A. Gerritsen u.a. (Hrsg.): Writing Material Culture History

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Titel
Writing Material Culture History.


Herausgeber
Gerritsen, Anne; Riello, Giorgio
Reihe
Writing History
Erschienen
London 2015: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XIV, 338 S.
Preis
€ 26,96; £19.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Ludwig, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Die Auseinandersetzung mit materieller Kultur ist für die Geschichtswissenschaft ein vergleichsweise neues Forschungsfeld, zumindest was das "Zeitalter der Schriftlichkeit" angeht. Geschichte sei lange, so kritisieren die Herausgeber Anne Gerriton und Giorgio Riello, aus Texten heraus erforscht und anschließend in Texten niedergeschrieben worden. Geschichte in anderer medialer Form zu verfassen sei deshalb die eine Herausforderung, vor der Historiker/innen ständen, die andere sei die Beachtung der vielfältigen nichtschriftlichen Quellen, aus denen ein anderer Fokus auf die Vergangenheit gerichtet werden könne und neue Forschungsfelder entstünden. Genannt werden Konsumgeschichte, Kolonialgeschichte und Designgeschichte, aber weitere ließen sich denken.

Die Herausforderungen der materiellen Kultur an die Geschichtswissenschaft besteht unter anderen in methodologischen Problemen, denn geeignete Herangehensweisen zur Analyse materieller Relikte hängen vom zu untersuchenden Objekt ab, verlangen die Rezeption von Methoden aus verschiedenen Disziplinen und haben es mit einem Gegenstand zu tun, der unterschiedliche Bedeutungen haben kann, abhängig von Zeit, Ort und Nutzung. Materielle Kultur rückt die Aufmerksamkeit auf Themen, die nicht unbedingt schriftlich formuliert, aber physisch präsent sind, die eine lange Dauer haben können und, mit unterschiedlichem Wert und sich wandelnder Bedeutung, in verschiedenen Kulturen vorkommen können. Diese grundsätzlichen Bemerkungen der Herausgeber scheinen sinnvoll, wenn materielle Kultur nicht als Beleg, sondern als Ausgangspunkt von Forschung genommen werden soll, wie dies die im vorliegenden Band versammelten Beiträge tun.

Hilfreich ist dabei ein Beitrag der Kunsthistorikern Viccy Coltman zu den Analysemethoden, mit denen Dinge erschlossen werden können. In den vier Dimensionen „objecthood“ (wohl am besten als Dinghaftigkeit zu übersetzen), Produktion, Gebrauch und „Nachleben“ (jenseits der Gebrauchsphase) wird ein Fragekatalog entwickelt, der die Untersuchung des einzelnen Objekts ermöglicht. Ein solcher Katalog ist insbesondere hilfreich, als in vielen Untersuchungen zur materiellen Geschichte dieser Schritt des Auslesens von Dingen übergangen wird. Auch der Beitrag von Ulrich Lehmann über die Tapetenproduktion während der Französischen Revolution bietet eine ausgebaute theoretische Reflexion der materiellen Kultur, die sich auf den doppelten Prozess der Objektivierung von Geschichte durch Dinge wie zugleich deren Subjektivierung durch individuellen Gebrauch bezieht.

Zahlreiche Beispiele des forschenden Umgangs mit Dingen machen den Band zu einer Reise durch Epochen und Kontinente. Dabei liegt ein gewisser Schwerpunkt auf dem 17. bis 19. Jahrhundert, also der Sattelzeit der Herausbildung der europäisch-nordamerikanischen Konsumgesellschaft. David Gaimster untersucht den Import rheinischer Keramikgefäße nach England im 16. Jahrhundert, deren Verzierungen unter anderem auch die Bildsprache der Renaissance in das Land gebracht haben. Hier wird auch die Entstehung des internationalen Handels mit Konsumgütern gleich mehrfach thematisiert, zum Beispiel von Suzanne Findlen Hood anhand von Funden chinesischen Porzellans nordamerikanischen kolonialen Williamsburg oder eines aus Seelöwenhaut bestehenden Parkas, analysiert von Christina Hellmich. Viele der in diesem Band untersuchten Objekte entstammen Museumssammlungen, jedoch werden auch überraschende Fundorte vorgestellt. So untersucht John Styles das Archiv des Londoner Findelhauses, in dem sich die Kartei der aufgenommenen Kinder aus dem 18. Jahrhundert erhalten hat. Viele der Eltern, die ihre Kinder ausgesetzt hatten, haben ihnen kleine Erkennungszeichen wie Stoffstücke oder Knöpfe beigegeben, um ihre spätere Identifizierung zu ermöglichen, und diese Erkennungszeichen wurden im Archiv bei den Akten gehalten. Mithin können Untersuchungen materieller Kultur durchaus auch dort ansetzen, wo sich Historiker/innen primär orientieren, im Archiv.

Dies gilt auch für ein weiteres Beispiel, die Patentsammlung des Britischen Board of Trade, die Dinah Eastop vorstellt. Hier sind nicht nur die Warenzeicheneintragungen zwischen 1839 und 1991 archiviert, sondern auch Musterproben beigefügt. Neben detaillierten Informationen über Hersteller und deren Produktionsprofil konnten anhand der Musterproben auch Beispiele für Produktpiraterie entdeckt werden, zum Beispiel von indischen Stoffdesigns, die von einer Firma in Manchester patentiert worden waren. Bis in die Gegenwart reichen Untersuchungen zur Wiederentdeckung der Lycra-Faser durch Kaori O´Connor oder der Adaption indonesischer Baustile als Heritageproduktion für Tourismus und Nationalstaatsbildung, beschrieben von Kathleen M. Adams. Das Tongkonan-Haus wird heute als kulturelles Nationalsymbol verwendet, obwohl es ursprünglich lediglich eine kleine regionale Kultur betraf.

Mehrfach wird auch der Einfluss der materiellen Kultur auf menschliche Verhaltensweisen und Wahrnehmungen thematisiert. Dazu gehören Beiträge von Ann Smart Martin über den Zusammenhang von künstlichem Licht und Hochglanzlackierungen von Möbeln und im gleichen Zusammenhang die Verlängerung des Tages durch künstliche Lichtquellen. Auch der sozialdisziplinierende Einfluss von Kleidung und Möbeln auf die Körperhaltung im 19. Jahrhundert, beschrieben von Manuel Charpy, Victoria Kellys Untersuchung der sozialen und kulturellen Bedeutung der Instandsetzung von Kleidung und, bereits seit Norbert Elias bekannt, über die Nutzung des Betts als sozialer Mittelpunkt oder individueller Rückzugsraum in einem Beitrag von Sandra Cavallo gehören in diese Reihe von Beiträgen, die sich der "agency" der Dinge widmet.

Eine Reihe von museumsbezogenen Beiträgen zum kuratorischen und konservatorischen Umgang mit Dingen runden die insgesamt 25 Aufsätze des Bandes ab. Hier sei besonders auf die in verschiedenen Beiträgen beschriebenen Schwierigkeiten einer eindeutigen Provenienz der Dinge verwiesen. Oft kommen Objekte nicht aus dem direkten Gebrauch ins Museum, sondern wandern zuvor durch mehrere Hände. Dies macht den Nachweis ihrer Authentizität schwierig, zumal, wenn sie über den Kunstmarkt erworben wurden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte eines barocken Schreibsekretärs, die Carolyn Sargentson beschreibt. 1977 aus der Auktion einer Sammlung erworben, die aus einem englischen Landsitz stammte, erwies sich das um 1700 datierte Möbelstück als massive Überarbeitung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dies verweist auf zweierlei: Erstens wird der präzisen konservatorischen Analyse der Objekte erst in jüngerer Zeit eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil, man verlässt sich also nicht mehr auf stilgeschichtliche Einordnungen und Vergleiche allein, und zweitens stehen auch technische Analyseverfahren zur Verfügung, die eine präzise Objektbestimmung ermöglichen. Dies wird in einem Beitrag von Jessica Hallett und Raquel Santos deutlich, die anlässlich einer notwendigen Restaurierung die Herkunft dreier schiitischer Teppiche im Museum der Herzöge von Bragança im portugiesischen Guimarães untersucht haben. Alle Informationen über die ursprüngliche Provenienz waren verloren gegangen, die Objekte konnten aber als persische Teppiche aus dem 16. Jahrhundert identifiziert werden, die offenbar als Geschenk zunächst an den türkischen Sultan gingen, der einige von ihnen aus Geldnot im 19. Jahrhundert während des russisch-türkischen Krieges verkaufte.

Der Sammelband teilt sich in drei Kapitel. In einem ersten werden die unterschiedlichen Zugänge der beteiligten Disziplinen – Archäologie, Kunstgeschichte, Anthropologie, Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft – zur materiellen Kultur vorgestellt, in einem zweiten die Möglichkeiten, aus materiellen Objekten Geschichte zu schreiben, während sich das dritte Kapitel vor allem aus der kuratorischen, das heißt forschenden, Praxis in Museen, Sammlungen und Archiven speist. Den Band beschließt eine Liste onlinebasierter Sammlungskataloge, zumeist aus dem angelsächsischen Raum.

„Writing Material Culture History“ ist ein Buch, das vornehmlich an die akademische Lehre gerichtet ist, das aber aufgrund seiner Vielseitigkeit und der ausgeprägten Kontextualisierung in die historische Forschung durchaus als Grundlagenwerk für die Möglichkeiten des Umgangs der Geschichtswissenschaft mit der materiellen Kultur gelten kann.

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