: Becoming Mead. The Social Process Of Academic Knowledge. Chicago and London 2014 : University of Chicago Press, ISBN 978-0-22617-140-1 386 S. € 30,92

: Mind, Self, and Society. The Definitive Edition, hrsg. v. Charles W. Morris. Chicago and London 2015 : University of Chicago Press, ISBN 978-0-22611-273-2 536 S. € 26,54

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jürgen Oelkers, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Wie wurde aus ‚Mead‘ Mead? Oder anders gefragt: Wie wurde aus dem politischen Aktivisten, Berufsbildner und Sozialreformer George Herbert Mead der heute weltberühmte Soziologe und Sozialphilosoph George Herbert Mead? Dieser Frage widmet sich der Soziologe Daniel R. Huebner, der derzeit an der University of North Carolina lehrt und gemeinsam mit Hans Joas zugleich eine kommentierte Neuedition von „Mind, Self, and Society“ vorgelegt hat.

Die Frage führt auf grundlegende Probleme der Geschichtsschreibung, die am Beispiel der Karriere von Mead diskutiert werden. Im Ergebnis ist ein luzides, innovatives und wunderbar zu lesendes Buch entstanden, das ernst macht mit der Idee eines sozialen Konstruktivismus. Gemeint ist damit keine luftige Wahrnehmungspsychologie, sondern die Idee, dass akademische Autoritäten sozial konstruiert werden, also nicht einfach aufgrund ihrer Werke Beachtung finden und sich dann irgendwie selbst aufbauen.

George Herbert Mead ist deswegen ein besonderes Beispiel, weil er zu Lebzeiten noch nicht ansatzweise die Autorität war, als die er heute weltweit angesehen wird. Mead war in der chaotischen Großstadt Chicago ein bekannter politischer Aktivist, der weit mehr Reden gehalten, als Studenten unterrichtet hat. Er hat vor allem zu Problemen der sozialen Integration, der Berufsbildung und der Demokratieentwicklung Stellung genommen und dies als politischer Rhetoriker und nicht als Theoretiker der Soziologie. Als der aber gilt er heute in allen Lehrbüchern, die etwas auf sich halten. Mead wird angesehen als Begründer des „symbolischen Interaktionismus“, als herausragender Vertreter des „Sozialbehaviorismus“ und nicht zuletzt als einer der Kernfiguren des amerikanischen Pragmatismus. Der engste Freund von John Dewey wird als Ideengeber wahrgenommen, wenngleich er in seinen Theorien als schwierig und wenig zugänglich gilt.

Dieser Eindruck entsteht vor allem bei der Lektüre seines Hauptwerkes „Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist“, das 1934 erstmals erschienen ist. Mead starb 1931, ohne je ein wissenschaftliches Buch veröffentlicht zu haben. Die einzige Buchpublikation unter seiner Verantwortung ist ein Gutachten zur Entwicklung der Berufsbildung in der Stadt Chicago. Huebner fragt nun, was das „Hauptwerk“ zum Hauptwerk gemacht hat. Das Buch ist 1934 als erster Band einer Werkausgabe veröffentlicht worden, in der Vorlesungen oder besser Nachschriften von Vorlesungen kompiliert wurden. Die beiden anderen Bücher dieser Reihe, „Movements of Thought in the Nineteenth Century“ und „The Philosophy of the Act“, die 1936 und 1938 erschienen sind, basieren ähnlich auf unveröffentlichten Quellen, die Mead selber nie autorisiert hat.

Die zentrale Fragestellung von Huebner richtet sich auf das Problem, wie akademisches Wissen entsteht und wie es über die Zeit gefestigt wird. Die Antwort ist zweifach: Einerseits muss ein bestimmter Autor über ein interessiertes Netzwerk zu Rang und Namen kommen und andererseits muss dieser Rang mit Hilfe von Interpretationen und Ranglisten historisch befestigt werden. Ein Kernpunkt des Buches ist die Publikationsgeschichte der drei Bücher von Mead, die er nie selbst geschrieben hat und die ihn weltberühmt machten. Die Geschichte der Veröffentlichungen ist dabei ebenso interessant wie die korrespondierende Verlagsgeschichte, die Finanzierung und der Einfluss der Familie von Mead.

Die beiden hauptsächlichen Promotoren von Meads „legacy“ sind Charles Morris und Herbert Blumer. Morris war der Hauptherausgeber der drei Bände, der mit unendlicher Kleinarbeit dafür gesorgt hat, dass aus Meads ebenso unendlichen Notizen lesbare Texte wurden, was den Preis hatte, ohne den Autor auswählen und arrangieren zu müssen. Blumer hat Mead als Begründer des „symbolischen Interaktionismus“ populär gemacht, obwohl Mead den Begriff nie benutzt hat. Für seine Interaktionstheorie allerdings ist der symbolische Austausch grundlegend, der ohne den speziellen Sozialbehaviorismus von Mead aber ganz unverständlich wäre. Mead war dann plötzlich der Begründer einer Schultradition, die von erheblichem Einfluss bis in die europäische Soziologie hinein gewesen ist.

Jürgen Habermas hat in seinem Literaturbericht „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ von 1967 George Herbert Mead in Deutschland bekannt gemacht, liest ihn aber noch deutlich über die Zeichentheorie von Charles Morris. Meads Hauptwerk ist auch unter dem Einfluss von Habermas 1968 in der Reihe „Suhrkamp Theorie“ deutsch zugänglich gemacht worden. In der Rezeption ist „Mind, Self and Society“ allerdings verengt worden auf Fragestellungen, die in Mead lediglich den Begründer des „symbolischen Interaktionismus“ sehen wollten. Und der Werkzusammenhang ist vielfach gar nicht erkennbar. Liest man das Buch von Huebner, dann wird die Historizität deutlich, die hinter den Erzählungen der großen Autoritäten sehen ist. Mead wird zu dem gemacht, was er heute ist, sein Hauptwerk wirft viele, nicht nur editorische Fragen auf und der geschichtliche Kontext geht verloren, wenn man sich allein darauf bezieht. „Mind, Self, and Society“ ist daher kein Garant für hermeneutische Exegese.

Mead ist bis heute ein viel gelesener und häufig zitierter Autor. Nach dem Buch von Huebner muss die Textbasis neu überdacht werden. Insbesondere muss neu überdacht werden, von wo aus Mead seine Probleme gewinnt und wie er mit ihnen wissenschaftlich umgegangen ist. Huebner geht davon aus, dass seine späteren Arbeiten mehr oder weniger direkt abhängig sind von seinen frühen politischen wie wissenschaftlichen Erfahrungen. Mead hat sich ernsthaft mit psychologischen Experimenten befasst, war tief eingearbeitet in die zeitgenössische Physiologie und sein Hauptproblem war die Verknüpfung physiologischer Daten mit sozialen Erfahrungen. Von daher erklärt sich auch, wieso Meads Theorie ansetzt bei der Frage, wann und unter welchen Umständen Erfahrungen problematisch werden.

Die Denkpsychologie seines Freundes Dewey beginnt einfach mit der „gefühlten Schwierigkeit“, während Mead erkennt, welche Bedeutung dem „Problematischwerden“ der Erfahrung zukommt. Dieser Kern der Theorie basiert seinerseits auf Erfahrungen. Mead, der Aktivist, wird zum experimentellen Forscher, ohne zwischen beiden grundsätzlich eine Differenz zu machen. Huebners Buch heisst im Untertitel „The Social Process of Academic Knowledge”. Das klingt etwas unbescheiden, aber erscheint als sinnvoll, wenn man die Historisierung von Größe in Rechnung stellt. Was in der Hermeneutik unbefangen als „Tradition“ verstanden wird und seine theologischen Wurzeln nicht verheimlichen kann, ist ein sozialer Prozess, der mit Aushandeln, Macht und Interesse zu tun hat.

Ohne seine Schüler und akademische Lehre wäre Mead nicht geworden, was er heute ist. Ohne Publikationsmacht hätte er seinen Rang nicht behalten und ohne interessante Probleme wäre er längst vergessen worden. Aber seit 1955 bis zum Erscheinen des Buches 2014 ist Mead in über 8.000 Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften zitiert worden, zustimmend oder ablehnend, aber immer als Autorität.

Als er am 26. April 1931 starb, war Mead ein akademischer Nobody, der in seinen wissenschaftlichen Artikeln quasi nicht wahrgenommen worden ist. Er war dann lange das Idol seiner Schüler und Freunde, die vielfach selbst akademischen Einfluss gewannen, aber zur Autorität eines Faches wird man erst, wenn es gelingt, die nächste Generation zu erreichen, also Teil der Lehre zu werden und Einfluss auch die nachfolgenden Forschungsthemen zu gewinnen. Im Falle von Mead waren das die soziologische Rollentheorie, Kleingruppeninteraktion, Sozialisationstheorien oder auch die Dynamik der sozialen Persönlichkeit. Damit war er etabliert und konnte dann auch für wiederum neue Themen etwa in den Kognitionswissenschaften nicht mehr übersehen werden.

In der Psycholinguistik ist in Anwendung der Theorie der sozialen Gesten vom „Mead’s loop“ die Rede – und das bedeutet eigentlich einen Platz im Olymp. Eine Entthronung Meads wird es so schnell also nicht geben. Auch das macht Huebners Buch deutlich, dem nebenbei noch eine Biografie gelingt, an der niemand vorbeikommt, der sich mit Mead näher beschäftigen will.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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