N.L. Barile u.a. (Hrsg.): Comparing Two Italies

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Titel
Comparing Two Italies. Civic Tradition, Trade Networks, Family Relationships Between Italy of Communes and the Kingdom of Sicily


Herausgeber
Barile, Nicola Lorenzo; Patrizia Mainoni
Reihe
Mediterranean Nexus 1100–1700 (7)
Erschienen
Turnhout 2019: Brepols Publishers
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 152,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Krumm, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Mit „Two Italies“ ist die Meistererzählung angesprochen, wonach sich die Geschichte Italiens spätestens im 12. Jahrhundert in zwei in sich relativ homogene, im Vergleich miteinander aber höchst unterschiedliche Makroräume aufspaltete: den kommunal geprägten Norden und den von einem zentralistischen Königtum beherrschten Süden. Diese Perspektive ist unmittelbar verbunden mit der „questione meridionale“, der Frage nach der ökonomisch ungleichen Entwicklung Nord- und Süditaliens. Da dieses Problem bis heute virulent ist, wird es anhaltend diskutiert, auch von Mittelalterhistorikern. Der sicherlich bekannteste Beitrag hierzu stammt von David Abulafia, der mit seiner Monographie „The Two Italies“ von 1977 eine Antwort auf die „questione meridionale“ gegeben zu haben schien. Die normannischen und staufischen Könige Siziliens hätten durch umfassende Privilegien für die norditalienischen Seestädte Genua, Venedig und Pisa einen ungleichen Warenaustausch zwischen dem Regno und dem Norden etabliert. Im Süden seien fortan im Wesentlichen Güter (v.a. Getreide) produziert, im Norden gewinnbringend weiterverarbeitet worden.1

Neue Blickwinkel aufzuzeigen, aus denen die "zwei Italien" vom 12. bis zum 15. Jahrhundert betrachtet werden können, ist der Anspruch des von Patrizia Mainoni und Nicola Lorenzo Barile herausgegebenen Bandes „Comparing two Italies“. Einleitend führt Patrizia Mainoni souverän in die Forschungsgeschichte ein und begründet komparatistische Untersuchungen zu den "zwei Italien" als Desiderat (S. 7–26). Solche seien nicht zuletzt deshalb die Ausnahme, weil es sich bei der Forschung zu Süd- und Norditalien faktisch – vielleicht mit Ausnahme der staufischen Zeit – um getrennte Forschungsfelder handelt. In zwei Bereichen (bzw. aus zwei Perspektiven, um im Bild der Autorin zu bleiben) sei eine Auseinandersetzung mit den „zwei Italien“ bereits etabliert: zum einen bei Forschungen zu „civic traditions“ (S. 12–18), womit verschiedene Facetten von Stadtgeschichte gemeint sind, zum anderen bei Arbeiten zu Handel zwischen Nord- und Süditalien (S. 18–25). Mit der Geschichte der Franziskaner sowie „marriage strategies“ benennt Mainoni kurz zwei neue Blickwinkel auf die „zwei Italien“ (S. 25f.).

Entsprechend dieser vier Felder eröffnen zwei Untersuchungen zu „civic traditions“ den Band: Den Anfang macht Gianmarco De Angelis mit einem sehr problemorientierten, weil regionale und zeitliche Differenzen berücksichtigenden Überblick zur Entwicklung des Mehrheitsprinzips bei kollektiven Entscheidungen in norditalienischen Kommunen (v.a. Pisa, Genua, Lucca, Bergamo und Venedig) im 12. und 13. Jahrhundert mit einem Ausblick auf das 14. Jahrhundert anhand von Marsilius’ von Padua Defensor Pacis (S. 27–60). Giovanni Araldi widmet sich der Vorgeschichte der Beneventaner Statuten von 1203 (S. 61–88). In diesen wurde der Kreis derjenigen, welche die päpstliche Enklave im Regno gemeinsam mit einem vom Papst ernannten Rektor regierten, auf ein Gremium von Richtern und Konsuln sowie Vertretern der einzelnen Torbezirke (octonarii) und Geschworene festgelegt. Araldi betont immer wieder eindrücklich die lokale „agency“ in Benevent, deren kommunale Institutionen die Stadt zum Sonderfall nicht nur im Mezzogiorno machten. Im Ergebnis erkennt er ein Kräftegleichgewicht zwischen unterschiedlichen Schichten bzw. Parteien, die sich in der genannten Zusammensetzung des städtischen Magistrats von 1203 niedergeschlagen habe.

Maria Teresa Dolso thematisiert anhand der erst seit Kurzem bekannten, zwischen 1232 und 1239 verfassten Vita brevior des Thomas von Celano sowie dem Thomas von Pavia zugeschriebenen Dialogus de gestis (1244–1247) die frühe Präsenz der Franziskaner in Süditalien sowohl auf dem Festland als auch auf der Insel Sizilien (S. 89–116). Im Ergebnis wird deutlich, dass die Franziskaner innerhalb des Regno bereits in den Anfangsjahren des Ordens sehr viel präsenter waren als bislang angenommen.

Zwei Beiträge sind dem Thema Handel gewidmet: Nicola Lorenzo Barile untersucht auf Grundlage venezianischer Quellen des 12. bis 15. Jahrhunderts den Warenaustausch zwischen Venedig und dem Regno (S. 117–138). Damit nimmt er sich Quellen an, die Abulafia eher randständig behandelt hat. Die von Abulafia vertretene Vorstellung zweier in ökonomischer Hinsicht verschiedener Italien lehnt Barile nicht völlig ab, plädiert aber für eine veränderte Betrachtungsweise und problematisiert die auf den „Meridionalismo“ zurückgehende Sicht, in der ähnliche Phänomene im Norden grundsätzlich positiver gesehen werden als im Süden. Etwa die als rückständig eingestufte Konzentration auf Getreideanbau lasse sich auch im Sinne wirtschaftlicher Rationalität und erhoffter Gewinnmaximierung erklären. Eleni Sakellariou setzt sich anhand des Weinhandels zwischen Rom und Neapel im 15. Jahrhundert kritisch mit der von ihr als „centre-periphery-approach“ (u.a. S. 142f.) bezeichneten Herangehensweise Henri Brescs auseinander. Stärker als Barile betont sie die Einheit Nord- und Süditaliens als ein gemeinsames wirtschaftliches, politisches und kulturelles System, das auf grundsätzlich ähnlichen Gewohnheiten und Normen beruhte. Erst die Krise des 17. Jahrhunderts habe das Gleichgewicht auf der Halbinsel verändert und diese Einheit gestört, freilich aufgrund von Entwicklungen, die den Norden wie den Süden betrafen (S. 139–165).

Drei Beiträge haben die ökonomisch-rechtliche Stellung von Frauen zum Gegenstand: Paola Guglielmotti untersucht auf breiter Basis Notariatsinstrumente aus dem Genua des 12. und 13. Jahrhunderts; Ausgangspunkt für ihre Studie sind der Genueser Erlass von 1143, der die Besitzansprüche von Witwen wesentlich beschränkte, sowie ähnliche Bestimmungen um dieselbe Zeit etwa in Pisa. Die Konsequenzen dieser Beschlüsse für die Ausbildung patrilinearer Geschlechter sind nicht neu, Guglielmotti bettet sie aber überzeugend in den größeren Kontext der Genueser Sozialgeschichte ein, etwa den Zusammenschluss von Familien zu „alberghi“ (stark vereinfacht: sozialen Verbänden, die auf Verwandtschaft und Nachbarschaft beruhen) am Ende des 13. Jahrhunderts (S. 167–187). Alessandra Bassani thematisiert das Thema Ehe anhand der stark kirchenrechtlich geprägten Gutachten des Juristen Baldo degli Ubaldi in der Lombardei des 14. Jahrhunderts (S. 189–210). Isabelle Chabot schließlich macht deutlich, wie unzureichend das Denkschema der „zwei Italien“ ist, um die gesamtitalienischen Unterschiede bei den verschiedenen Bestimmungen und Praktiken bezüglich Wittum und Mitgift erfassen zu können. Man müsse eher von hundert Italien sprechen und räumliche, aber auch zeitliche Differenzen stärker berücksichtigen. Grob vereinfachend lasse sich aber festhalten, dass die Änderungen im kommunalen Norden ab der Mitte des 12. Jahrhunderts für Frauen einen Rechtsverlust und Rückgang ihrer vermögensrechtlichen Möglichkeiten brachten, während Frauen in Apulien noch im 15. Jahrhundert bessergestellt waren (S. 211–232).

Abschließend fasst Paolo Grillo die einzelnen Beiträge und ihren Nutzen in Auseinandersetzung mit der Meistererzählung der „zwei Italien“ konzise zusammen und schließt sich Chabots Plädoyer zu regionaler und zeitlicher Differenzierung an. „The theory of the ‚two Italies‘ does not hold up well when instead of focusing on specific cases generally accepted as paradigmatic (Florence for north-central Italy, Naples or Palermo for southern Italy), we consider the multifarious reality of the peninsula between the twelfth and fifteenth centuries.“ (S. 241)

Obwohl die einzelnen Beiträge durchgehend auf der Höhe der aktuellen Forschung sind, hinterlässt die Lektüre des Gesamtbandes doch einen zwiespältigen Eindruck. Insbesondere die Einleitung Mainonis, die Beiträge Bariles, Sakellarious, Chabots und die Zusammenfassung Grillos enthalten zweifellos wichtige Reflexionen und weiterführende Ansätze zur Auseinandersetzung, wenn nicht gar Überwindung der Meistererzählung der „zwei Italien“. Zentral ist die Einsicht in die regionalen und zeitlichen Unterschiede und Entwicklungen im Italien des 12. bis 15. Jahrhunderts, die in der Meistererzählung der ‚zwei Italien‘ tendenziell nivelliert werden. Fraglich scheint aber der komparatistische Ertrag des immerhin mit „Comparing Two Italies“ überschriebenen Bandes, da der namensgebende Vergleich kaum stattfindet. Die Einzelstudien stehen ganz überwiegend für sich, mitunter sogar ohne jeden Hinweis auf den Forschungsstand im jeweils „anderen Italien“ (insbesondere im Beitrag Bassanis). Daher drängt sich die Frage nach dem „Wozu?“ auf. Schließlich herrscht an detaillierten Einzeluntersuchungen zu verschiedensten Themen der italienischen Geschichte kein Mangel. Befremdlich wirkt auch, wenn etwa De Angelis (S. 29–31) darlegt, ein umfassender Vergleich zwischen den Modi der Entscheidungsfindung in norditalienischen Kommunen und den Städten des Regno sei aufgrund der Unterschiede sowohl im Hinblick auf die institutionellen Gegebenheiten als auch die Quellenlage unmöglich. Damit scheint gleich die erste Untersuchung des Bandes das Gegenteil dessen zu beweisen, was dieser doch eigentlich einzulösen verspricht. Im Fall von Araldis – wie gesagt sehr überzeugendem! – Beitrag über Benevent hätte es im Grunde ähnlicher Untersuchungen zu Regierungspraktiken in anderen italienischen Städten im selben Zeitraum bedurft – oder doch wenigstens einer gesamtitalienischen Einordnung in die Forschung zu den titelgebenden Statutencodices.2 Ähnlich stellt sich das Problem bei den meisten Beiträgen, mit Ausnahme am ehesten der beiden Beiträge zur Handelsgeschichte. Von den fast 70 Seiten etwa, die dem Thema „marriage strategies“ gewidmet sind, entfällt gerade einmal 1/10 auf den Vergleich zwischen Nord- und Süditalien (S. 212–218 im Aufsatz Chabots). Der Rest ist ausschließlich den Verhältnissen im Norden gewidmet.

Um das klarzustellen: Für die kritische Auseinandersetzung mit den „zwei Italien“ ist der vorliegende Band zweifellos anregend. Zugleich reizt er zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema, weil er das einleitend zu Recht beklagte Defizit an komparatistischen Untersuchungen gerade nicht behebt. Vielleicht wäre weniger mehr gewesen: der Blick aus ein oder zwei Perspektiven auf die „zwei Italien“, bei denen tatsächlich ein Vergleich durchgeführt und der Ertrag eines solchen aufgezeigt wird.

Anmerkungen:
1 David Abulafia, The Two Italies. Economic Relations Between the Norman Kingdom of Sicily and the Northern Communes (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 9), Cambridge 1977.
2 Vgl. etwa Hagen Keller, Zur Quellengattung der italienischen Stadtstatuten, in: Michael Stolleis / Ruth Wolff (Hrsg.), La bellezza della città. Stadtrecht und Stadtgestaltung im Italien des Mittelalters und der Renaissance, Tübingen 2004, S. 29–46.