M. Zenck u.a. (Hrsg.): Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt

Cover
Titel
Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien.


Herausgeber
Zenck, Martin; Becker, Tim; Woebs, Raphael
Reihe
Historische Anthropologie 34
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sibylle Heike Kussmaul, Berlin

Gewalt in den Medien ist ein nicht wenig beliebtes Thema in den letzten Jahren. Der hier vorliegende Band versammelt Artikel von Musik-, Kultur-, Theater- und Medienwissenschaftlern zu verschiedenen Medien künstlerischer Ausdrucksform: Film, Theater, Literatur, bildnerische Kunst und Musik, wobei – angesichts der Herausgeber kein Wunder – die musikwissenschaftlichen Beiträge überwiegen und der Buchtitel letztlich doch eine größere Bandbreite verspricht, als das Buch zu halten vermag. Grundlage des Bandes ist eine Tagung, die bereits 2004 stattfand und aus einem Forschungs-Colloquium hervorging.

Mehr als Denkanstoß denn als Klammer der Beiträge ist Martin Zencks Einleitung zu Kleists „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ zu verstehen. Er stellt dar, wie Kleist dort intentionslose Gewaltlosigkeit zur ästhetischen Gewalt werden lässt, wie die zunächst ohnmächtige Antonia, die nach Erwachen mit ihrer Kirchenmusik alle Anwesenden, auch vier Bilderstürmer, völlig bannt. Die ästhetische Gewalt trifft die Frevler wie eine reale Gewalt. Weiter analysiert Zenck Jean-Luc Godard’s Film „Prénom Carmen“ und die Verwendung der späten Streichquartette Beethovens. Er zeigt auf, wie Godard Gewalt im Kleinen, Unauffälligen sichtbar macht (S. 26) durch plötzliche Abbrüche, Leerstellen und Pausen in der Musik und im Schnitt. So erreicht er eine Darstellungsgewalt, die viel elementarer wirkt als die dargestellte Gewalt (S. 32).

Petra Maria Meyer bettet die Analyse zweier Filme von Alain Resnais und Andrej Tarkowskij (S. 43-89) in medienethische Aspekte ein, die Suggestionskraft und manipulative Wirkung der Medien, die Authentizität als Kategorie der Glaubwürdigkeit und die Medienkompetenz der Rezipienten betreffen. Die Autorin untersucht „Hiroshima mon amour“ von Marguerite Duras und Resnais sowie „Iwans Kindheit“ von Andrej Tarkowskij. In beiden Filmen wird der Schrecken des Krieges in zwar unterschiedlicher Weise, jedoch gleichermaßen „in einer Gesamtinszenierung von Glück und Leid der Existenz spürbar gemacht“ (S. 83). Duras und Resnais versuchen nicht die Ereignisse nach Abwurf der Atombombe zu rekonstruieren, sondern verdeutlichen die Erinnerung und Verdrängung durch die Liebesbeziehung zwischen einer Französin und einem Japaner. In „Iwans Kindheit“ spielt der Traum als ästhetisches Phänomen eine herausragende Rolle. Tarkowskij benutzt hier die Darstellungsgewalt im schockhaften Schnitt und in der Zusammenführung unterschiedlicher Erinnerungssequenzen des Protagonisten Iwan, etwa wenn im ersten Traum das Bild des „magischen Orts“ der Kindheit, vereint mit der Mutter im strahlenden Sonnenschein, durch Schussgeräusche eines Maschinengewehrs zerrissen wird und im nächsten Schnitt der „traumatische Ort“ des Kriegsalltags des Jungen Raum greift (S. 75). Nur im Traum hört man das Kind in großer Angst nach der Mutter rufen. Im Wachzustand bleibt der Junge stumm, verschlossen. Diese Leere lässt der Vorstellungskraft der Zuschauer Platz – auch dies erzeugt eine hohe Darstellungsgewalt bei geringer Gewaltdarstellung. „Der Schmerz als zu Lebzeiten erlebbare ‚Arbeit des Todes’ intensiviert Gegenbilder, die im Bereich des Imaginären wirken und Vorstellungsbilder der Betrachter stimulieren“ (S. 80). Beide Filme ermöglichen es den Zuschauern nicht, „durch das Sehen wegzusehen“ (S. 86).

Alice Staskovas Analyse der „Reise ans Ende der Nacht“ von Louis-Ferdinand Céline hinsichtlich des Stilmittels der Wiederholung und der Darstellbarkeit des Todes zeigt – ebenso wie weitere Artikel im Buch, die auf die Darstellung des Todes konzentriert sind – dass die Darstellung des Todes natürlich nicht die Darstellung von Gewalt impliziert, jedoch immer mit einer Darstellungsgewalt verbunden ist, die allerdings sehr unterschiedliche Ausprägungen haben kann. Bei Céline geschieht dies durch das allgegenwärtige Stilmittel der Wiederholung, das als Phänomen aus der Traumaforschung bekannt ist.

Die Theaterwissenschaftlerin Veronika Darian liefert in einem sehr präzise gefassten Artikel über die ästhetisch vermittelte Gewalt in repräsentativen Bildern souveräner Macht einen Kanon von Kriterien für eine „Ikonografie des Schreckens“ (S. 174ff.). Zum anderen setzt sie schlüssig Macht und Gewalt in Relation zueinander in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrecht, der von Gewalt als „Macht-in-Ereignis“ spricht.1 Das Ereignis wiederum braucht das Publikum, das das Spektakel bezeugt. Günther Heeg nähert sich über den Blick auf die Ursprünge der Malerei im Zusammenspiel mit ihrer rituellen Inszenierung dem Bild als Medium, das das Abwesende erreichbar hält und ursprünglich eine Art Totengemeinschaft erzeugte. In Fortführung der Argumentation von der Tableaumalerei über Diderot bis zu Heiner Müller und Sarah Kanes Stück Psychose beschreibt er Möglichkeiten und Grenzen der Wirkung von bildhafter Kunst auf die Rezipienten.

Wie eingangs erwähnt, bietet der Band eine ganze Reihe musikwissenschaftlicher Einzelanalysen: Markus Jüngling geht der Verwendung klassischer Musik in den beiden Kriegsfilmen „Platoon“ und „Apokalypse Now“ nach. Er zeigt, dass gerade auch im pseudorealistischen „Platoon“ die inszenierte Authentizität von der Musik unterlaufen wird, die das Gezeigte ins Allegorische rückbindet. Tim Becker untersucht die Ausdrucksformen in der Komposition „Deus Passus“ von Wolfgang Rihm, uraufgeführt 2000, als Beispiel neuerer Strömungen in der Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa. „In die Ästhetik der Musik tritt das Gebot der Erinnerung an Erfahrungen von Dissoziation [...] die durch Vertreibung, Verfolgung und Exil geprägt werden und schreibt sich als solche zunehmend in die Faktur der Kunstschöpfungen ein: Dissoziation gelangt ebenso zum kompositorischen Ausdruck wie die Erfahrung von Dekonstruktion von Ordnung [...] sowie der Zersplitterung familialer und freundschaftlicher Beziehungen.“ (S. 138) Christine Fesefeldt konzentriert ihren Blick auf Don und Tombeau von Pierre Boulez aus dessen Mallarmé-Werkzyklus "Pli selon pli", dem sich auch Martin Zenck im abschließenden Artikel des Bandes zuwendet. Ewa Pychal untersucht die 2001 uraufgeführte Oper „Schwarzerde“ von Klaus Huber und zeigt unter anderem die musikalischen Methoden auf, mit denen der Komponist drei Elemente darstellt: atembare Luft, vergiftete und fehlende Atemluft. Insbesondere die Darstellung von Atemnot gelingt, indem die Sänger „auf widernatürliche Weise beim Einatmen“ singen (S. 189). Raphael Woebs widmet sich der „Sonate 27. April 1945“ für Klavier von Karl Amadeus Hartmann, Tobias Resch der Symphonie Nr. 3 „Kaddish“ von Leonard Bernstein und Jörn Peter Hiekel Jean Barraqués „Chant après chant“.

Elisabeth Oy-Marra nimmt als eine der wenigen beide Themen – Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt – in den Blick und spürt diesen in den Darstellungen christlicher Märtyrer und ihrer geschundenen Körper in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts nach. Die damalige Stilisierung des Martyriums ging einher mit der tatsächlichen Ermordung vieler Missionare in Übersee. Die Darstellungen wurden also nicht nur „als Modell katholischer Lebensvollendung“ (S. 250) publiziert, sondern gerade auch zur Denunziation der Glaubensgegner. Die Betrachter der damaligen Zeit wurden in ihren Vorurteilen bestätigt und wiesen den Bildern ein hohes Maß an Wahrheitsgehalt zu. Darüber hinaus sollte der „christusnahe Ursprung“ (S. 255) der katholischen Kirche vor Augen geführt werden. Allerdings gab es auch Künstler, Oy-Marra präsentiert insbesondere Ribera und Caravaggio, die durch sehr drastische Darstellungen von körperlichen Erniedrigungen und Schmerz eine kritische Haltung zur ideologischen Präsentation von Gewalt einnahmen.
Der Band bietet in der Gesamtschau eine breite Palette unterschiedlicher Methoden, Gewalt darzustellen und zeigt eine noch größere Spannbreite der Wirkung des Dargestellten auf die Rezipienten, was die Künstler durch Fokussierung auf ganz unterschiedliche Zeichen und Angstträger erreichen. Ein übergeordneter theoretischer Beitrag fehlt dem Band. Insofern ist er vermutlich als Diskussionsangebot der Herausgeber zu verstehen, mit dem sie die breit geführte Debatte über Gewaltdarstellungen in Medien um den hauptsächlich musikwissenschaftlichen Aspekt erweitern.

Anmerkung:
1 Gumbrecht, Hans Ulrich, Louis-Ferdinand Céline und die Frage, ob Prosa gewaltsam sein kann, in: Rolf Grimminger (Hrsg.), Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 128f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension