher Ehrkonzepte heterogenisierte. Dabei kann man ‚Ehre’ als Binärcode beschreiben, der im Spannungsfeld zwischen Ehre und Entehrung bzw. Schande das Verhalten eines Einzelnen jeweils positiv oder negativ evaluiert und soziale Kontrolle ermöglicht. Insgesamt markieren die drei Leitbegriffe ‚Konflikt’, ‚Ehre’, ‚Ordnung’ die phänomenologische Grundsubstanz der Schmähbriefe und Schandbilder: „die Verflechtung von zwischenmenschlichen Konflikten, gesellschaftlicher Kommunikation über die Ehre und der notwendigen Sicherstellung sozialer Ordnung“ (S. 34).

Nach der einleitenden Klärung des Forschungsstandes und des theoretischen Untersuchungskonzepts erörtert Lentz im zweiten Teil die rechtlich-normativen Ausgangspunkte der ehrverletzenden Medien: das Einlager, die Scheltklausel und die gesetzlichen Regelungen der „Ehrenschelte“. Das so genannte Einlager (obstagium) wurde im Mittelalter zur vertragsbestärkenden Absicherung einer Schuldrückzahlung eingesetzt und verpflichtete insbesondere die Bürgen im Falle der Vertragsverletzung seitens des Schuldners zu einem Geisellager in einer Herberge, und zwar so lange, bis die Forderung des Gläubigers erfüllt war. Wenn allerdings die Bürgen nach erfolgter „Einmahnung“ durch den Gläubiger der Verpflichtung zum unangenehmen Einlager nicht nachkamen und dementsprechend einen ehrenrührigen Wortbruch begingen, erfolgte – nach weiteren Appellen und Aufforderungen seitens des Kreditgebers, endlich das versprochene Einlager zu beziehen – ihre „systematischen Ehrloserklärung vor aller Öffentlichkeit“ (S. 42), meistens in Form von Schmähbriefen und Schandbildern. Die Scheltklausel beinhaltete, dass ein Vertragsnehmer, d.h. meist ein Schuldner, im Falle des Wortbruchs die „soziale Infamierung und juristische Degradation“ (S. 45) seiner Person mittels Text- und Bildmedien von sich aus akzeptierte. Nahe liegend wäre es nun, eine enge entwicklungsgeschichtliche Parallelität zwischen vertraglicher Billigung und medial vollzogener Entehrung zu unterstellen. Allerdings zeigt das von Lentz zusammengestellte Quellenmaterial, dass die überlieferten Schmähbriefe und Schandbilder die etwa 20 erhaltenen Scheltklauseln nicht nur zahlenmäßig mehrfach überwiegen, sondern auch in keinem der Fälle einen Bezug zu einer vorhergehenden Billigungserklärung erkennen lassen, so dass sich der Untersuchungsgegenstand kaum in eine juristisch-prozessuale Systematik integrieren lässt. Die gesetzlichen Regelungen der „Ehrenschelte“ wortbrüchiger Schuldner setzten im zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts ein und intensivierten sich im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts. Die Initiativen städtischer bzw. territorialer Gesetzgeber zielten allesamt darauf ab, die private Selbsthilfe in Rechtskonflikten auszuschalten und „Rechtsfindung und Rechtsdurchsetzung in einer Hand zu monopolisieren und in gerichtlich-institutionelle Bahnen zu lenken“ (S. 60), und gipfelten schließlich in der „Reichspoliceyordnung“ Rudolfs II. von 1577, die die Rechtspraxis des Einlagers, der Schmähbriefe/Schandbilder sowie der Scheltklausel für das gesamte Reich untersagte.

Ausgehend von diesen normativen Grundlagen geht Lentz im dritten Teil seiner Untersuchung zur rechtlich-sozialen Praxis der Schmähbriefe und Schandbilder im späten Mittelalter über, die er anhand dreier Fallbeispiele aus dem 15. Jahrhundert entfaltet: Johann von Wied gegen die Stadt Köln (1441), Graf Erwin von Gleichen gegen hessische Ritter und Grafen (1468), Ritter Philipp von Urff gegen Fritzlarer Patrizier (1490). Im Fokus der eingehenden Analysen stehen dabei der Konfliktverlauf und Strategien der Kontrahenten, deren intensive Kommunikation mit reichen Quellenbelegen vorgestellt und in den rechtlichen und historischen Kontext eingebettet wird. Auch wenn die Darstellung an dieser Stelle von gelegentlichen Redundanzen nicht verschont bleibt, gelingt es dem Verfasser ohne Abstriche, Schmähbriefe/Schandbilder in ihrer jeweiligen Anwendung als „festen Bestandteil des rechtlich-sozialen Mit- und Gegeneinanders“ (S. 126) im Rahmen der sich ausbreitenden frühkapitalistischen Kreditwirtschaft zu situieren.

Vom spätmittelalterlichen Rechtsalltag wird der Blick im vierten Teil wieder zurück auf die rechtlich-normative Dimension des Phänomens gelenkt, und zwar auf die gerichtliche Praxis und die Frage, „wie Schmähbriefe und Schandbilder von Anklägern, Verteidigern und Richtern tatsächlich gedeutet und beurteilt wurden“ (S. 126). Anhand eines exemplarischen Reichskammergerichtsprozesses um das Schandbild des lippischen Landdrostes Adolf Schwartz (1570-1585) erhellt sich das „Spannungsfeld aus überkommenen Verhaltensmustern auf der einen und neuartigen rechtlich-normativen Erlassen auf der anderen Seite“ (S. 147), in dem sich die juristische Argumentation der Prozessparteien und auch ganz allgemein die Perzeption der ehrverletzenden Medien im Laufe des 16. Jahrhunderts bewegte.

Im abschließenden fünften Teil der Untersuchung diskutiert Lentz nochmals die drei Leitbegriffe ‚Konflikt’, ‚Ehre’, ‚Ordnung’ im Kontext des Forschungsgegenstandes, der aber darüber hinaus auch noch andere „Grundfragen vormoderner Rechtskultur“ (S. 148) aufwirft. Dabei ist zunächst einmal der Faktor der Öffentlichkeit zu nennen. Die Akteure suchten durch das Anschlagen ehrverletzender Medien, durch das „Offenbarmachen“ des angeblichen Wortbruchs eine möglichst große Öffentlichkeit zu generieren, um die so genannten „biderben liute“ (Biedermänner) als Repräsentanten der Rechtschaffenheit „von dem (vermeintlich) eingetretenen Unrecht in Kenntnis zu setzen und von der eigenen Sichtweise des Konflikts zu überzeugen sowie zum anderen an die Allgemeinheit zu appellieren“ (S. 154) – ein für die spätmittelalterliche Rechtskultur essentielles Verhaltensmuster. Zweitens verweist der in vielen Schreiben enthaltene Appell an einen ungenannten Vermittler, Recht und Ordnung wiederherzustellen, auf die „hohe Bedeutung der Schlichtung für die Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung der Ordnung“, die in den letzten Jahren nicht nur in der Mediävistik akzentuiert wurde. Drittens ist die komplementäre Medialisierung der Ehrverletzung in einem „Schrift-Bild-Gewebe“ (S. 157) anzusprechen, die als weiterer Beleg für den nonverbalen, symbolischen Charakter mittelalterlicher Kommunikation gelten kann. In den Schandgemälden wird der entsprechende Sachverhalt sichtbar gemacht und der subjektiv wahrgenommene Normbruch mit verschiedenen wiederkehrenden ikonografischen Mustern – Pranger, Galgen, Rad als Embleme der realen Gerichtsbarkeit, Dreck, Kot, beschmutzende und diffamierende Handlungen – drastisch präsentiert. Implizit werden mit der Abbildung des Negativen bzw. der negativen Konsequenzen abweichendes Verhaltens und den visuellen Verkehrungsstrategien die ordnungsstiftenden Normen des sozialen Zusammenlebens thematisiert und dementsprechend ein „Orientierungsangebot“ (S. 159) kommuniziert.

Ein illustrierter Katalog im Anhang mit 200 Einträgen erlaubt erstmals einen systematischen Zugriff auf alle erhaltenen und in der Literatur genannten Schmähbriefe und Schandbilder zwischen etwa 1350 und 1600. Dabei erfasst ein transparentes Gliederungsschema den historischen Kontext, den Text- und Bildbefund, die Archivprovenienzen, die Editionsnachweise und die für das jeweilige Dokument relevante Sekundärliteratur, jeweils angereichert durch zum Teil farbige Reproduktionen der Schandgemälde. Die vorliegende Sammlung weist eine große Zahl von bisher unveröffentlichten Neuentdeckungen auf, die der intensiven Archivarbeit des Verfassers zu verdanken sind. Ein Orts- und Personenregister sowie ein Register der Bildinhalte ermöglichen eine schnelle Erschließung des textuellen und visuellen Gehalts der Schmähbriefe und Schandbilder.

Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Lentz den Querverbindungen seines Untersuchungsgegenstands zu den Praktiken der geistlichen Gerichtsbarkeit, die gerade zur Kreditsicherung im 14. und 15. Jahrhundert stark frequentiert wurde, zu wenig Beachtung schenkt. Viele Schmähbriefe fordern ausdrücklich die soziale Ächtung des renitenten Schuldners, d.h. ein Verkehrsverbot, das bis in einzelne Formulierungen hinein an die Exkommunikation erinnert – und tatsächlich galt der Kirchenbann im Falle des Schuldnerverzugs als angemessene Strafe und kam auch in zahllosen Schuldverträgen als Konventionalstrafe zum Einsatz. Ebenso kann man die so genannte Konfessatformel, mit der der Schuldner sich im Falle des Vertragsbruchs quasi freiwillig und unter Verzicht auf ein ordentliches Verfahren der angedrohten Exkommunikation unterwirft, als kirchenrechtliches Pendant zur Scheltklausel interpretieren.1

Insgesamt kann man aber nur betonen, dass es Matthias Lentz mit der vorliegenden Untersuchung gelungen ist, das bisher von der Geschichtswissenschaft eher vernachlässigte Quellencorpus der Schmähbriefe und Schandbriefe mit den drei Leitbegriffen ‚Konflikt’, ‚Ehre’, ‚Ordnung’ in überzeugender Weise neu zu interpretieren. Der Katalog der verfügbaren Dokumente wird für die zukünftige historische, kunstgeschichtliche und rechtsethnologische Forschung auf diesem Gebiet eine unverzichtbare Grundlage sein.

Anmerkung:
1 Elsener, Ferdinand, Die Exkommunikation als prozessuales Vollstreckungsmittel. Zur Geschichte des Kirchenbanns im Spätmittelalter. In: Ders., Studien zur Rezeption des gelehrten Rechts. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Ebel, Friedrich; Willoweit, Dietmar, Sigmaringen 1989, S. 152-164.

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