J. Knapí (Hrsg.): Děti, mládež a socialismus v Československu v 50. a 60. letech

Cover
Titel
Děti, mládež a socialismus v Československu v 50. a 60. letech [Kinder, Jugend und Sozialismus in der Tschechoslowakei in den 50er und 60er Jahren].


Herausgeber
Knapík, Jiří
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Universität Bremen

Während die historische und kulturwissenschaftliche Kindheitsforschung lange Zeit vor allem in den USA und Großbritannien boomte, wächst seit wenigen Jahren auch das Interesse in Mitteleuropa. Ein – angesichts der Sprachproblematik verständlicherweise – in Deutschland weitgehend übersehener Schwerpunkt in der Forschung entwickelt sich aktuell in Tschechien. Hier wird die Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert hinein im Rahmen verschiedener Projekte und Wissenschaftlerkollektive erforscht.1 Ein solches Zentrum ist an der Schlesischen Universität Opava entstanden. Hier arbeiten Historiker unterschiedlicher Ausrichtungen zur historischen Kindheitsforschung, häufig in enger Kooperation mit Wissenschaftlern anderer tschechischer oder auch internationaler Universitäten.2 Während es inzwischen nicht wenige Publikationen zur Kindheit in der Vormoderne und dem 19. Jahrhundert in den böhmischen Ländern gibt, ist die Konzentration der Forscher in Opava auf das 20. Jahrhundert, insbesondere die sozialistische Zeit, eher neu. Dass es aktuell vor allem darum geht, dieses Feld abzustecken und auszuloten, wird an der vorliegenden Publikation mehr als deutlich. Hier werden Sonden ausgefahren und einzelne Themenfelder kartiert. Der Sammelband liest sich somit eher als Spiegel einer oft innovativen Suche denn als Ergebnis systematischer Forschung.

Jiří Knapík beginnt den hier anzuzeigenden Band mit einem inspirierenden Vorwort, in dem er die Frage nach der Haltung der tschechischen Gesellschaft in den 1960er-Jahren zu Kindern und Kindheit formuliert und deutlich macht, dass die 1950er- und 1960er-Jahre als Zeit betrachtet werden können, in der die grundlegenden Konzepte für die sozialistische Politik gegenüber und mit Kindern festgezurrt wurden. Wie wenig einheitlich und konfliktfrei dies ablief, wird später in den Beiträgen auf interessante Art und Weise dargelegt. Knapík definiert drei Bereiche für die Untersuchung: die staatliche Politik, die Medien sowie die Institutionen und Räume, welche explizit für Kinder geschaffen wurden. Bemerkenswert ist dabei, dass das Thema „Schule“ als klassisches Forschungsfeld der Kindheitsforschung in der politischen Sphäre verortet wird und nicht als Institution und Bewegungsraum für Kinder. Dies passt zu dem starken Primat des Politischen, der den ganzen Band bestimmt. Das ist vor allem deshalb bedauerlich, da Knapík selbst in seiner konzisen und aufschlussreichen Einleitung in Aussicht stellt, eine stärkere Einbeziehung der Kindheitsgeschichte könne den Forschungsschwerpunkt von der Politikgeschichte hin zur Kulturgeschichte verschieben.

Diese Konzentration auf das Politische wird vor allem deutlich in Jiří Křesťans Text zur Schulgesetzgebung von 1948 und 1953. Mit vorsichtig revisionistischem Tenor analysiert Křesťan die Debatten um die Einheitsschule, zeichnet Traditionslinien seit der Zwischenkriegszeit nach, bewertet die Rolle des Schulministers Zdeněk Nejedlý neu und differenziert. Das ist durchaus interessant, die Frage nach der Wahrnehmung von „Kindheit“ aber wird nicht gestellt.

Der Herausgeber Jiří Knapík ist gleich mit zwei Texten vertreten, in denen er sich mit der Geschichte der Schule, vor allem aber der außerschulischen Erziehung von Kindern befasst: zu diesem gehören Institutionen wie der Schulhort und die (bisher so gut wie gar nicht erforschte) Pionierbewegung, aber auch eine gezielt für Kinder gestaltete Struktur von Zeitschriften und Zeitungen. Die große Vielfalt der Angebote für Kinder spiegelte einerseits die gesamteuropäische, in westlichen Ländern teilweise sogar früher einsetzende Tendenz einer Institutionalisierung und Strukturierung des kindlichen Alltags wider, verkörperte andererseits das sozialistische Ideal der Einheitsschule und der Pädagogisierung des Lebens.

Die Texte von Marína Zavacká und Martin Franc irritieren im Kontext des Bandes insofern ein wenig, als sie sich auf die „Jugend“, also Jugendliche und junge Erwachsene ab 16 Jahren konzentrieren und somit nicht so recht in den von Knapík entworfenen Rahmen der Kindheitsgeschichte passen wollen. Lesenswert sind sie dennoch, analysieren sie doch, in welchen Formen die Realitäten von den vorgegebenen Normen und Idealen abwichen. Während die sprachliche und visuelle Rhetorik der sozialistischen Tschechoslowakei intensiv mit einem Ideal der gesunden, glücklichen und eine strahlende Zukunft verheißenden Jugend operierte, weisen Zavacká und Franc deutlich skeptischere Haltungen bei Partei und politischer Elite nach. Auch im Sozialismus gab es Vorstellungen von „Rebellen ohne Grund“, die Angst vor einer moralisch abweichlerischen und schwer zu disziplinierenden jungen Generation.

Ganz ähnlich gehen auch die Autoren Jan Jirák und Barbara Köpplová in ihrem Beitrag von einem grundlegenden Spannungsverhältnis aus, wenn sie das Fernsehen der 1960er-Jahre als Element gezielter politischer und kultureller Bildung, zugleich aber als reines Unterhaltungsmedium charakterisieren. Dies ist zunächst nicht weiter überraschend, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Fernsehverantwortlichen sich darum bemühten, ihre jungen Zuschauer „abzuholen“ und auf das jeweilige Alter einzugehen, aber auch auf den Rhythmus von Jahreszeiten und Ereignisse wie Ferien, Weihnachten etc. Interessant aber ist die Beobachtung, das Fernsehen stilisiere sich in eine Art Familienmitglied und aktiven Teil der Gesellschaft. Es sind Thesen wie diese, die das große Potential des Beitrages deutlich machen – dann aber leider nicht weiter ausgeführt werden. Ähnlich auch die Andeutungen zu einer detaillierteren Analyse der in den Kindersendungen verwandten traditionellen, vorsozialistischen Figuren und Motive: gerade diese würden deutlich machen, was möglich und sagbar schien und welche Strategien in der Etablierung einer sozialistischen Fernsehkultur für Kinder angewandt wurden. Bedauerlicherweise vermerkt auch hier eine Fußnote, eine genauere Analyse sei im Rahmen des Textes nicht möglich.

Insgesamt macht der Band die vielen offenen Fragen, die große Anschlussfähigkeit und das enorme Potential einer Erforschung von Kindheit, ihrer Politik (‚Politik der Kindheit‘?), der entsprechenden Medien und Institutionen in der sozialistischen Tschechoslowakei mehr als deutlich. Die Themenvielfalt ist beeindruckend, die methodologischen Herausforderungen ebenfalls. Angesichts der Tatsache, dass Kindheitsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin, die mehr als emotional und populär ansprechende Geschichten von der Schulbank will, nach wie vor keine Selbstverständlichkeit ist, muss die Leistung der Autoren als sehr hoch eingeschätzt werden. Bedauernswert ist dennoch, dass sie sich nicht selten gerade an den Stellen, an denen es analytisch herausfordernd und damit spannend wird, mit einer Fußnote begnügen. Da es sich hier aber um ein Anfangsprodukt handelt und weitere Forschungen und Publikationen geplant sind, darf man optimistisch sein: dieses Thema hat noch viel zu bieten.

Anmerkungen:
1 Z.B. Milena Lenderová / Karel Rýdl (Hrsg.), Radostné dětství? Dítě v Čechách devatenáctého století [Freudige Kindheit? Das Kind im Böhmen des 19. Jahrhundert], Prag 2006; Milena Lenderová / Martina Halírová / Tomás Jiránek, Vše pro dítě! Válečné dětství 1914–1918 [Alles für das Kind! Kriegskindheiten 1914–1918], Prag 2015; Radka Šustrová, Pod ochranou protektorátu. Kinderlandverschickung v Čechách a na Moravě. Politika, každodennost a paměť 1940–1945 [Unter dem Schutz des Protektorats: Kinderlandverschickung in Böhmen und Mähren. Politik, Alltag und Erinnerung 1940–1945], Prag 2012.
2 Neben dem hier rezensierten Band ist außerdem erschienen: Jiří Knapík, Školní družiny a kluby v 50. a 60. letech jako součást socialistické mimoškolní výchovy [Schulhorte und Klubs in den 1950er- und 1960er-Jahren als Element der sozialistischen außerschulischen Erziehung], in: KUDĚJ. Časopis pro kulturní dějiny 14 (2013) 1, S. 5–25.