Titel
Halle wird Großstadt. Stadtplanung, Großstadtleben und Raumerfahrung in der Stadt Halle a. d. Saale 1870-1914


Autor(en)
Hauser, Andrea
Reihe
Beiträge zur Volkskunde für Sachsen-Anhalt
Erschienen
Halle a. d. Saale 2006: Fliegenkopfverlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Sigrid Jacobeit, Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin

Als Stellungnahme zu den Debatten über den Gegenstand der Geschichtswissenschaft hat Hans Medick die Frage und Antwort formuliert: „Entlegene Geschichte? Lokalgeschichte als mikro-historisch begründete Allgemeine Geschichte“.1 Diese disziplinenübergreifende Erkenntnis könnte auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen. Hier ist der lokalhistorische Entwicklungsprozess einer Stadt, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Provinzstadt war, zu einer mit Industrialisierung und rasanter Urbanisierung entstehenden Metropole ein Beispiel für die „Allgemeine Geschichte“ der Großstadtwerdung im Deutschen Kaiserreich mit seinen vielfältigen sozio-ökonomischen und kulturellen Erscheinungen. Um dieses Problemfeld für Halle/Saale zu erschließen und darzustellen, hat die Verfasserin alle ihr zur Verfügung stehenden Quellen, einschließlich der zeitgenössischen Lokalpresse, in großer Zahl ausgewertet und sie zugleich auf die Stadttopographie bis zur Analyse minutiöser Details des sich ständig verändernden Stadtbildes angewandt. Als ein persönliches Ergebnis entstand für Andrea Hauser eine präzise Lokalkenntnis, die zahlreiche Hausnummern einschließt.

Der theoretisch-methodische Stellenwert des Bandes für eine Geschichte der deutschen Großstadt wird durch die kulturwissenschaftliche Konzeption bestimmt, die sich in sechs bzw. sieben Kapiteln manifestiert:
Das ist zunächst ein eher allgemeiner Überblick zur halleschen Großstadtentwicklung, die wie auch andernorts durch Industrialisierung und Urbanisierung bedingt war. Andrea Hauser zeigt, wie das Bevölkerungswachstum vor Ort zur „Sprengung räumlicher Grenzen“ führte, woraus sich eine neue „soziale Topographie“ ergab. Die damit verbundenen Erscheinungen stellten die Stadtobrigkeit, die städtische Gesellschaft und auch das Management der sich zunächst planlos ausbreitenden Industrie vor Probleme, die als „infrastrukturelle Aufgaben“ zu bündeln waren (I. „Halle verändert“ – Heute und damals, S. 19-26).

Sehr ausführlich behandelt Andrea Hauser dann die Gewerbe- und Industrieausstellung des Jahres 1881 als einen ersten Kulminationspunkt der „Moderne“ in Halle. Sie gehörte zu den ersten und relevantesten Expositionen dieser Art im kaiserlichen Deutschland. Das Ausstellungsereignis, schon damals als „Event“ wahrgenommen, verzeichnete bereits einen hohen „PR“-Effekt für Stadt und Stadtbevölkerung. Namentlich zeigten sich hier Formen neuer Lebensweisen im sozialen Kontext der sich entwickelnden Großstadt. Die Verfasserin verweist auf die diese Entwicklung bestimmenden Klassen, aber auch auf geschlechtliche Differenzierungen, wie sie beispielsweise in der Diskussion der „Frauenfrage“ deutlich wurden (S. 46-52). In mehrfacher Hinsicht erwies sich die Gewerbe- und Industrieausstellung von 1881 als ein „Seismograph der Urbanisierung“ (S. 63f.). Sie vermittelte zugleich Ansprüche auf eine zunehmend planmäßigere „Raumgestaltung“ bei der Weiterentwicklung der Stadt (II. Schaufenster der Moderne: Die Gewerbe- und Industrieausstellung in Halle an der Saale 1881, S. 27-66). Hier hebt die Verfasserin das Wirken der beiden verantwortlichen Stadtbauräte Karl Otto Lohausen (1838-1921) und Ewald Grenzmer (1856-1932) hervor. Sie kümmerten sich nicht nur um die Sanierung alter Stadtviertel und die Anlage von Flanierpromenaden, sondern auch um notwendige hygienische Anforderungen durch Kanalisation, Trinkwasserzuleitungen, öffentliche Bademöglichkeiten usw. Dennoch blieb aber das Arbeiterviertel in der Südstadt ein „prekärer Stadtteil“, der im Gegensatz zum „Paulsviertel“ im Nordosten stand. Diesem bürgerlichen Viertel galt dann auch ein Besuch der Kaiserin im Jahr 1903, verbunden mit der Einweihung einer neuen Kirche, der „Paulskirche“. So sind in Halle um 1900 einerseits „Raumbilder der modernen Stadt“ (S. 126ff.) entstanden, andererseits verschärften sich die sozialen Gegensätze (III. Raumgestaltung, Stadtplanung und Stadtentwicklung, S. 67-128).

Letzteres wird besonders in den Ausführungen zur „Raumbeherrschung“ deutlich, wo zuerst die Wohnungskalamität in den Arbeiterquartieren behandelt wird. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Verhältnisse kaum von denen anderer Industrie-Großstädte, wie sie sich im Schlafgängerwesen, in Obdachlosenasylen sowie in der Prostitution zeigten. Wichtiger dürfte sein, dass die Hallenser Sozialdemokraten 1900 eine Wohnungsenquete mittels Fragebogen und Befragung von Arbeitern und Arbeiterfamilien durchgeführt haben, deren Ergebnisse sich als nützlich erwiesen (S. 141-144). Zu der „modernen Wohnungspolitik“ gehörte es auch, dass sich die bürgerliche Frauenbewegung für eine Verbesserung der Wohnverhältnisse im Milieu der Arbeiter, Minderbemittelten und Arbeitslosen engagierte. Sie erreichte in Halle die offizielle Beschäftigung von „Wohnungsinspektorinnen“, was Andrea Hauser zutreffend mit „‚Weiblichkeit‘ als Konzept der Modernisierung“ (S. 154-165) bezeichnet (IV. Raumbeherrschung: Wohnräume, S. 129-166).

Wenn es dann um „Neue Orte, Neue Grenzen“ als Merkmal der „Raumaneignung“ geht, spielen abermals Frauen eine zentrale Rolle. Sie „erobern den öffentlichen Raum“ vor allem als Konsumentinnen der großen neuen Warenhäuser – den Orten der „Verführung“, die Kathedralen glichen und auch in Halle entstanden. Ein 1910 daselbst veranstalteter Schaufensterwettbewerb war ein über die Saalestadt hinausreichender Erfolg und bestätigte die Wahrnehmung: „Konsum ist weiblich“.

Im krassen Gegensatz dazu stand die „Prostitution“ mit ihren „Ausgrenzungen im Stadtraum“. Die Verfasserin fokussiert hier auf die soziale Seite der in der Prostitution befangenen Frauen, die von Behörden und Polizei in grober Weise schikaniert wurden, ohne dass jene dem Problem selbst in konkreter Absicht entgegen getreten wären. Als einen eher traurigen als ernst zu nehmenden Ausklang apostrophiert Andrea Hauser den Volkskundler Hugo E. Lüdecke, der mit einer Studie über deutsche Bordellgassen auch im Hallenser Milieu entsprechende Feldforschungen betrieben hat und, wie er resümierte, eine „wohl einzig dastehende Sammlung von Bordellfolklore zusammenbringen konnte“, weshalb er es bedauern würde, wenn die Bordelle als folkloristische Fundgruben verschwänden (V. Raumaneignung: Neue Orte, neue Grenzen, S. 167-198).

Mit dem Band liegt eine ethnologisch-historische Untersuchung zur Stadt in der Kaiserzeit vor, die nicht nur für die Hallenser selbst zu empfehlen ist. Sie ist gleichsam konzeptionell wie methodisch-analytisch beispielgebend für ähnlich geplante Urbanisierungsstudien. Die Anschauungslust verringert sich allerdings rasant durch die schlechte Qualität der Abbildungen, die angesichts der gewiss mehrheitlich hervorragenden fotografischen Vorlagen geradezu ärgerlich ist (VI. Raumbilder: Halles ambivalenter Weg zur modernen Großstadt, S. 199-204).

Wenn die Rezensentin ihre Darlegungen mit dem Motto von Hans Medick eingeleitet hat, so möchte sie mit dem grundsätzlichen Fazit von Andrea Hauser schließen, dass die Geschichte der Stadt Halle in der Kaiserzeit „immer auch das Allgemeine des Modernisierungsprozesses“ implizierte.

Anmerkungen:
1 Medick, Hans, Weben und Überleben in Laichingen 1650–1900: Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte. Göttingen 1997, 2. Auflage, Einleitung.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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