E. Burkart: Kreuzzug als Selbstbeschreibung

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Titel
Kreuzzug als Selbstbeschreibung. Burgundische Statuspolitik in den spätmittelalterlichen Traktaten des Jean Germain


Autor(en)
Burkart, Eric
Reihe
Pariser Historische Studien (117)
Erschienen
Anzahl Seiten
440 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harm von Seggern, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel

Unter dem auf den ersten Blick etwas befremdlichen Titel „Kreuzzug als Selbstbeschreibung“ legt Eric Burkart in seiner Frankfurter Dissertation eine tiefgründige Interpretation gleich dreier Werke Jean Germains (geb. ca. 1396/1400, wohl in Cluny, gest. 2. Februar 1461) vor, der ab 1436 bis zu seinem Tod als Bischof von Châlon-sur-Saône und als erster Kanzler des 1430 gegründeten burgundischen Hofordens vom Goldenen Vlies wirkte. Jean Germain war ein hochgebildeter Mann, der in den 1430er-/40er-Jahren mit wichtigen, durchweg schwierigen politischen Gesandtschaften betraut war wie der Vertretung Burgunds auf dem Basler Konzil, wo er den Rangstreit mit den Vertretern der Kurfürsten des Reichs zugunsten Burgunds entscheiden konnte.

Die drei umfangreichen Texte Germains entstanden im Vorfeld des achten Kapitels des Ordens, das 1451 in Mons stattfand, und wurden in einer hoföffentlichen Zeremonie dem Herzog und Souverän des Ordens überreicht. Der Forschung bekannt sind diese Texte seit langem, doch allein der Umfang und das „komplexe Latein“ einer der Schriften (S. 328) standen einer weiteren Rezeption im Wege. Dass das Generalthema ein möglichst nicht in allzu ferner Zukunft durchzuführender Kreuzzug war, hatte sich der Forschung zwar früh erschlossen, doch wie genau dieses Vorhaben begründet und welche Argumentationslinien verfolgt wurden, blieb verborgen. Dieses Problem gelöst zu haben, ist das Verdienst dieser Arbeit.

Eingehend untersucht werden folgende Abhandlungen: 1. Trésor des simples, entstanden etwa 1447–1451 und mit je nach vollständiger Handschrift entweder 277, 413 oder 423 Folia der mit Abstand umfangreichste Text, 2. Mappemonde spirituelle, die Erläuterungen zu einer verlorenen Weltkarte, die die ganze bekannte Welt als christianisiert darstellt, fertiggestellt 1449 und mit etwa 70 Folia deutlich kürzer, und 3. Liber de virtutibus, eine Belehrung Karls des Kühnen, fertiggestellt 1452 (also im Jahr nach dem Ordenskapitel) und mit je nach Handschrift 65–100 Folia in etwa genau so groß wie der Text zur Weltkarte.

Eine gewaltige Textmenge also, die noch einmal erweitert wurde um die Reden, mit denen Germain den Streit um den Vorrang der burgundischen Gesandtschaft auf dem Basler Konzil durchsetzte. Die Beschäftigung mit dieser Gesandtschaft ergab sich für Burkart zum einen aus der Biographie Germains, zum andern aus einer inhaltlichen Übereinstimmung, ging es doch in allen Texten um den Status bzw. Vorrang des burgundischen Herzogs vor anderen Fürsten, der sich u.a. aus dem von ihm verfolgten Plan eines Kreuzzugs speiste. Dass dieses nicht nur ein literarischer Propagandatrick war, sollten die ersten burgundischen Flottenexpeditionen von 1441/42–1446 vor Rhodos und im Schwarzen Meer der Welt vor Augen führen.

Als wäre das nicht schon anspruchsvoll genug, begründet Burkart sein Vorgehen mit Überlegungen zur Diskursanalyse, wobei er Bezug nimmt auf die vom Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann entwickelte „objektive Hermeneutik“.1 Dieses mündet in die Methode der Sequenzanalyse, der Interpretation ausgewählter Absätze, die möglichst unvoreingenommen in einer sog. „ersten Lesart“ (von mehreren denkbaren) erschlossen werden.

Nach einer knappen Einleitung schließen sich zunächst die genannten methodologischen Betrachtungen an (Kap. 2), woraufhin der nähere Kontext skizziert wird (Kap. 3), der in der ungeklärten Stellung Philipps des Guten nach der Übernahme des Wittelsbacher Erbes in den Niederlanden bestand. Vom französischen König hatte er sich entfernt, da dieser es war, der seinen Vater ermordet hatte, 1420 bis 1435 unterhielt Philipp zudem ein Bündnis mit England. Über den Rang der anderen westeuropäischen Herzogshäuser war er durch die Akkumulation gleich mehrerer Fürstentümer und das Behaupten einer eigenständigen Rolle in Nordwesteuropa hinausgewachsen. Zudem vermochte er eine Tochter des portugiesischen Königs zu heiraten, und aus Anlass der Hochzeitsfeierlichkeiten gründete er einen Hoforden, der unter das Zeichen des Goldenen Vlies' gestellt war. Das Kreuzzugsthema, hier verstanden in einem weiteren Sinn als Heidenbekämpfung, eignete sich hierbei hervorragend, um Philipp den Guten als Defensor ecclesiae darzustellen, als den berufenen Organisator der Verteidigung des christlichen Abendlandes, was seinen hervorragenden Status gegenüber den höchsten Adelskreisen weiter sicherte. Es bleibt nicht aus, dass nach der Klärung dieser Vorfragen (erst) auf S. 101 eine biographische Skizze Jean Germains beginnt, in welchem auch sein literarisches Werk gewürdigt wird (Kap. 4).

Die eigentliche Untersuchung setzt mit Germains Auftreten auf dem Basler Konzil 1432/33 (Kap. 5) und der Lösung des Rangstreits mit den Kurfürsten ein: Germain gelang es durchzusetzen, dass die burgundische Gesandtschaft gleich nach denen der Könige, aber vor denen der Kurfürsten und der Herzöge der Bretagne und von Savoyen platziert wurde. Ein entscheidendes Argument war dabei, dass Philipp der „bereitwilligste Verteidiger der Kirche war“ (S. 158). Von daher verwundert es nicht, dass das Kreuzzugsthema in der Politik erscheint, als die Bedrohung Konstantinopels durch die Osmanen größere Ausmaße annahm, weswegen das achte Kapitel des Ordens vom Goldenen Vlies 1451 diesem Vorhaben gewidmet war (Kap. 6).

Den Hauptteil bilden sodann die drei Abschnitte (Kap. 7-9), in denen die drei genannten Werke einer genaueren Inhaltsanalyse unterzogen werden, die hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden kann. Alle drei Texte werden nicht nach den Editionen des 18.–20. Jahrhunderts bearbeitet, bei denen es sich wegen der Erstellung eines Idealtexts um geschönte Konstrukte handelt, sondern nach den ereignisnah angefertigten Handschriften, wenn man so will geradezu lehrbuchhaft.2 Folglich gibt es zu jedem Text einen Abschnitt mit einer vergleichenden kodikologischen Beschreibung der Handschriften, woran sich beim Trésor des simples und der Mappemonde spirituelle eine eingehende Interpretation der Dedikationsminiaturen anschließt, in denen sowohl der Herzog als auch Jean Germain dargestellt werden und die Zeremonie der Übergabe in einen unterschiedlich gestalteten höfischen Zusammenhang eingebettet wird.

Auf diese Weise vermag Burkart zentrale Aspekte der Germain'schen Texte herauszuarbeiten. Es handelte sich um hochgelehrte Texte, in denen das von der Scholastik entwickelte Bild der Muslime „verhöfischt“ wurde, will sagen: in die Vorstellungswelt der ritterlich-höfischen Kultur des burgundischen Hofs (allein schon sprachlich durch die Übersetzung in das Mittelfranzösische) angepasst wurde (S. 227, 271, 307). Im Trésor des simples treten am Hof des Kaisers ein christlicher und ein muslimischer Ritter zum argumentativen Wettstreit an (S. 218), ein intellektueller Kniff, der es Germain erlaubte, die von den ins Hl. Land reisenden Adligen erlebte Wahrnehmung und dadurch bedingte Verunsicherung der christlichen Haltung zu läutern. Es ging Germain sowohl um eine Zurückweisung der muslimischen Weltsicht als auch um eine Selbstvergewisserung der christlichen Anschauung (was den befremdlichen Titel erklärt). Präsentiert wird der Schatz der „einfachen Glaubenswahrheiten“, eine Sammlung von Argumenten zur Legitimation der Heidenbekämpfung. Von Gleichberechtigung kann aber keine Rede sein: Der muslimische Ritter erhält 2,3 Prozent des Texts eingeräumt, der christliche 97,7 Prozent (S. 224).

Im Trésor wird die Theorie vertreten, dass die Welt einst völlig christianisiert gewesen sei, weswegen der Islam als eine Art christliche Häresie zu werten ist, die auf den rechten, d.h. richtigen, also christlichen Weg zu bringen ist. Es geht Germain um eine Art Reconquista. Diesem Verständnis folgt die Anlage der Weltkarte, die selbst verloren, deren Erläuterungsband aber überliefert ist. Sie ist integraler Bestandteil von Germains Kreuzzugslegitimation, die eine Aufzählung der einst christianisierten Weltgegenden bietet als Argumentationshilfen zugunsten des „doktrinären Kampfs“ (S. 294) gegen die Muslime. Die ganze bekannte Welt in ihrer Christianisiertheit zu beschreiben bildete ein „Großprojekt“ (S. 297, 304), an dem mithilfe anderer Gelehrter mehrere Jahre, d.h. seit den 1440er-Jahren zeitgleich mit den ersten Kreuzzugsunternehmungen gearbeitet werden musste (und was vom Herzog gefördert worden sein dürfte). Herausgekommen ist ein akademisches Hilfsmittel, das es erlaubte, zu einem jeden Ort die Geschichte seiner Bekehrung zu beschreiben. Unter den vielen Märtyrern werden diejenigen ritterlicher bzw. edler Abstammung hervorgehoben, die „Verhöfischung“ lässt sich auch hier zeigen.

Als letztes wird der Liber de virtutibus behandelt, die erst 1452 (also nach der Kapitelsitzung des Ordens) fertiggestellte "Tugendlehre", die dem Thronfolger Karl gewidmet ist und in der das Leben seines Vaters als vorbildlich dargestellt wird. Ihm sei nachzueifern, denn er, Karl, sei als Statthalter seines Vaters auserkoren für die Zeit von dessen Abwesenheit – auch hier findet sich der direkte Anschluss an die Kreuzzugsthematik. Mehr noch: Karl wird als Nachfolger seines Vaters aufgebaut. Tatsächlich aber handelt es sich um eine verkappte Zeitgeschichtsschreibung, denn es findet sich eine ausführliche Darstellung der Regierungszeit Philipps des Guten, die als erfolgreich und vorbildlich dargestellt wird. Bemerkenswert ist, dass Jean Germain sich selbst als Lehrer darstellt, der sich zwischen Vater und Sohn gesellt, didaktisch allerdings „mit dem Holzhammer arbeitet“ (S. 335, mit Bezug auf die ewigen Wiederholungen). Deswegen kann er sich auch eine leise Kritik erlauben: Die sexuellen Eskapaden seines Vaters solle Karl sich nicht zum Vorbild nehmen (S. 342, 351f., 355). Nur ganz am Rande wird angesprochen, worum es im Hintergrund der burgundischen Statuspolitik eigentlich ging und woran Karl festhalten soll: Eine besondere Stellung zu erlangen, die die Erhebung zum König- oder gar Kaiserreich erlaubt (S. 341, 356).

Am Ende lässt sich lediglich kritisch einwenden, dass Burkart die Geschichte Burgunds konventionellerweise mit dem Schlachtentod Karls des Kühnen 1477 enden lässt (in den letzten Jahren tendierte man eher zu 1482, dem Tod seiner Erbtochter Maria). Ferner entspricht das Formular von Germains Widmungsbriefen an Philipp im Trésor und in der Mappemonde vollgültig dem der geschlossenen Briefe (lettres closes), der Verweis auf die Urkundentitulatur greift zu kurz. Und für die Überlieferung in ihrer Gesamtheit darf man ruhig den Ausdruck „Quellen“ verwenden (gegen S. 362), die Sequenzanalyse steht dem nicht entgegen, ist sie doch genau das: Eine tiefgründige Quellenstudie mit enorm weitreichenden Einsichten zum Ineinandergreifen von scholastischer Gelehrsamkeit, höfischer Kultur, politischen Ambitionen, wie sie nur selten vorgelegt werden. In dieser Hinsicht wäre Jean Germains Werk der Begründung des Tyrannenmords durch Jean Petit an die Seite zu stellen.3 Aber solche Weiterungen gehören nicht mehr hierher. Den nicht ganz einfach zu erkennenden Zusammenhang von Kreuzzugsvorhaben, Rangerhöhung, Hofkultur und theologisch-intellektuellem Arsenal klar herausgearbeitet zu haben, bleibt das Verdienst dieser Arbeit.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Ulrich Oevermann, Objektive Hermeneutik als Methodologie der Erfahrungswissenschaften von der sinnstrukturierten Welt, in: Phil C. Langer / Angela Kühner / Panja Schweder (Hrsg.), Reflexive Wissensproduktion. Anregungen zu einem kritischen Methodenverständnis in qualitativer Forschung, Wiesbaden 2013, S. 69–98.
2 Vgl. Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers, Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, mit Literaturnachträgen und einem Nachwort, bearb. v. Franz Fuchs, Stuttgart 182012, S. 51: Der Quellenwert bestimmt sich „aus der Nähe zu dem zu erforschenden historischen Vorgang oder Zustand." Zu Burkarts Methode vgl. S. 47.
3 Alfred Coville, Jean Petit. La question du tyrannicide au commencement du XVe siècle, Paris 1932.

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