Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004

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Titel
Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004.


Herausgeber
Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Erschienen
Berlin 2004: Aufbau Verlag
Anzahl Seiten
462 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mario Keßler, Yeshiva University New York/Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Das seit 1993 erscheinende Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung hat den Träger gewechselt: Bislang am Arbeitsbereich DDR-Geschichte der Universität Mannheim beheimatet, erscheint das Periodikum jetzt unter Schirmherrschaft der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der früher selbstständig publizierte International Newsletter of Communist Studies ist nunmehr als Anhang dem Jahrbuch beigegeben, was den Überblick zu laufenden Forschungsvorhaben erleichtert. Für die ausgeschiedenen Mitherausgeber Günter Braun und Egbert Jahn sind Manfred Wilke und Erhart Neubert zum Herausgeberkollegium gestoßen, dem außerdem Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Jan Foitzik, Ulrich Mählert und der Inspirator des Jahrbuchs, Hermann Weber, angehören. Der Inhalt des Jahrbuchs liegt nach wie vor in der Verantwortung der Herausgeber; dazu später mehr.

Die Schwerpunkte des aktuellen Jahrbuchs liegen in der Geschichte der Komintern, der KPD, SED und in der Person Lenins und Trotzkis. Insgesamt darf gesagt werden, dass die Frühgeschichte des deutschen und internationalen Kommunismus allmählich aus dem Bereich erhitzter, oft persönlich gefärbter Kontroversen in den einer kritischen Historisierung tritt. Ohne zu beschönigen, was nicht beschönigt werden darf, wird das Widersprüchliche in Person und Politik Lenins, nach Zeiten der Glorifizierung und dann Verdammung, in Beiträgen von Samson Madievski und Jean-Jacques Marie klar herausgearbeitet. Verena Moritz und Hannes Leidinger bieten neue Einzelheiten über Wien als Standort von Komintern-Organisationen. Bernhard H. Bayerlein listet eine Vielzahl von Abteilungen und Unterabteilungen des Komintern-Apparates auf, deren Bestände und Teilbestände im Moskauer Archiv liegen. Cosroe Chaqueri offenbart – und dies ist besonders verdienstvoll – biografische Einzelheiten über Taqi Arani (1902-1941), einen der ersten iranischen Marxisten. Der in Berlin promovierte Chemiker ging in einem Teheraner Gefängnis zugrunde.

Über Kommunisten, die von Kommunisten verfolgt und umgebracht wurden, informieren Alexander Watlin, Wolfgang Leonhard und Hermann Weber; letzterer über eine Publikation, die die Ermordung des trotzkistischen Verlegers Wolfgang Salus durch sowjetische und ostdeutsche Geheimdienstleute belegt. Nicht weniger bedrückend liest sich der überaus informative Aufsatz von Matthias Uhl über terroristische Repressalien innerhalb der sowjetischen Militäraufklärung 1937/38. Vergleichsweise geregelt und jedenfalls unblutig lief die Entmachtung Chruschtschows 1964 ab, die deutsche LeserInnen erstmals anhand der hier abgedruckten Originaldokumente verfolgen können.

Die Beiträge zur Geschichte des Kommunismus in Deutschland reichen von drei Literaturberichten (Iring Fetscher zum „Deutschen Oktober“ 1923, Eckhard Jesse über DDR-Universitäten und Wolfgang Schullers Präsentation der Hermann-Weber-Festschrift) über Totalitarismus- und Sozialfaschismus-Thesen in der Arbeiterbewegung der späten Weimarer Republik (Bernd Faulenbach), Rechts- und Verfassungsfragen in der SBZ (Heike Amos und Christoph Thonfeld), kommunistischen Überläufern zu den Nationalsozialisten ab 1933 (Wilhelm Mensing) bis zur KPD als Kader- und Milieupartei im westlichen Nachkriegsdeutschland (Till Kössler). Ein bislang wenig erforschtes Thema behandelt Patrice G. Poutrus mit einem Beitrag zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR. Wilfriede Otto antwortet kenntnis- und materialreich auf einen Aufsatz Werner Müllers, in dem sie die Diskussionen über das umstrittene Erbe des deutschen Kommunismus innerhalb der PDS analysiert.

Manfred Wilke und Erhard Neubert steuern je einen Beitrag zum Jahrbuch bei. Ihre Aufsätze seien etwas genauer beleuchtet, da es sich bei ihren Verfassern um die neubestallten Mitherausgeber des Jahrbuchs handelt.

In seinen „Anmerkungen zur ungeschriebenen Geschichte der SED“ wiederholt Wilke seine bekannte und nicht unumstrittene Forderung nach einer Gesamtgeschichte der SED aus totalitarismustheoretischer Sicht. Seiner Auffassung, die SED und ihre Politik stünden „seit 1990 fast nie im Mittelpunkt des historischen Interesses“ (S. 321), ist eine Reihe von Studien entgegenzustellen, die allerdings keineswegs durchgängig den von Wilke geforderten Diktaturvergleich zur methodischen Grundlage der Analyse machen. Ausdrücklich gegen Konrad H. Jarausch gewandt, erteilt Wilke „dem Bestreben der Historiker, eine differenzierte Geschichte der DDR neben die der Bundesrepublik zu setzen“, eine Absage (S. 331f.). „Aber vor dem Terror stand der Glaube an das humanistische Endziel der kommunistischen Gesellschaft“, räumt Wilke mit Blick auf „Berthold Brecht und Anna Sehgers“ (so die Schreibweise im Text, S. 324) ein.

Ist Manfred Wilkes Darstellung ein Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion, so scheint dem Rezensenten Erhart Neuberts Text über „Die Revolution 1989 und die schwierige Erinnerung 15 Jahre danach“ eher von Emotionen geprägt. Das verwundert, ist doch Neubert 1997 mit einer umfangreichen und überaus soliden Geschichte der DDR-Opposition hervorgetreten. „Es fehlt den Deutschen seit 1989 an einer historisch-politisch begründeten Identität, die aufgerufen werden kann, wenn es gilt, politische und ökonomische Schwierigkeiten zu überwinden“, schreibt er und mahnt, dass „eine Geschichtspolitik, die nicht in einem Wildwuchs von Mythen versinken will, die nicht Heroen und Monster, sondern die Menschen im Blick hat, [...] ein wissenschaftliches Fundament haben“ müsse (S. 313f.). Nicht westliche Erklärungen wie die Jürgen Habermas’ von der „nachholenden Revolution“, sondern die Erfahrungen der 1989 aufbegehrenden Ostdeutschen seien ins Zentrum der Erinnerung zu rücken.

Dies hinge, so Neubert, mit einem weiteren mentalen innerdeutschen Problem zusammen, dem „Erlebnisneid der politischen Klasse des Westens gegenüber all denen im Osten, die sich 1989 auf den Straßen die Kehlen heiser schrien oder auch noch mehr für die Freiheit taten. Was können die westdeutschen Politiker vorweisen? Sie haben sich über die Jugendorganisationen hochgedient. Sie haben Geld für Plakate gesammelt und ihre Parteifreunde ausgetrickst. Andere Karrieristen mit ‚revolutionären’ Erfahrungen verdanken einer Politpubertät, dem nachträglich aufgeputzten 1968, ihren Aufstieg. Damit ist nun wirklich kein Staat zu machen“ (S. 319). Die ostmitteleuropäische Dissidenz sei hingegen aus dem „Verrat“ (auch bei Neubert in Anführungszeichen) von Jalta hervorgegangen. Das „Diktatabkommen“ (im Text ohne Anführungszeichen) von Jalta durch Roosevelt, Churchill und Stalin sei „weder demokratisch legitimiert noch von irgendeinem der betroffenen Völker gebilligt worden“, so Neubert (S. 318).

Muss daran erinnert werden, dass das Abkommen von Jalta die „Neue Ordnung“ Hitlers mitsamt den Gaskammern von Auschwitz ablöste? Neubert ist sich dieses Zusammenhangs auch bewusst, denn er betont, die Erinnerung an 1989 werde „davon“, nämlich von der Erinnerung an Auschwitz, „erdrückt“. Er kritisiert dafür ausdrücklich „westdeutsche Intellektuelle“, die sich der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Erbe des Kommunismus nicht genügend bewusst seien (S. 320).

Es wäre sehr schade, sollten statt engagierter wissenschaftlicher Debatte derart ressentimentgeladene Positionen das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung künftig prägen.

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