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Titel
Nackt für Stalin. Körperbilder in der russischen Fotografie der 20er und 30er Jahre


Herausgeber
Klemp, Klaus; Khoroshilov, Pavel
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Anabas-Verlag
Anzahl Seiten
127 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Natalia Stüdemann, Berlin

Die stalinistische Kulturrevolution war nicht nur ein Kampf um die Seelen, sondern auch um die Körper der Menschen. Im Banne des schönen Scheins der Selbstbeschreibung des sowjetischen Regimes wird dies leider nur allzu oft vergessen.

Während sich in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren für die Geisteswissenschaften die Prophezeihung von der "Wiederkehr des Körpers" zu erfüllen schien, mittlerweile erste Einführungen in die Körpergeschichte vorliegen 1, liegt die osteuropäische Geschichte hier noch in einem Dornröschenschlaf versunken. In Russland nähert man sich erst in den letzten Jahren dem Körper als kulturell und historisch konstruierter Schnittstelle von Privatem und Öffentlichem.2 Jüngstes Beispiel dafür ist die Ausstellung "Nackt für Stalin. Körperbilder in der russischen Fotografie der 20er und 30er Jahre", die im Rahmen der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen im letzten Herbst in Frankfurt zu sehen war, und zu der Pavel Khoroshilov und Klaus Klemp einen Katalog herausgegeben haben.

"Kunst ist Mut" -- Der Frankfurter Kulturdezernent Nordhoff leitet sein Grußwort mit diesem Zitat von Victor Hugo ein (S. 4). Und die russischen Kuratoren dieser Ausstellung beweisen tatsächlich Mut: Denn wer heute in Russlands Metropolen eine Ausstellung beispielsweise zu sowjetischer Unterwäsche zeigt, riskiert den Vorwurf der Pornografie. Das Ins-Bild-Setzen des Körpers berührt in Russland offensichtlich für manch einen noch heute ein kulturelles Tabu.

Die Herausgeber von "Nackt für Stalin" setzten dem entgegen: "Der ganze Körper ist die Verbindung zur Welt." In ihren Augen ist das Körperbild die geeignetste und "radikalste" Sonde, um Kontinuitäten des russischen Projekts der Moderne vom ausgehenden Zarenreich in die frühe Sowjetunion zu beschreiben (S. 5). Welch unterschiedliche Sujets ihr Überblick über die fotografischen Körperbilder der frühen Sowjetunion umfasst, lassen schon Titel und Umschlag des Buches erahnen: Entlang der Vorderseite sehen wir einen artistisch gebeugten, nackten Frauenoberkörper - auf der Rückseite Stalin, wie er jubelnden Frauen die Hand reicht. Neben der Präsentation von über hundert Fotografien mehr oder weniger entblößter Haut rückt die textliche Aufarbeitung in den Hintergrund. In einem knappen Vorwort der Herausgeber und einem einleitenden Essay von Boris Groys wird der Leser an das Thema herangeführt, bevor in fünf Kapiteln die Körperbilder zu sehen sind. Den letzten Teil des Buches bilden die Kurzbiografien der zweiundzwanzig vorgestellten Fotografen.

Boris Groys beschreibt in seinem Essay ("Die Sehnsucht nach dem Sexdesign"), wie der vertraute Leib durch seine Abbildung und dem Zur-Schau-Stellen auf Fotografien zum fremden, künstlichen Körper-Ding, eben zum Sexdesign wird (S. 7-14). Er geht dabei implizit von der Annahme aus, dass der exponierte, (halb-)nackte Körper in der sowjetischen Öffentlichkeit - ob gewollt oder ungewollt, ob als weiblicher Akt oder heroisches Körperbild - immer schon sexuell konnotiert war. Und das, obwohl das Interesse der verschiedenen künstlerischen Richtungen weniger in der Erotik als vielmehr in der Materialität des Körpers lag.

Auch wenn kommunistische Ideologie und die Freuden der Sexualität unvereinbar schienen, war der Kommunismus nach Groys nicht so sexfeindlich, wie er sich gab. Denn in den Kommunalkas, den Gemeinschaftswohnungen und an vielen anderen Orten des öffentlichen Lebens wie den Sanatorien, den Sportplätzen oder der Metro konnte man sich, so Groys, der sinnlichen Eindringlichkeit der Körper kaum entziehen (S. 7f.). Hiervon und von dem offiziellen Bild des kräftigen, vitalen und geordneten Körpers erzählen auch die Bilder des ersten Kapitels ("Körperkult"). Reigentänze im Sonnenschein, Turnerinnen auf dem Roten Platz, Menschen im Ornament der turnerischen Masse oder gesittete Paartänze vor dem heimischen Grammophon sind nur einige der Motive.

Laut Groys sehnte sich der Sowjetbürger aber nach ein wenig Verführung: Sein Verlangen rief nicht nach dem tatsächlichen, wohlmöglich auch noch schwitzenden Körper in der Menschenmasse, sondern nach einem fernen, unerreichbaren Körper als einem Versprechen von Luxus und Sex (S. 7f.). Ob die Fotografien des zweiten Kapitels ("Kunst der Bewegung") jenes Glücksversprechen in sich bargen, bleibt dahin gestellt. Vor allem aber zeugen sie vom experimentellen Zugang der freien Tanzszene der 1920er-Jahre zum Körper. Choreografen, Tänzer und Fotografen versuchten, mit Hilfe des Mediums Fotografie das Wesen der tänzerischen Bewegung - der Kunst der Bewegung - einzufangen. Während Alexei Sidorow ausgehend von einer Verwandtschaft zwischen Choreografie und Kinematografie glaubte, die tänzerische Bewegung durch Mehrfachbelichtungen dokumentieren zu können, konzentrierte sich Wassili Schiwago zunächst auf das fotografische Studium der Beine. In den anderen Körperbildern kommt dagegen weniger die Beschäftigung mit der Fotografie als vielmehr mit so unterschiedlichen Bewegungsästhetiken wie dem deutschen Ausdruckstanz, dem Ballett oder der Akrobatik zum Vorschein.

Es waren die Aktfotografien von Juri Eremin, Alexander Grinberg und Georgi Simin, welche die vermeintliche Sehnsucht nach dem Sexdesign stillen konnten. Sie werden in den letzten drei Kapiteln vorgestellt. Während bei Grinberg der halbabgewandte nackte Frauenkörper und bei Simin die luxuriös glänzende, nackte Haut einer Frau den Bildausschnitt ausfüllen, bettet Eremin den weiblichen Akt in die dramatische, in Dämmerlicht getauchte Natur der Krim ein.

Es ist Groys' These, dass diese Fotografien dem Körper Fetischcharakter verliehen, indem sie ihn in artifiziellen, posenhaften Haltungen zeigten. Selbst die Nacktheit der Körper ließ auf den Bildern keinen Eindruck von vermeintlicher Natürlichkeit aufkommen, sondern führte vielmehr die Körper in ihrer Künstlichkeit vor. Denn sie entsprachen weder der Realität der sowjetischen Propaganda mit ihren kraftstrotzenden Körpern, noch der sowjetischen Wirklichkeit, von der die Körper unweigerlich gezeichnet waren (S. 9).

Alle Fotografen, die in diesem Band vorgestellt werden, wurden im Zuge der stalinistischen Kulturpolitik wegen ihrer Beschäftigung mit dem Körper zur Rechenschaft gezogen. Sie bedienten nicht den vorgegebenen sozialistischen Realismus. In den Augen der Bolschewiki verfehlten es vor allem die Körperbilder der 1920er-Jahre, die vermeintliche Wirklichkeit zu dokumentieren. Stattdessen raubten sie den Menschen, die darauf abgebildet sind, das Bewusstsein von den Dingen, ihre Seele.

Nach Groys hielten es die Bolschewiki somit paradoxerweise mit Siegfried Kracauer: Auch für sie war der abgelichtete Körper nicht mehr als eine Leiche (S. 10). Nackte Frauen in Ekstase dagegen, wie sie auf manchen Bildern von Alexander Grinberg oder Georgi Simin zu sehen sind, waren für sie Zeugen einer überwundenen historischen Epoche der Dekadenz und nicht der strahlenden, enthusiastischen Zukunft, die das Sowjetvolk erwartete (S. 9, 12, 86-89, 98-101).

Die Leistung des Ausstellungsbandes "Nackt für Stalin" besteht nicht nur darin, die Aktfotografie, ein vergessenes Genre der sowjetischen Fotografie, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er versucht erstmals, einen Überblick über die Körperbilder der frühen Sowjetunion und ihre Produzenten zu geben. Und trägt damit nicht nur zur kunstgeschichtlichen, sondern vor allem zur kulturgeschichtlichen Forschung bei. Boris Groys führt nur einmal mehr das offensichtliche Potential dieses Themas vor. Mit konkreten Forschungsergebnissen oder inhaltlichen Anregungen zur russischen Körperkultur dagegen kann oder will diese Publikation nicht aufwarten, obwohl dies für die Weiterentwicklung der Körpergeschichte der russischen Kultur wünschenswert gewesen wäre. So hätten sich neben der Präsentation des bisher unbekannten Bildmaterials und Groys' Essay andere Textbeiträge angeboten. Ärgerlich sind zum Teil offensichtlich falsche Datierungen der Fotografien ( S. 36, 58f.).

Anmerkungen:
1 Kamper, Dietmar; Wulf, Christoph (Hgg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main 1981; Lorenz, Maren, Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte, Tübingen 2000.
2 Bekanntestes Beispiel ist die Ausstellung des Petersburger Goethe-Instituts mit dem Historischen Museum der Stadt St. Petersburg zur Unterwäsche in der Sowjetunion. Degot, Ekaterina (Hg.), Pamjat tela. Nischnee beljo sowetskoj epochi. Katalog wystawki, Moskau 2000.

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