G. Ortalli: Barattieri. Il gioco d’azzardo

Cover
Titel
Barattieri. Il gioco d’azzardo fra economia ed etica. Secoli XIII–XV


Autor(en)
Ortalli, Gherardo
Reihe
Saggi 778
Erschienen
Bologna 2012: Il Mulino
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
22,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Zollinger, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Marginalität als Marginalie der Historiografie. Dieser Herausforderung steht trotz einer einschlägigen historiografischen Tradition gegenüber, wer ‚Randphänomene‘ des Sozialen, Wirtschaftlichen oder Kulturellen zum Untersuchungsgegenstand wählt. Ein solches scheint das Spiel ungeachtet seiner Ubiquität, der ökonomischen Bedeutung und prominenter Fürsprecher wie Philipp Ariès noch immer. Dem entgegenzuwirken und diesen Bereich in den Rang der Seriosität zu heben, ist seit langem das Anliegen des Mediävisten Gherardo Ortalli, Herausgeber von „Ludica. Annali di storia e civiltà del gioco“ (Nr. 1, 1995).

Ortalli untersucht das öffentlich autorisierte Glücksspiel im Italien der Kommunen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert nunmehr umfassend. In dieser Zeit des ökonomischen Wandels – besonders auf dem Finanzsektor – zeichnete sich auch eine differenziertere Einstellung gegenüber dem Spiel ab. Juristen erfanden die Dreiteilung der Spiele in Verstandesspiele (Schach), Glücksspiele (Würfel) und ludi mixti (dem Backgammon verwandte, später auch bestimmte Kartenspiele). Glücksspiele blieben verboten, genossen aber, wie während der antiken Saturnalien, Freiräume im kirchlichen Festkalender und auf Märkten und Messen. Neu war, ihnen einen permanenten Bereich zuzuweisen – im Freien, bei Tag, an zentralen Orten der Städte. Dies war vorzugsweise die Piazza, was bezeichnenderweise in einer jüngeren Studie gänzlich unerwähnt bleibt.1

Protagonist des Geschehens war der Barattiere, der Ort die Baratteria. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts auf die Welt des Marktes und des Austauschs verweisend, erscheint der Begriff Barattiere immer deutlicher in Verbindung mit Glücksspiel, riskantem Unternehmen (ventura) und schlechter Lebensführung. Die Baratteria war zugleich die Gesamtheit jener mali homines, deren Attribut der Würfel war, und der Ort, wo das Glücksspiel seinen – gleichwohl infamen – Platz fand. Ortalli sieht darin einen Kompromiss zwischen abstrakten Prinzipien und faktischen Gegebenheiten, eine neue Konstellation zwischen Moral und Ökonomie, die aber hier nicht Halt machte. Ökonomische wie politisch-institutionelle Faktoren, besonders der wachsende öffentliche Finanzbedarf im Zusammenhang mit der Ausweitung des Systems der indirekten Steuern, führten zur regulierten und besteuerten Nutzung des Spiels (gabella ludi, gabella baratterie). 1250 verzeichnen die Rechnungsbücher von San Gimignano den „pretium ludi ossilorum e ludi zardi“. Bologna registrierte 1265 den ersten bekannten Pachtvertrag über die Ausübung des öffentlichen Spiels. Mehrere, auch kleinere Städte, aber längst nicht alle, gingen diesen Weg. Es könnten mehr als die 46 im Index genannten gewesen sein, weil städtische Statuten2 mitunter Glücksspielverbote fixierten, wo Rechnungsbücher das Gegenteil belegen.

Es etablierte sich der formalisierte Geschäftsbetrieb der Baratteria und der soziale ‚Verband‘ der Barattieri. Es handelt sich um ein schwer greifbares, diffuses und ausschließlich über Fremdwahrnehmung vermitteltes gesellschaftliches Phänomen am unteren Ende der sozialen Hierarchie, infam im Sinne der infamia facta und an den Grenzen der strukturellen Illegalität, zu niederen Diensten an der Gemeinschaft berufen, die Synthese der Ehrlosigkeit und der Devianz. Entgegen der herrschenden Ansicht, dass die Barattieri eine societas im Sinne einer formellen Korporation gebildet hätten, weist Ortalli nach, dass von einer geschlossenen Organisation mit Satzungen keine Rede sein kann. Als aggregierte Kategorie sind die Barattieri allenfalls vorübergehend, bei Kriegszügen (wie die Prostituierten) und auf Festen auszumachen. Im Zusammenhang damit räumt Ortalli auch mit dem Mythos des potestas oder rex barattiorum als eines gewählten Anführers auf und zeigt, dass die so Bezeichneten ihre Souveränität nur über die mit den Kommunen geschlossenen Konzessionsverträge erhielten. Man denkt hier an den ‚Roi des ribauds‘ und den ‚Bubenkönig‘ (bovenkonyng) im niederdeutschen Raum, Flandern und Brabant, dem Prostitution und Glücksspiel unterstanden.

Der öffentliche Spielort stand allen offen. Doch Foligno ließ 1350 alle registrieren, die wegen Gefährdung des Familienvermögens vom Spiel gesperrt sein sollten. Andere Städte bestimmten, dass nur ein continuus baraterius oder publicus et famosus ribaldus (zumeist Synonym für Barattiere, in Deutschland auch als ‚luderer‘ und ‚Ertzhurer‘ wiedergegeben) spielen dürfe. Als solcher galt, wer mindestens dreimal alles usque ad camisiam verspielt hatte. Register (cronica) wurden angelegt, die Ortalli als kontraproduktives, unrealistisches und nicht praktikables normatives Experiment erkennt.

Um die profitable Baratteria bemühten sich Leute aus der Finanzwelt, aber auch aus regierenden adeligen Familien, gelegentlich als Konsortien. Die Konzessionäre (nur Männer) traten in manchen Fällen gleichzeitig als Pächter anderer Steuern auf und waren die Vermittler zu den Leitern des operativen Spielgeschäfts, den ‚podestà della baratteria‘, die sogar das Recht hatten, Waffen zu tragen. Was der kommunale Fiskus einnahm, trägt Ortalli ebenfalls anhand des lückenhaften Materials zusammen.

Für das Ende dieser Institution im Laufe des 15. Jahrhunderts wird ein Bündel von Faktoren namhaft gemacht. Überwiegend sind es ökonomische wie die relativ abnehmende finanzielle Einträglichkeit und religiöse wie der Einfluss der Observanten, die nicht nur in Italien kreuzzugsmäßig gegen weltliche Luxusformen predigten, dabei im Spiel ein bevorzugtes Objekt fanden und gelegentlich die Gesetzgebung beeinflussten. Ortalli führt zusätzlich und im Anschluss an Norbert Elias’ Zivilisationstheorie neue moralische Einstellungen gegenüber dem gesellschaftlich Akzeptablen an. Indiz und Symptom sind ihm der Übergang der Baratteria von den öffentlichen Plätzen in die Geschlossenheit der Häuser, die eine neue Sensibilität des Zumutbaren suggeriere – die ‚canaglia‘ vor Kirchen und öffentlichen Gebäuden störte. Damit seien wesentliche Momente des öffentlichen Spiels, Sichtbarkeit und Kontrollierbarkeit, weggefallen. Ob darunter auch die Kontrolle über Gestion und Einnahmen litt, muss angesichts des Beispiels von Spielhäusern im deutschen Sprachraum und wohl auch in Spanien diskutiert werden.

Zusätzlich wirft Ortalli ein interessantes Problem auf, das zwiespältig betrachtet werden kann. Seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts breiten sich Karten und Lotterien aus, für den Autor Konkurrenten des ungestümen Würfelspiels. Kartenspiele werden als neue „ludische Aktivitäten im Einklang mit der Verfeinerung der Umgangsformen“ gesehen. Zweifelsohne konnten sie dazu beitragen, gewisse Modalitäten der Affektäußerung zu verändern und „der Konvention des Eigennutzes, einander mit der größten Höflichkeit zu plündern“ (Kant), entgegenkommen. Doch ihr Siegeszug scheint sich eher dem Variantenreichtum zu verdanken. Bei Lotterien sind Crowding-out-Effekte weder für Würfel noch für Karten belegt. Strukturell andersartig und vielerorts sporadisch, sind sie keine echte Alternative. Wo sie regelmäßig veranstaltet werden, wie in Genua im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert oder in Brügge, finden wir keine anderen öffentlichen Glücksspiele. Als sich Lotterien als dauerhafte Finanzierungsinstrumente etablieren, hat zumal in Italien die Stunde der Baratteria bereits geschlagen. Und mit dem allmählichen Verschwinden der Baratteria verlagert sich der semantische Hauptinhalt von ‚Barattiere‘ immer mehr zu dem, was er schon bei Dante war: korrupte Beamte.

Ortalli legt die Wurzeln des modernen öffentlichen, staatlich kontrollierten und lizenzierten Glücksspiels als Gratwanderung zwischen Moral und Profit offen. Bei schwieriger Quellenlage wird in minutiöser Analyse das Glücksspiel überzeugend als Indikator im Schnittpunkt sozialer, ökonomischer und moralischer Interessen analysiert. Gelegentlich weit über das engere Thema hinausgehend, ist er sich bewusst, dass manches offen und ungelöst bleibt, räumt aber verdienstvoll mit tradierten Fehleinschätzungen aus. Um den Gewinn des Buches in seiner Materialfülle ganz genießen zu können, empfiehlt der Rezensent nicht spezialisierten Lesern allerdings die Vorab-Lektüre der „Conclusio“.

Anmerkungen
1 Francesca Bocchi, The Public Piazzas of Communal Italy. Economy, City Planning, Symbology (13th–14th Centuries), in: Rudolf Holbach / Michel Pauly (Hrsg.), Städtische Wirtschaft im Mittelalter. Festschrift für Franz Irsigler zum 70. Geburtstag, Köln 2011, S. 43–70.
2 Vgl. Alessandra Rizzi (Hrsg.), Statuta de ludo. Le leggi sul gioco nell’Italia di comune (secoli XIII–XVI) / The laws governing games and gaming in Italian communes (XIII–XVI centuries), Rom 2012.